59) Noch mehr Lügen
»Hey, Kätzchen«, sagt Étienne, als ich mich an ihn heranschleiche.
Ich will mich zurückverwandeln, aber aus irgendeinem Grund gelingt es mir nicht. Das hält mich jedoch nicht davon ab, mich Étienne an den Hals zu werfen.
»Oh, na gut ... na schön ...«, sagt er, während ich mich an ihn dränge. Dabei bemerke ich, dass er eine Schusswunde an der Seite hat, etwa auf Höhe des untersten Rippenbogens. Er presst die Hand auf die Verletzung, aber zwischen seinen Fingern quillt Blut hervor und bildet eine dunkelrote Lache auf dem Marmorboden. »Bist du das, Betty?«
Ich bejahe, doch natürlich hört er nur ein ängstliches Maunzen.
»Ich werte das mal als ein Ja«, sagt Étienne und hebt mich mit der freien Hand auf seine Schulter.
Von dort kann ich sehen, wie die Gendarmen ihre Waffen nachladen und auf Isabel anlegen, doch noch ehe sie den Abzug betätigen können, verdichtet sich das Blitzgewitter, das die kleine Elfe umgibt, zu einem Vorhang aus elektrischen Entladungen. Unkontrolliert zucken die Blitze durch den Saal. Die Luft scheint zu knistern, Marmorfliesen zerplatzen und Staub rieselt von den Wänden.
»Isabel!«, ruft Étienne.
Der Gewittersturm wird schwächer.
Durch die gleißenden Lichtblitze kann ich sehen, wie der Präsident und seine Männer zurückweichen.
»Isabel«, wiederholt Étienne. »Lass es gut sein.«
»Ich kann nicht«, wimmert Isabel. Tatsächlich sieht sie aus, als wäre sie in einen Schraubstock eingespannt. Ihr Körper ist bis zum Zerreißen gespannt, ihre Arme sind zu den Seiten ausgestreckt, ihre Zehen berühren kaum noch den Boden.
»Monsieur Romarin!«, ruft irgendjemand. »Halten Sie Ihre Tochter zurück!«
»Ich wünschte, ich könnte«, erwidert Étienne. Bei jedem Wort dringt Blut aus seiner Wunde. Dessen ungeachtet versucht er es noch einmal. »Du brauchst mich nicht beschützen, Isabel.«
»Aber ...« Isabel dreht langsam den Kopf. Es sieht aus, als müsste sie gegen einen starken Widerstand ankämpfen. »Aber ...«
»Du hast das gut gemacht«, sagt Étienne. »Um den Rest kümmern wir uns.«
Isabel blinzelt. Das Rot in ihren Augen wird intensiver. »Ich kann nicht ... Papa ...«
»Sie soll sofort damit aufhören!«, brüllt einer der Gendarmen.
Ein Blitzeinschlag direkt vor seinen Füßen bringt ihn zum Verstummen. Irgendwo löst sich ein Schuss und schlägt über Isabels Kopf ins Mauerwerk ein.
»Halten Sie sich zurück!«, faucht Étienne, während ich meine Tiergestalt verfluche. Als Katze bin ich niemandem eine Hilfe.
»Papa ...«, wimmert Isabel. »Ich kann nicht-«
Es sieht aus, als würde sich ein weiteres Blitzgewitter zusammenbrauen, doch dann erlöschen die Entladungen. Schlagartig wird es dunkel um uns herum.
Isabel gibt einen erstickten Laut von sich, verliert den Halt und fällt zu Boden. Sie streckt die Arme aus und landet auf Händen und Knien.
»Komm her!« Étienne löst die Hand von seiner Wunde und streckt nach ihr.
Isabel krabbelt zu ihm.
Gleichzeitig setzt meine Verwandlung ein, sodass wir nur Sekunden später zu dritt, dicht aneinandergedrängt, an der Wand kauern. Isabel zwischen mir und Étienne, den Kopf an seiner Schulter vergraben.
»Was ist hier los, Betty?«, flüstert Étienne.
»Keine Ahnung«, flüstere ich zurück.
Kaum habe ich das gesagt, flammen überall in der Halle die kleinen Glut- und Flammennester auf, die von der Explosion zurückgeblieben sind. In ihrem rötlichen Schein kann ich die Gendarmen erkennen, die mindestens so ratlos und verwirrt aussehen wie wir.
»Ich denke, ich kann das erklären«, erklingt die Stimme von Faucon.
Kurz darauf erscheint der Capitaine direkt neben Präsident Palmier.
Die Gendarmen wirbeln herum und richten ihre Waffen auf ihn.
Faucon verschränkt auf militärische Weise die Hände auf dem Rücken und bleckt die Zähne zu einem bedrohlich wirkenden Lächeln. »Guten Abend, Monsieur Palmier.«
Palmier weicht vor ihm zurück. »Was machen Sie hier, Faucon? Ich dachte, ich hätte mich klar genug ausgedrückt, als ich sagte-«
»Sie haben gesagt, dass Sie mich mit sofortiger Wirkung von der Leitung des Corps und der Garde entbinden würden«, fällt Faucon ihm ins Wort.
»So ist es«, erwidert Palmier frostig.
»Und ich sagte Ihnen, dass ich zunächst ein paar Antworten von Ihnen will.«
»Ich habe Ihnen alles erzählt, was ich weiß.«
Faucon verzieht missbilligend die Lippen. »Oh ... ich bitte Sie.«
»Was wollen Sie überhaupt von mir?«, ereifert sich Palmier. »Ich habe alles getan, was Monsieur Framboise von mir verlangt hat. Ich habe Sie zum Leiter der Garde gemacht und Ihnen bei der Jagd nach den Verfluchten weitgehend freie Hand gelassen.«
»Weil es in Ihren Plan gepasst hat«, sagt Faucon. »Und als Sie mich baten, ein Auge auf Monsieur Narcisse zu haben, habe ich die Leitung des Corps übernommen und genau das getan. Ich habe den Mann für Sie ausspioniert und schließlich sogar getötet. Weil Sie mir gesagt haben, dass die Elfen ihn manipuliert hätten und dass die Sicherheit unseres Landes in Gefahr wäre.«
»So war es ja auch!«, bestätigt Palmier kräftig nickend.
Faucon schnaubt. »Ach, wirklich?«
Palmier weicht noch weiter vor ihm zurück, bis mehrere bewaffnete Männer zwischen ihm und dem Capitaine stehen. »Hat Monsieur Framboise Ihnen etwas anderes erzählt?«
»Nein«, antwortet Faucon. »Für meine Eltern und ihre Nachfahren sind die Ellyrier der Kern allen Übels. Da passt es ins Bild, dass sie leichtgläubigen Menschen - wie Roland Narcisse – eine Reihe elaborierter Lügen auftischen, um die Geschicke Ragoniens zu beeinflussen.« Er zieht die Augenbrauen hoch. »Aber ist es wirklich so gewesen?«
»Natürlich.« Palmier plustert sich auf. »Wieso sollte ich Sie anlügen?«
Faucon zuckt mit den Schultern. »Ich weiß es nicht.« Er deutet auf mich. »Aber ich habe jemanden gefunden, der mir einen Eindruck von Ihren wahren Motiven verschaffen kann.«
Palmier starrt mich an. Aus seinem Blick sprechen Verwirrung und Unverständnis. Offenbar hat er keine Ahnung, was ich bin oder was ein Drudenfluch bedeutet. Noch während ich das denke, wird mir bewusst, dass Faucon vollkommen ernst meint, was er vorhin zu mir gesagt hat. Er will, dass ich den Präsidenten drücke. Schon beim Gedanken daran wird mir mulmig zumute.
»Mademoiselle Potiron leidet unter dem Drudenfluch«, erklärt Faucon. »Sie wird in Ihren Träumen nach der Wahrheit suchen, Monsieur Palmier. Und danach setzen wir diese Unterhaltung fort.«
»Ich werde gar nichts tun«, verkünde ich mit schwacher Stimme. »Nicht, solange meine Freunde in Gefahr sind.«
Die Männer ignorieren mich.
»Das ... das ist ungeheuerlich!«, schimpft Palmier. »Da mache ich nicht mit.«
»Dann haben Sie etwas zu verbergen?«, fragt Faucon.
»Nein! Es ist alles so, wie ich Ihnen gesagt habe. Die Elfen haben Monsieur Narcisse belogen und ihm diese Geschichte von einer Maschine erzählt, die König Lyonel angeblich im Krieg gegen sie eingesetzt hätte.«
»Sie meinen diese Maschine?«, meldet sich Adeline zu Wort und zückt die Baupläne aus ihrer Rocktasche.
Die Gendarmen, die sie gefangen nehmen wollten, weichen vor ihr zurück. Offenbar haben sie noch keinen Weg gefunden, sie zu verhaften, ohne sich dabei in Reichweite ihrer Hände zu begeben.
»Nehmen Sie sie!«, verlangt der Präsident mit schriller Stimme. »Nehmen Sie ihr die Pläne ab, Haricot.«
Haricot, der das Inferno mit leichteren Verletzungen überlebt zu haben scheint, nimmt seinen ganzen Mut zusammen und rupft Adeline die Pläne aus den Fingern.
»Nehmen Sie sie«, wiederholt der Präsident. »Und dann erschießen Sie hier alle.«
»Das würde ich nicht tun«, bemerkt Adeline.
»Wieso?«, faucht der Präsident. Er ist sichtlich am Rande eines Nervenzusammenbruchs. Nie hätte ich mir vorstellen können, dass jemand, der im Radio so souverän und staatsmännisch klingt, derart die Beherrschung verlieren könnte.
»Sagt Ihnen das Melastypie-Verfahren etwas?«
Der Präsident wirkt zum wiederholten Mal wie vor den Kopf gestoßen. »Ich ... nein.«
»Kein Wunder. Das ist ein sehr neues Verfahren aus Westragon. Zufälligerweise hat der Erfinder seine Werkstatt vor ein paar Monaten nach Menthe verlegt.« Adeline macht eine wegwerfende Handbewegung, bei der die Männer in ihrer Umgebung (von Seymour abgesehen) erschrocken zurückzucken. »Ich erspare Ihnen die Details, wie ich ihn kennengelernt habe. Sie müssen nur wissen, dass das von ihm erfundene Verfahren über eine Reihe komplizierter Zwischenschritte die Herstellung von genauen Kopien einzelner Bilder oder Buchseiten ermöglicht.«
An dieser Stelle begreife ich, worauf Adeline hinauswill.
»Letzte Nacht habe ich diesen Erfinder aufgesucht und ihn gebeten, mehrere Kopien der Pläne herzustellen. Anschließend habe ich ein paar Matrosen an den Docks dafür bezahlt, dass sie die Pläne vom nächsten Hafen aus an eine beliebige Adressen verschicken und mir diese Adressen aufschreiben.« Adeline wischt sich mit dem Handrücken etwas Ruß von der Wange. »Jeder von uns kennt nur eine dieser Adressen.« Sie deutet auf das Straußenei, das Palmier noch immer in den Händen hält. »Das bedeutet, wenn Sie auch nur darauf hoffen wollen, in nächster Zeit alle Kopien der Pläne zu finden, würde ich vom Erschießen absehen und sehr vorsichtig mit diesem Feuervogelei umgehen.«
An dieser Stelle mischt Seymour sich in die Unterhaltung ein. »Wieso sind diese Pläne so wichtig für Sie, Monsieur Palmier, wenn sie doch bloß Teil einer bizarren Lügengeschichte sind?«
»Es hat diese Maschine gegeben, nicht wahr?«, sagt Faucon.
»Das ...« Der Präsident ringt sichtlich mit der Fassung. »Na schön«, schnauft er schließlich. »Es hat sie gegeben, aber wir haben sie nicht eingesetzt.«
»Und woher kommen dann die Flüche?«, will ich wissen.
»Die Ellyrier sind schuld daran!«, erwidert der Präsident. »Das weiß doch jedes Kind.«
»Kinder glauben auch Schneefrauen und Kobolde«, halte ich dagegen. Mein Puls schnellt in die Höhe. Am liebsten würde ich Palmier packen und schütteln. »Und nichts anderes ist diese Geschichte von den bösen Elfen, nicht wahr? Eine Lüge für Kinder.«
Palmier verstummt.
»Die Elfen haben Narcisse nicht belogen«, fahre ich fort. »Man kann sich nur selbst verfluchen – und die Ellyrier haben Narcisse gezeigt, was König Lyonel getan hat, um die magische Pest über sein Volk zu bringen.«
»Aber wieso musste Narcisse sterben?«, fragt Adeline verwundert. »Denken Sie wirklich, irgendjemand hätte ihm geglaubt? Ich bin keine Politikerin, aber ich denke, selbst wenn Narcisse die Pläne der Maschine öffentlich gemacht hätte, hätte das nichts an der Situation geändert. Oder fürchten Sie einen Frieden mit den Elfen derart, dass-«
»Es wird sowieso irgendwann Frieden mit den Elfen geben«, sagt Palmier tonlos. »Dieser Prozess lässt sich kaum noch aufhalten. Um ehrlich zu sein, ist mir das nicht einmal Unrecht. Es wird unserer Wirtschaft jedenfalls mehr nutzen als schaden.« Er schüttelt langsam den Kopf. »Auch was Narcisse' Glaubwürdigkeit angeht, bin ich Ihrer Meinung, Madame de Cinc Estrellia. Mit den Plänen an die Öffentlichkeit zu gehen, hätte unter normalen Umständen nicht viel verändert.«
»Wieso haben Sie Narcisse dann ermorden lassen?«
Der Präsident wiegt das Ei in den Händen. »Ich hatte keine Wahl.«
»Was soll das heißen?«, fragt Faucon düster.
»Sie können das nicht verstehen«, seufzt Palmier. Er wirkt müde, resigniert, besiegt. Die ganze Spannung weicht aus seinem Körper.
»Monsieur Palmier ...?«, fragt Haricot, dem der Zustand seines Vorgesetzten wohl auch nicht entgangen ist.
Palmier kneift die Augen zusammen und massiert mit einer Hand seine Nasenwurzel. »Schaffen Sie Ihre Männer hier raus, Haricot. Ich muss mit Madame de Cinc Estrellia, Monsieur Faucon und den Anderen alleine reden.«
Haricot zögert noch einen Moment, als würde er erwarten, dass der Präsident es sich noch einmal anders überlegt, aber dann befiehlt er seinen Gendarmen den Rückzug.
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