54) Im Kochtopf
Schnauzbart – oder Monsieur Cumin, wie sein richtiger Name lautet – schiebt mich zu Étienne in die Zelle. Dabei kneift er mir fest in den Hintern.
Ich fahre herum und schlage seine Hand weg.
Cumin lacht.
»Vorsicht, mein Freund«, sagt Étienne, vordergründig jovial, aber mit einem gefährlichen Unterton in der Stimme.
Ich schließe nicht aus, dass er Cumin für seinen Übergriff bezahlen lassen würde, wären nicht mehrere Schießeisen auf ihn und mich gerichtet.
»Ist schon gut«, sage ich beschwichtigend. Étienne soll sich nicht wegen eines Kniffs in den Po eine Kugel einfangen.
Poireau – Cumins Kumpan – schließt die Zellentür hinter mir. Das Eisen knallt zu und ich kann hören, wie das Schloss einschnappt.
Unwillkürlich frage ich mich, ob die Eisenstangen Étienne in seiner Stiergestalt aufhalten könnten. Für mich stellen sie jedenfalls kein Hindernis dar, aber das müssen diese Dummköpfe ja nicht wissen.
»Und was soll das jetzt werden?«, fragt Étienne und lehnt sich gegen die Metallstreben, als wollte er mit den Männern, die uns gefangen genommen haben, ein Pläuschchen halten. »Hm?«, macht er. »Wollt ihr uns hier einsperren und das war's dann?« Er mustert die Gesichter der Gendarmen, die ausdruckslos zurückstarren.
Seymour ist nicht mehr darunter. Er muss in einem unbeobachteten Moment gegangen sein.
Kurz keimt Hoffnung in mir auf, aber nur für ein paar Sekunden. Dann kehrt Seymour zu uns zurück – und er ist nicht alleine.
Der Mann, der ihn begleitet, kommt mir bekannt vor, aber ich kann zunächst nicht genau sagen, woher. Vielleicht liegt es an den ungünstigen Lichtverhältnissen im Kerker, dass ich ihn nicht sofort erkenne. Erst, als er den Mund aufmacht, wird mir klar, wen ich vor mir habe.
Président Marc Louis Palmier ist ein hochgewachsener, schlanker Mann Mitte fünfzig, mit einem schmalen Gesicht, eingefallenen Wangen, prominenten Geheimratsecken und einem grau melierten Kinnbart. Er trägt etwas, das mich an die abgespeckte Variante einer Galauniform erinnert. Der asymmetrische Schnitt, der elegante Überwurf und der breite Gürtel sind identisch, aber die Farben (blau und rot, statt schwarz) und die Menge an Zierrat unterscheiden sich und verleihen seinem Aufzug etwas deutlich legereres.
»Monsieur Romarin«, sagt der Präsident im gleichen routinierten Tonfall, wie ich ihn aus dem Radio kenne. »Endlich lernen wir uns mal kennen.«
»Kann nicht sagen, dass ich auf diesen Moment hingefiebert hätte«, erwidert Étienne und fasst die Eisenstäbe mit beiden Händen. »Auch wenn es keine echte Überraschung ist, Sie zu sehen.«
Ich bin auch nicht wirklich überrascht, den Präsidenten zu sehen. Und gleichzeitig bin ich es irgendwie doch. Vielleicht, weil ich nicht damit gerechnet hätte, dass er sich persönlich die Ehre geben würde. Und, zugegeben, ich bin ein bisschen eingeschüchtert. Immerhin begegne ich nicht jeden Tag einflussreichen Menschen wie dem ostragonischen Präsidenten.
»Lassen Sie mich raten ... Sie wollen die Pläne für die Maschine, mit der König Lyonel damals den Krieg gewonnen hat«, fährt Étienne fort und schnalzt spöttisch mit der Zunge. »Tja, tut mir leid, aber da muss ich Sie enttäuschen.«
»Die Pläne werden schon noch kommen«, erwidert der Präsident mit einem dünnen Lächeln und einem kurzen Seitenblick zu Seymour.
Obwohl Palmier sich große Mühe gibt, souverän zu wirken, habe ich den Eindruck, dass er nervös ist. Oder täusche ich mich da? Sollte ein Berufspolitiker nicht besser darin sein, einen gelassenen Eindruck zu vermitteln? Doch irgendetwas an der Art, wie er die Arme verschränkt und unseren Blicken ausweicht, vermittelt mir das Gefühl, er würde sich in unserer Gesellschaft ausgesprochen unwohl fühlen. Hat er etwa Angst vor uns? Der Gedanke ist bizarr. Immerhin ist er der Mann mit den bewaffneten Gendarmen an seiner Seite. Und er hat Seymour in der Hand. Aber vielleicht sind es auch nicht Étienne und ich, die er fürchtet.
»Wo ist der Capitaine?«, frage ich.
Der Blick des Präsidenten schnellt in meine Richtung.
Ich schlucke meine Befangenheit herunter. »Er arbeitet doch für Sie, oder?«
»Oh nein«, spottet Étienne. »Bei Ihnen beiden hängt doch nicht etwa der Haussegen schief, oder?«
»Sie haben Faucon eingeredet, die Elfen hätten Professor Narcisse belogen«, schiebe ich hinterher. »Dass alles, was sie ihm über die Maschine und den Krieg erzählt haben, nur ein Mittel zum Zweck sei, um in Ostragon an Einfluss zu gewinnen. Ist es nicht so?«
Der Präsident schüttelt kaum merklich den Kopf. »Sie würden das nicht verstehen, Mademoiselle Potiron.«
»Vielleicht nicht«, gebe ich zu. »Aber ich weiß, was ich gesehen habe. Diese Maschine hat unvorstellbares Leid über die Ellyrier gebracht. Und nicht nur das.« Ich trete neben Étienne und umfasse ebenfalls die Gitterstäbe. Seltsamerweise gibt mir das ein Gefühl von Macht. »Ich weiß nicht genau, was König Lyonel getan hat, um diese Maschine zu aktivieren, aber es muss etwas Grauenhaftes gewesen sein.« Mit Schrecken denke ich an Narcisse' Traum zurück. Daran, wie der König das Neugeborene der Länge nach aufschlitzt. »Etwas unvorstellbar Schreckliches. Etwas, das kein Mensch tun sollte.« Der Präsident reagiert nicht, aber ich spüre, dass ich auf dem richtigen Weg bin. »Etwas, das auch über sein eigenes Volk großes Leid gebracht hat.«
»Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen«, erwidert der Präsident mit starren Lippen und ohne mich anzusehen.
»Die magische Pest«, erkläre ich. »Indem er diese Maschine benutzt hat, hat der König sein eigenes Volk verflucht. So war es doch, oder?«
»Sie haben wirklich keine Ahnung«, entgegnet der Präsident.
»Na, ich glaube schon«, mischt Étienne sich ein. »War das der Grund, aus dem König Lyonel gestürzt werden konnte? War er vielleicht selbst von dem Fluch betroffen?«
»Ich denke, Sie sollten jetzt still sein.«
»Oder was?«, fragt Étienne. »Knallen Sie uns sonst ab?« Er breitet einladend die Arme aus. »Nur zu.« Mit einem liebenswürdigen Lächeln ergänzt er: »Auch wenn ich an Ihrer Stelle warten würde, bis ich die Pläne habe. Man kann ja nie wissen.«
Der Präsident presst die Lippen zusammen. Ein Muskel an seiner Schläfe zuckt. Er ist ganz eindeutig nervös.
Étienne muss das auch spüren und fährt genüsslich fort: »Madame de Cinc Estrellia war die halbe Nacht mit den Plänen verschwunden und vorhin hat sie uns allen verschiedene Adresse gegeben, die wir uns gut einprägen sollten. Also ... möglicherweise sollten Sie doch besser niemanden von uns erschießen. Jedenfalls nicht, bevor Sie wissen, was es damit auf sich hat.«
Das Gesicht des Präsidenten rötet sich. Er sieht aus wie ein Hummer im Kochtopf.
Étienne zieht eine Grimasse. »Wissen Sie was, Monsieur Palmier? Als Präsident sollten Sie deutlich bessere Entführungen arrangieren können. Ich weiß schon, warum ich bei der letzten Troisan nicht in Ihrem Sinne abgestimmt habe.«
In diesem Moment kann ich irgendwo in der Ferne dumpfe Geräusche vernehmen. Sie scheinen aus der Richtung zu kommen, wo ich die Treppe vermute. Zuerst denke ich, ich hätte mir den Lärm nur eingebildet, doch als etwas, das verdächtig nach einem Schuss klingt, durch das Gemäuer hallt, kann ich es nicht länger auf meine überreizten Nerven schieben.
»Was ist da los?«, will ich wissen.
Schritte ertönen. Schnelle Schritte. Kurz darauf tritt ein junger Mann vom Corps aus dem Halbdunkeln. Er wirkt gehetzt. »Monsieur Palmier? Sie sollten mitkommen.«
»Ist er es?«, fragt der Präsident mit einer fiebrigen Erregtheit in der Stimme. Er sieht aus, als würde er sich am liebsten irgendwo verstecken.
Seltsamerweise fühle ich mich durch seine Furcht weniger ängstlich. Was unserem Erpresser Angst macht, kann ja nur gut für uns sein. Oder?
»Nein«, antwortet der Gendarm. »Aber Sie sollten sich das trotzdem ansehen.«
Der Präsident und mehrere seiner Handlanger setzen sich in Bewegung, sodass Étienne und ich mit Seymour, Schnauzbart und seinem Kumpan zurückbleiben.
Ich fasse die Eisenstäbe noch fester und überlege, wie ich Cumin und Poireau ausschalten kann, bevor sie Étienne eine Kugel in den Leib jagen, da berührt Étienne mich am Arm und schüttelt ganz leicht den Kopf. Dann späht er zur Decke hinauf.
Ich folge seinem Blick mit den Augen und erkenne, dass die Zwischenräume der Stangen mit fünfzackigen Ornamenten aus rostigem Eisen geschmückt sind. Schutzzeichen. Und diese sehen trotz der Altersspuren deutlich gefährlicher aus als die Zeichen an der Tür.
Mein Mut sinkt. Offenbar sind diese Zellen dazu gemacht worden, Verfluchte gefangen zu halten. Wieso bin ich nicht selbst auf diesen Gedanken gekommen?
Langsam ziehe ich meine Hände zurück und verwerfe meine Fluchtpläne.
»Nun, Momo?«, wechselt Étienne das Thema. »Wer bist du?«
Seymour reagiert nicht auf die Ansprache.
»Was haben sie dir gesagt, wer du bist?«
»Ich weiß, wer ich bin.«
»Ach ja?« Étienne lächelt. »Und wer bist du?«
»Das werde ich Ihnen sicher nicht verraten.«
»Erinnerst du dich denn an gar nichts mehr?«, will ich wissen.
»Ich weiß alles, was ich wissen muss.« Seymour nickt mir zu. »Und Sie, Mademoiselle Potiron? Was wissen Sie?«
»Ich weiß, dass Étienne und du ... dass ihr sehr gute Freunde seid.«
Seymour hebt die Augenbrauen. »Tatsächlich? Ich wüsste nicht, wieso ich mich mit einem abgehalfterten Joumin-Bastard abgeben sollte, der nie wirklich erwachsen geworden ist und sich immer noch an den kindischen Gedanken klammert, er könnte eine kleine Gruppe Totgeweihter vor ihrem unausweichlichen Ende bewahren.«
Étienne lächelt weiter, aber ich sehe den Schmerz dahinter kurz aufflammen.
»Sehen Sie es ein, Monsieur Romarin. Was auch immer Sie versuchen ... es gibt keine Heilung. Verfluchte wie wir sind eine Anomalie. Eine eitrige Entzündung die beseitigt werden muss, weil sie sonst auch auf das gesunde Fleisch übergreift.«
»Willkommen in der Zukunft, mein Freund«, erwidert Étienne mit einem Anflug von Sarkasmus in der Stimme. »Es gibt Mittel gegen entzündete Wunden. Wir müssen nicht mehr länger den ganzen Arm amputieren, nur, weil sich jemand einen Splitter eingefangen hat.«
»Aber es gibt kein Mittel gegen das, was sich bereits im Blut befindet«, hält Seymour dagegen. »Sie sind besessen von dem Gedanken, diesen Fluch zu heilen, aber eigentlich gibt es da etwas ganz Anderes, das Sie heilen wollen. Ist es nicht so?« Seymour nähert sich den Gitterstäben, während Cumin und Poireau im Hintergrund irritierte Blicke tauschen. »Etwas, das sich nicht verstecken lässt. Eine Gestalt, die Sie nicht ablegen können.«
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