5) Roland Narcisse
Roland Narcisse ist schon älter (ich schätze ihn auf Ende fünfzig oder Anfang sechzig), aber noch gut in Form. Er erwartet mich in seiner Privatloge, die mit einem weinroten Vorhang von der Galerie abgetrennt ist.
»Mademoiselle Pommier«, sagt er und fasst nach meiner Hand, um mir einen Kuss über den Handrücken zu hauchen. Seine Haare sind silbergrau und streng zurückgekämmt, was seine hohe Stirn und den zurückweichenden Haaransatz betont. Davon abgesehen ist er ein hochgewachsener, schlanker Mann mit einem schmalen, sonnengebräunten Gesicht, einer kantigen Adlernase, buschigen Brauen und fast farblosen Augen. Er trägt einen schwarzen Frack, darunter ein weißes Hemd mit hohem Kragen und eine gestreifte Satinweste mit Perlmuttknöpfen. »Das Kleid steht Ihnen ausgezeichnet, wenn ich das sagen darf.«
»Ich erlaube es Ihnen. Ausnahmsweise«, erwidere ich mit einem breiten Lächeln. »Es ist mir eine Ehre, Sie endlich kennenzulernen, Monsieur Narcisse. Ich habe schon viel von Ihnen gehört.«
»Ach ja?«, fragt Narcisse, während er mir einen der zwei Polstersessel anbietet. »Hoffentlich nur Gutes.«
»Ich denke schon. Jedenfalls ist das Wort Koryphäe gefallen.«
Narcisse schmunzelte. »Jetzt schmeicheln Sie mir.«
»Sie machen es mir leicht«, entgegne ich und nehme auf dem angebotenen Sessel Platz, wobei ich sorgsam darauf achte, das teure Kleid nicht zu verknittern.
Von der Loge aus habe ich einen perfekten Blick auf die Bühne, die hinter einem roten Vorhang mit dem Jousan-Symbol für Glück und Wohlstand verborgen liegt. Im Zuschauerraum herrscht emsiges Gedränge. Selten habe ich so viele gut gekleidete Menschen auf einem Haufen gesehen. Herren, die Frack und Zylinder tragen. Damen in voluminösen Kleidern und mit dicken Juwelen um den Hals.
Ich komme aus bescheidenen Verhältnissen und obwohl ich inzwischen genug verdiene, um keinen Hunger leiden zu müssen, bin ich im Kopf noch immer arm. Manchmal muss ich mich regelrecht daran erinnern, dass ich Geld besitze. Nicht viel, aber genug, um nicht darüber nachdenken zu müssen, ob ich mir eine Schachtel Pralinen leisten kann oder nicht. Wäre ich nicht ständig auf der Flucht, könnte ich mir vielleicht sogar etwas aufbauen und wohlhabend werden. Doch das ist ein ferner Traum.
»Was für ein Stück sehen wir uns an?«, will ich wissen.
Narcisse antwortet mit einer Gegenfrage. »Waren Sie schon einmal hier?«
»Ich?« Beinahe hätte ich laut gelacht. »Nein. Ich bin zum ersten Mal in Tournesol.«
»Ah«, macht Narcisse, als würde ihm dadurch einiges klar werden. »Nun, das Lou-Tan-Theater hat eine lange Tradition. Angeblich wurde es von den ersten Joumin gegründet, die aus Jouyan nach Ostragon geflüchtet sind. Sie müssen wissen, im Norden herrschte damals – so circa 1340 – eine schreckliche Hungersnot, die unzählige Menschenleben gefordert hat. Viele verzweifelte Joumin haben sich daraufhin an die beschwerliche Wanderung über die Teppichberge gemacht, aber nur sehr wenige haben es auch geschafft. Von den Gründern dieses Theaters heißt es, sie wären über das Meer geflohen und hätten auf ihrem Weg Westragon und das gefährliche Kap Doorn umrundet. Dementsprechend soll ihr allererstes Bühnenstück von der Reise über das Meer gehandelt haben, von der tückischen See, von Ungeheuern, Sirenen, Meuterei und Wahnsinn.«
Wenn ich nicht schon wüsste, dass mein Kunde früher Professor für Geschichte gewesen ist, spätestens jetzt hätte ich es wohl geahnt. Doch die kleine Abhandlung stört mich nicht. Narcisse ist ein angenehmer Erzähler. Seine sonore Stimme und sein Gespür für Pausen und Tonlagenwechsel erinnern mich an meinen Lieblingsradiosprecher Paul Ispin. Wann immer er auf Sendung ist, klebe ich förmlich am Rundfunkempfänger.
»Aber heute sehen wir ein neues Stück, das in Hinblick auf die Ereignisse der nächsten Wochen aufgeführt wird«, fährt Narcisse fort. »Darin geht es um das Schicksal der Drachenkönigin und den Krieg zwischen Jouyan und Ellyrien.« Er bricht ab und lächelt verlegen. »Sagen Sie mir bitte, wenn ich zu viel rede. Seit ich nicht mehr vor Studenten, sondern vor Politikern spreche, fehlt mir jedes Gefühl dafür, wann es zu viel ist.«
»Ich melde mich, wenn ich es nicht mehr ertrage«, versichere ich ihm.
»Gut. Darauf will ich mich verlassen«, erwidert Narcisse, rückt seine Halsbinde zurecht und wechselt unerwartet das Thema: »Aber es ist nun einmal so, dass mir die Friedensbewegung sehr am Herzen liegt. Nach fast siebzig Jahren Waffenstillstand zwischen uns und den Elfen ist es meiner Meinung nach an der Zeit, den Ellyriern entgegenzukommen.«
Mein Herz begibt sich auf Talfahrt Richtung Magen. Frieden, echot es durch meinen Kopf. Mit den Elfen? Dass ich nicht lache!
Doch Narcisse scheint es ernst zu meinen. Da ist kein spöttisches Funkeln in seinen Augen und auch kein Zucken der Mundwinkel, das auf einen Scherz hindeuten könnte.
Um meinen Schock zu überspielen, zwinge ich mich zu einem Lächeln, das sich jedoch wie ein Fremdkörper auf meinen Lippen anfühlt. Ich bin nun wirklich keine kriegslüsterne oder rachsüchtige Person (nicht einmal besonders nachtragend), aber einen Frieden mit den Elfen könnte ich nicht verkraften. Immerhin haben sie mir das angetan. Sie haben mich verflucht. Wegen ihnen muss ich jede Nacht Albträume und Todesängste über friedlich schlafende Menschen bringen. Und wie soll so ein Frieden überhaupt aussehen? Werden dann Pauschalreisen in die Ellyrischen Wälder angeboten? Oder kommen die Elfen zu uns? Werde ich ihnen auf den Straßen begegnen? Werden sie ihre Magie mitbringen? Dieselbe Magie, die in der Vergangenheit Millionen Menschen getötet hat? Nein! Nein, das kann ich nicht akzeptieren.
»Und ich bin auch nicht der Einzige, der so denkt. Meine Worte finden Gehör an höchster Stelle«, fährt Narcisse gewichtig fort. »Am Achten dieser Dekade werde ich zum ersten Mal vor dem Senat sprechen, aber man hat bereits Interesse an meinen Plänen und Ausarbeitungen gezeigt.«
»Aber ...« Ich widerspreche, ohne wirklich zu wissen, was ich sagen will. Um mich nicht lächerlich zu machen, denke ich mir einen höflichen Einwand aus: »Aber das klingt nach einer Menge Arbeit.«
Narcisse nickt nachdrücklich. »Natürlich ist das viel Arbeit, Mademoiselle Pommier, und ich muss zugeben, dass es auch eine große Belastung für mich und meine Familie darstellt. Schließlich sieht die Mehrheit der Bevölkerung in den Elfen noch immer einen Feind.«
»Und Sie sehen das anders?«, frage ich so diplomatisch wie möglich.
»Ich bin davon überzeugt, dass ein Friedensabkommen mit den Elfen schon lange überfällig ist«, antwortet Narcisse. »Und ich denke auch, dass es nur vernünftig ist, als Siegermacht den ersten Schritt zu machen.« Sein Tonfall wird eindringlich. »Wir müssen den Ellyriern entgegenkommen, dann werden sie uns sicher mit offenen Armen empfangen. Schließlich ist die Kultur der Elfen nicht per se kriegerisch und die Geschichte hat gezeigt, dass sie durchaus zu großer Milde und Weisheit fähig sind.«
Ich lächle steif, während ich mich innerlich auf die Suche nach meiner Selbstbeherrschung begebe. Es ist nun wirklich nicht das erste Mal, dass ich einen Menschen mit einer anderen Weltanschauung behandele. Einige meiner angesehensten Kunden waren Betrüger, Diebe oder Mörder – und ich habe mich nie darüber beschwert, sondern einfach meine Arbeit gemacht. Trotzdem fühlt es sich diesmal anders an. »Das klingt alles sehr gut«, höre ich mich sagen. »Aber wo komme ich ins Spiel? Wie kann ich Ihnen helfen?«
Narcisse reibt sich das Kinn. »Sie kommen direkt zur Sache. Das gefällt mir.«
Aus dem Orchestergraben ertönt der Klang einer einzelnen Violine. Mein Herz pocht laut und ich habe schwitzige Handflächen. Am liebsten würde ich mich entschuldigen und das Bad aufsuchen, um mir kaltes Wasser ins Gesicht zu spritzen, aber ich will nicht unhöflich wirken oder den Anfang des Stücks verpassen.
Kaum habe ich das gedacht, fällt mir etwas auf. Unten im Zuschauerraum ist ein Gedrängel entstanden. Ein Kerl – gebaut wie ein solider Kleiderschrank – schiebt sich durch die Sitzreihen. Dabei entschuldigt er sich abwechselnd für seinen zu breiten Hintern und seine zu großen Füße. Étienne Romarin. Natürlich. Das hat mir gerade noch gefehlt.
Nichtsdestotrotz setze ich mich auf, um ihn und seinen Hintern einer genaueren Inspektion zu unterziehen. Meiner Meinung nach ist sein Po nicht zu breit, sondern genau richtig. Außerdem steckt er in einer makellosen Anzughose. Zumindest kann ich aus der Entfernung keine Knitterfalten oder Blutflecken erkennen.
Étienne ist jedoch nicht alleine gekommen. Er befindet sich in Begleitung der vornehmen Dame, die ich auch schon am Lufthafen gesehen habe. Genau wie am Morgen trägt sie schmuckloses Schwarz. Vielleicht ist sie kürzlich zur Witwe geworden, schießt es mir durch den Kopf.
»Wissen Sie ...«, beginnt Narcisse. »Ich habe Probleme mit dem Schlafen und man sagte mir, Sie seien sehr begabt darin, die Ursache dafür herauszufinden und zu beheben.«
»Albträume?«, will ich wissen.
»Ich weiß es nicht«, antwortet Narcisse. »Ich wache schweißgebadet auf, kann mich aber nicht erinnern, etwas geträumt zu haben.« Er atmet langgezogen aus und knetet seine Stirn, was Berge und Täler in seiner ansonsten erstaunlich faltenfreien Haut entstehen lässt. »Dadurch fühle ich mich schon morgens vollkommen erschöpft und ausgelaugt. Mein Leibarzt sagte mir, ich bräuchte einen Aderlass, aber dann sprach ich mit Monsieur Tulpin und er empfahl mir, mich an Sie zu wenden.«
Monsieur Tulpin ist ein ehemaliger Kunde von mir. Als er mich aufsuchte, litt er unter furchtbaren Albträumen von drachenartigen Ungeheuern, die ihn durch ein finsteres Kellergewölbe voller Geldscheine und Goldmünzen hetzten. Ich suchte ihn drei Mal auf, um ihn zu drücken. Nach genauem Studium seiner Träume und etwas Recherche fand ich heraus, dass er vor vielen Jahren ein Joumin-Geldhaus um mehrere tausend Rags betrogen hatte. Der Traum symbolisierte demnach seine Furcht vor den Geldeintreibern. Schließlich waren Joumin-Geldhäuser für ihren kompromisslosen Kundenservice bekannt.
Ich sagte Tulpin natürlich nicht, was ich herausgefunden hatte, aber ich machte ihm unmissverständlich klar, dass seine Träume sehr wahrscheinlich von Geldsorgen oder Schuldgefühlen herrührten. Daraufhin nahm er einen Kredit bei einem seriösen Geldhaus auf und bezahlte seine Schulden. Albträume hat er seitdem – nach eigener Aussage – nicht mehr. Doch nicht immer ist die Lösung für Schlafprobleme so offensichtlich.
»Das war eine gute Entscheidung«, sage ich zu Narcisse, auch wenn ich mir dessen alles andere als sicher bin. Auf keinen Fall will ich in irgendeine politische Angelegenheit mit den Elfen involviert werden. Andererseits ist Narcisse so zuvorkommend und großzügig zu mir, dass ich seinen Fall schlecht ablehnen kann. Jedenfalls nicht, ohne mir eine überzeugende Ausrede einfallen zu lassen. Vielleicht ein todkrankes Familienmitglied auf dem Festland, das dringend meine Hilfe benötigt.
Das restliche Orchester stimmt ins Spiel der Violine mit ein. Bestimmt hebt sich gleich der Vorhang.
Unten im Zuschauerraum hat Étienne inzwischen seinen Platz eingenommen. Dann steht er jedoch noch einmal auf, um einen bärtigen Mann, der eine Reihe hinter ihm sitzt, zu begrüßen. Die beiden scheinen sich gut zu kennen, umarmen einander und klopfen sich fest auf die Schultern. Ich versuche, anhand ihrer Lippenbewegungen zu erraten, worüber sie sich unterhalten, aber das gelingt mir nicht.
Also gehe ich wieder dazu über, Étienne zu mustern. Er trägt einen lockeren Frack mit Kummerbund und Fliege, der seine kräftige Statur betont ohne aufdringlich zu sein. Vielleicht hatte er Hilfe beim Anziehen. Wenn er sich eine Karte für das Lou-Tan-Theater leisten kann, beschäftigt er bestimmt auch Hauspersonal.
Ich erinnere mich an seinen Albtraum. Es ist nur eine Theorie, aber ich glaube, die Villa, die ich darin gesehen habe, könnte sein Zuhause sein. Jedenfalls war es nicht der Traum eines Mannes, der in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen ist.
Die meisten Menschen wissen es nicht (oder wollen es nicht wahrhaben), aber Albträume – sogar die ganz bizarren – enthalten eine Fülle an Wahrheiten über das Leben, Denken und Fühlen des Träumers. Leider erinnern sich die wenigsten Menschen gut oder lange genug an ihre nächtlichen Erlebnisse, um sie ausführlich analysieren zu können. Und da komme ich ins Spiel. Da ich die Träume meiner Kunden im Wachzustand erlebe, erinnere ich mich gut an die Ereignisse und kann sie später in Ruhe zerlegen und unter der Lupe meines Geistes und meiner Erfahrungen betrachten.
»Es geht los«, bemerkt Narcisse.
Im nächsten Moment werden auch schon die Lichter gelöscht und der Vorhang hebt sich.
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