49) Orangen

Das Romarin-Anwesen brennt vollständig nieder.

Bis tief in die Nacht kann ich es von der Dienstbotenunterkunft, die sich am östlichen Ende des Grundstücks befindet, glimmen und schwelen sehen.

Obwohl ich nur zwei Nächte darin verbracht habe, spüre ich den Verlust in jedem Knochen.

Doch viel schwerer wiegt natürlich, was mit Theo und Seymour geschehen ist.

Theo hat einige schwere Verbrennungen davongetragen und weil wir ihn nicht in ein Krankenhaus bringen können, müssen wir uns selbst um ihn kümmern und dafür sorgen, dass er die Nacht übersteht. Mae, die sich mit Verbrennungen auskennt, ist jedoch optimistisch, dass er überleben wird. Was Seymour angeht, sieht es nicht so rosig aus.

Widerwillig werfe ich einen Blick auf die Botschaft, die Isabel am Abend im Briefkasten des Romarin-Anwesens gefunden hat. Darin werden wir dazu aufgefordert, morgen Abend zur alten Königsburg zu kommen und die Baupläne aus dem Geldhaus mitzubringen. Andernfalls werde Seymour noch vor Sonnenaufgang sterben. Wie um die Ernsthaftigkeit der Forderung zu belegen, haben wir im Briefkasten auch noch Seymours Notizbuch gefunden. Blutverschmiert.

Da es keinen Absender gibt, können wir nur vermuten, dass die Botschaft von Julien Faucon stammt. Es wäre jedoch auch vollkommen egal gewesen. Für uns alle hat sofort festgestanden, dass wir Seymour nicht seinem Schicksal überlassen werden. Étienne hat noch ein paar Mal versucht, Mae und mich davon abzubringen, aber unser Entschluss steht felsenfest.

Mir ist jedoch bewusst, dass es sich höchstwahrscheinlich um ein Himmelfahrtskommando handelt. Wenn Faucon dahintersteckt, ist Seymour vielleicht schon tot. Und wir werden es in weniger als 24 Stunden auch sein. Noch vor ein paar Tagen hätte ich bei dieser Aussicht vermutlich schleunigst das Weite gesucht. Fast mein ganzes Leben lang musste ich mich nur um mich selbst kümmern. Doch jetzt habe ich sowas wie eine Familie. Es ist vielleicht albern, weil ich Étienne und seine Freunde erst seit ein paar Tagen kenne, aber die Zeiten sind hart und als Verfluchte bekommt man nicht viele Chancen auf ein gutes Leben. Mit Étienne könnte ich mich niederlassen. Ich müsste nicht mehr ruhelos umherziehen, sondern könnte endlich irgendwo meinen Frieden finden. Und ich weiß, wenn ich jetzt weglaufe, werde ich es bis an mein Lebensende tun müssen. Schon allein, weil Faucon mich jagen würde.

Ich habe die richtige Entscheidung getroffen. Da bin ich mir sicher.

Und trotzdem empfinde ich bei der Aussicht auf das, was uns morgen Abend erwartet, eine quälende Unruhe, die sich immer wieder zu kurzen Momenten der Panik steigert. Ich will nicht sterben. Ganz egal, ob es die richtige Entscheidung ist oder nicht. Ganz egal, wessen Leben ich damit retten kann. Ich will einfach noch nicht sterben.

Vor Jahren habe ich mir mal geschworen, dass ich überleben würde. Seitdem habe ich jeden einzelnen Tag gekämpft, um am Leben zu bleiben. Und das Einzige, das mich heute noch an diesen Moment erinnert, ist der Duft von Orangen.

Soll das alles umsonst gewesen sein?

»Hey, Betty ...«

Ich wende mich vom Fenster ab und entdecke Étienne, der im Türrahmen lehnt, die Ärmel hochgekrempelt und die Arme vor der Brust verschränkt hat.

»Hey ...«, erwidere ich. »Wie geht es Theo?«

Étienne nickt langsam. »Er ist aufgewacht und hat uns gleich einen Vortrag gehalten.«

»Worüber?«

»Darüber, dass er bereits seit Jahren die Brandschutzvorrichtungen im Haus bemängelt hat.«

Ich muss unwillkürlich lächeln. »Und?«

»Er hat natürlich Recht«, seufzt Étienne. »Aber das Anwesen ist das Haus meines Vaters und ich wollte nichts daran verändern.« Er zuckt mit den Schultern. »Das hab ich nun davon. Zurück in dem Gemäuer, in dem ich aufgewachsen bin.«

Ich lasse meinen Blick schweifen. Die Dienstbotenunterkünfte sind schon ein bisschen heruntergekommen, was aber wohl in erster Linie daran liegt, dass sie seit dem Tod von Étiennes Vater nicht mehr bewohnt werden. Die Wände bestehen aus rotbraunem Bruchstein, der mal mehr und mal weniger gut verputzt ist. Das moosbewachsene Reetdach weist einige Löcher auf, durch die Feuchtigkeit ins Innere des Gebäudes gedrungen ist und die alten Holzdielen mit einem fleckigen Muster überzieht. Hier und da gibt der Boden nach und Regenwasser hat sich in den Vertiefungen gesammelt. Es riecht modrig, nach feuchtem Stroh und Tierexkrementen. Aber zumindest haben wir den alten Benzinofen zum Brennen gebracht und die Wärme des Feuers verbreitet sich von der Stube aus in den verschiedenen Räumen, als würde sie direkt durchs Mauerwerk sickern.

Étienne tritt von hinten an mich heran und schlingt die Arme um meine Taille. »Beschissener Tag, was?«

»Ich gewöhne mich so langsam dran«, entgegne ich, lege meine Hände über seine Hände und betaste die Schwielen an seinen Knöcheln. »Wie geht es dir?«

»Alles riecht nach Rauch und verbranntem Holz«, erwidert Étienne. »Es ist, als hätte ich einen Teil des Hauses eingeatmet.« Er beugt sich vor und küsst meine Halsbeuge. Seine Bartstoppeln kitzeln meine empfindliche Haut. »Aber wir werden alles wieder aufbauen. Jeden einzelnen Stein«, flüstert er gegen meinen Nacken, sodass sich die kleinen Härchen an meinen Armen aufstellen.

Mit einem leisen Seufzer lasse ich mich in die Umarmung sinken und schließe die Augen. »Dann denkst du, dass wir morgen überleben werden?«

»Narcisse und Andrea haben keine Einladungskarte bekommen, oder?«, erinnert mich Étienne.

»Das heißt, Faucon will vielleicht bloß reden?«

»Keine Ahnung.« Étiennes Küsse ziehen eine heiße Spur über meine Haut. Mein Atem wird flacher und ich gerate prompt ins Husten. »Wie auch immer, wir lassen uns was einfallen«, ergänzt Étienne, nachdem ich mich wieder beruhigt habe.

»Du willst kämpfen?«, krächze ich.

»Kämpfen ist vielleicht das falsche Wort, aber wir werden nicht Faucons Spiel mitspielen.«

»Und Seymour?«

»Seymour würde das Gleiche tun, wenn er in unserer Situation wäre.«

Ich kann mir unmöglich ausmalen, was Seymour tun würde, wenn er in unserer Situation wäre, aber ich glaube Étienne. Und in einem hat er Recht: Wenn wir Faucons Spiel mitspielen, sind wir tot.

»Was ist mit den Plänen?«, frage ich.

»Adeline glaubt, dass sie etwas erkannt hat.«

»Was?«

»Einen Namen.«

»Der Autor?«

»Wohl eher der Baumeister.« Étienne hält mit seinen Küssen inne und legt das Kinn auf meiner Schulter ab. »Mach dir keine Sorgen, Betty. Wir finden einen Ausweg.«

»Das glaubst du wirklich«, murmele ich.

»Was?«, fragt Étienne.

Ich zwinge mich zu einem Lächeln. »Nichts.« Um von mir und meinen Zweifeln abzulenken, wechsle ich das Thema. »Was ist mit Isabel? Gibt sie sich immer noch die Schuld an dem Feuer?«

Étiennes Brustkorb hebt und senkt sich. »Ich habe versucht, ihr zu erklären, dass sie nicht für das Geschehene verantwortlich ist.«

»Aber sie denkt, sie hätte es verhindern müssen.«

»Isabels Magie ist noch nicht ausgereift«, erklärt Étienne. »Elfen müssen irgendwie in Kontakt zu ihrer Magie stehen. Sie brauchen eine Art Verbindung. Aber Isabel hat nie gelernt, mit ihrer Magie zu interagieren. Was die Kräfte ihres Volkes angeht, ist sie wie eine Blinde. Sie ...« Étienne atmet langgezogen aus. Sein Atem prickelt angenehm auf meiner Haut. »... tastet sich immer weiter vowärts, ohne zu sehen, wohin der Weg führt, und wenn ihr mal was gelingt, dann hat das oft mehr mit purem Glück als mit ihren Fähigkeiten zu tun. So wie heute Mittag in Jouyan-Sin.«

Ich denke an die Steinkreaturen, die sie zum Leben erweckt hat.

»Sie bräuchte jemanden, von dem sie lernen könnte«, fährt Étienne fort. »Einen richtigen Vater. Einen Elfen-Vater.«

»Na ja ... vielleicht ist das nicht vollkommen ausgeschlossen«, flüstere ich. »Wenn erst Frieden mit den Elfen herrscht.«

Étienne gibt einen geringschätzigen Laut von sich. »Isabels Familie hat sie im Stich gelassen.« Er schüttelt den Kopf. Dabei reibt sein stoppeliges Kinn an meiner Haut. »All die Jahre und nie ist jemand gekommen, um nach ihr zu suchen. Dabei sollte man meinen, dass einem magischen Volk in dieser Hinsicht alle Türen offenstünden.« Étienne zieht mich noch enger an sich, sodass ich seinen Körper an mir spüre. Warm und fest und unerschütterlich, wie ein Felsen, der sich in der Mittagssonne aufgeheizt hat. »Das heißt, entweder sie sind alle tot oder sie haben Isabel selbst ausgesetzt.«

»Wieso sollten sie so etwas Grausames tun?«, hauche ich.

Étienne knabbert an meinem Ohrläppchen.

Ich ziehe die Schulter hoch und klopfe ihm tadelnd gegen den Oberarm. »Na!«

Étienne lacht leise. »Weil es laut der Schriften, die wir in den letzten Jahren gesammelt haben, in Teilen Ellyriens Tradition hat, Elfenkinder, die unter bestimmten Bedingungen geboren werden, in der Natur auszusetzen. Sie gelten als schlechtes Omen.«

Ich spüre, wie ich mich ohne bewusstes Zutun in Étiennes Umarmung versteife. »Wenn es dein Ziel ist, mich dazu zu bringen, meine neu gewonnenen Sympathien für die Ellyrier zu überdenken, dann hast du es geschafft.«

»Ich denke nicht, dass es gerecht ist, ein ganzes Volk nach einer einzelnen Tradition oder einer einzelnen Tat zu beurteilen. Wenn es danach ginge, stünden wir wohl auch nicht gut da.«

Ich schiebe Étiennes Hände von mir weg und winde mich aus seiner Umarmung. Widerwillig lässt er mich los. »Aber das ist barbarisch.«

Étienne mustert mich abwartend.

»Kinder auszusetzen, bloß, weil sie mit einer bestimmten Veranlagung oder am falschen Datum geboren wurden.« Ich fröstele, aber ich weiß nicht, ob das an der Vorstellung von ausgesetzten Kindern oder am Fehlen von Étiennes Wärme liegt. »Wie kannst du sowas entschuldigen?«

»Das tue ich nicht«, sagt Étienne ernst. »Genauso wenig, wie ich entschuldigen will, was die Joutan mit Mae gemacht haben.« Er senkt die Stimme. »Oder deine Eltern mit dir.«

Ich halte inne. »Wie kommst du darauf?«

»Deine Reaktion gerade eben.« Étienne wandert durch das Zimmer, das bis auf ein paar Stühle, Tische und Schränke leer ist. »Aber vielleicht hab ich mich geirrt.« Er wirft einen Blick über seine Schulter, als wollte er meine Reaktion beobachten.

Ich wende mich ab und spähe aus dem Fenster in die Nacht hinaus. Mein Herz wummert, als hätte ich einen Treppensprint hinter mir.

Étienne seufzt. »Wenn du nicht darüber reden willst-«

»Nein«, schnappe ich. »Ich will nicht darüber reden.« Zornig und verwirrt über meine eigenen Gefühle grabe ich die Schneidezähne in meine Unterlippe und zupfte am obersten Knopf meiner Bluse herum.

»Betty?«

Étienne hat keine Ahnung, wie das ist, denke ich grimmig. Er hat vielleicht seinen großen Bruder verloren, aber er weiß nicht, wie es sich anfühlt, wenn man an einem einzigen Tag seine ganze Familie verliert. Wenn sich eine unsichtbare Wand zwischen ein Kind und seine Familie schiebt.

»Betty?«

Wenn man mit den Menschen zusammenleben muss, die einen umbringen wollten. Wenn man weiß, dass man sich auf seine eigenen Eltern nicht mehr verlassen kann. Wenn man vollkommen allein ist. Denn niemand ist so allein, wie ein Kind, das nicht einmal von der eigenen Familie geliebt wird.

»Betty?«

Die Erinnerungen an die Nacht, in der meine Mutter mit mir weit nach Süden an die Küste gefahren ist, sprudeln in mir hoch. Sie hat mir gesagt, dass wir etwas ganz Besonderes unternehmen würden.

Ich weiß noch, wie aufgeregt ich war, als wir am Morgen in den Postwagen gestiegen sind. Und ich erinnere mich an das furchtbare Gefühl, als sie mich am Abend in diesem verlassenen Orangenhain ausgesetzt und mir mit Tränen in den Augen gesagt hat, dass am anderen Ende der Plantage das Schloss eines Prinzen auf mich warten würde, und ich müsste einfach nur hingehen und nachsehen. Aber ich bin nicht gegangen. Ich habe dem Postwagen nachgesehen, wie er sich von mir entfernt hat. Und dann bin ich ihm nachgelaufen, habe geweint, gefleht und gebettelt, doch meine Mutter hat nicht einmal zurückgesehen. Stattdessen hat sie dem Fahrer gesagt, er solle schneller fahren. Und dann war ich allein zwischen diesen endlosen Reihen Früchte tragender Orangenbäume. Im wahrsten Sinne des Wortes mutterseelenallein.

»Betty ...« Étienne schiebt sich in mein Sichtfeld, umfasst mein Kinn mit einer Hand und legt den Daumen auf meine Lippen. »Du tust dir weh.«

Zunächst weiß ich nicht, wovon er spricht, doch dann bemerke ich den metallischen Geschmack in meinem Mund. Offenbar habe ich mir die Lippe blutig gebissen.

»Ach, Betty«, seufzt Étienne und zieht mich erneut in seine Arme, sodass mein Kopf an seiner Brust zum Liegen kommt. »Irgendwann wirst du mir davon erzählen, nicht wahr?«

Ich blinzele die Tränen weg, die mir in die Augen steigen, und schlinge die Arme um Étiennes Taille. »Gib mir noch ein paar Tage«, flüstere ich.

»Von mir aus hast du alle Zeit der Welt«, erwidert Étienne.

Wut, Trauer und Dankbarkeit vermischen sich zu einem schweren, klumpigen Gefühl in meiner Brust. »Ich hab dich lieb, Étienne«, nuschele ich in sein Hemd.

Étienne fasst mich an den Schultern und schiebt mich von sich weg. »Wie soll ich dir das jetzt bloß beibringen?«, murmelt er und zieht eine gramerfüllte Grimasse. »Am besten kurz und schmerzlos: Ich hab dich auch ganz schön lieb.« Er tippt mir mit dem Zeigefinger auf die Nasenspitze. »Und ich könnte schwören, dass ich mit dem Liebhaben angefangen habe.«

»Und das, obwohl du mich in meiner Drudengestalt gesehen hast«, bemerke ich.

Étienne lächelt verschmitzt. »Was soll ich sagen? Ich bin ein einfacher Mann. Die Glocken waren noch da, also werde ich mich nicht beschweren.«

»Das ist doch ...« Ich mache mich erneut von ihm los und schiebe ihn von mir weg. »Du bist einfach unmöglich.«

Étienne lacht. »Was? Wieso?«

»Mit dir kann man keine anständige Unterhaltung führen.«

»Um ehrlich zu sein, sehe ich keinen Sinn darin, anständige Unterhaltungen zu führen. Die sind in der Regel langweilig.«

Gespielt verärgert stampfe ich zur Tür und lasse mich auf dem Flur von Étienne wieder einfangen. Küssend taumeln wir gegen eine Wand, bis Adeline uns aus dem Nebenraum daran erinnert, dass wir noch jede Menge Arbeit vor uns haben, wenn wir Seymour retten wollen.


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