47) Der kleine Hase
Um mich herum ist es vollständig dunkel.
Ich taste mich vorwärts und stoße gegen ein Möbelstück, das ich für einen Tisch halte. Meine Hände berühren etwas Kaltes, Metallisches. Ich fahre mit den Fingern daran entlang, schiebe und drücke, bis plötzlich ein Licht angeht.
Im ersten Moment bin ich geblendet, doch als sich meine Augen an die unerwartete Helligkeit gewöhnt haben, wird mir bewusst, dass ich eine Gaslaterne, wie sie bei Grubenarbeiten verwendet wird, gefunden habe. Sie steht auf einem Tisch im Zentrum des Tresorraums, direkt neben einem hübschen Schmuckkästchen aus rotbraunem Kiefernholz.
Ein dumpfes Geräusch lässt mich herumfahren, doch es ist nur Adeline, die von außen gegen die Tür klopft. »Mademoiselle Pommier? Geht es Ihnen gut?«
Ich lasse meinen Blick schweifen. Der Tresorraum wird von hohen Schrankwänden mit unzähligen Schubladen ausgekleidet. Jede Schublade ist mit einer kleinen Messingplakette und einer Nummer versehen. Staub tanzt in der Luft und es riecht muffig. Sogar ein bisschen schimmelig.
»Sie müssen sich beeilen«, höre ich Adeline sagen.
Ich weiß, dass mir nicht viel Zeit bleibt, aber ich habe keine Ahnung, wo ich mit der Suche anfangen soll.
Mein Blick fällt erneut auf das Schmuckkästchen. Hat Monsieur Tahoa nicht gesagt, sie hätten bereits alles zur Abholung vorbereiten lassen?
Da ich ohnehin keine große Wahl habe, wenn ich nicht Stunden damit zubringen will, alle Schubladen zu durchforsten, nehme ich das Kästchen und klappe es auf. Darin liegen mehrere zusammengefaltete Dokumente. Mit zittrigen Fingern falte ich sie auseinander.
Es scheint sich um Zeichnungen zu handeln. Oder nein. Die Kommentare und Maßangaben am Rand deuten eher auf Pläne hin. Baupläne. Für eine Maschine, die der Maschine aus Narcisse' Albtraum zum Verwechseln ähnlich sieht.
Die Luft im Innern des Tresorraums scheint sich zu verdichten. Ich kann kaum noch atmen. Die Dokumente entgleiten meinen Fingern und landen auf der Tischplatte. Die Pinselstriche verschwimmen. Ich stütze mich mit den Händen auf dem Tisch ab und schließe die Augen.
Aus dem Nebenraum dringen gedämpfte Stimmen. Offenbar sind Isabel, Mae und Adeline nicht mehr alleine.
Ich reiße mich zusammen, schüttele den kurzen Schwächeanfall ab, stopfe mir die Dokumente ins Dekolleté und husche zurück zur Tür.
Dort halte ich inne und lausche.
Ich höre die Stimme eines Mannes. Er klingt laut und melodramatisch, auch wenn ich nicht verstehen kann, was er sagt.
Beunruhigt leite ich meine Verwandlung ein und gleite durch den Türspalt zurück in den Raum, aus dem ich gekommen bin. Ein Windzug wirbelt mich hoch in die Luft, unter die Stoffbahnen an der Decke. Von dort kann ich das Geschehen überblicken.
Ein komischer Mann hat das Zimmer betreten. Er ist noch größer als Étienne, aber nicht muskulös, sondern massig. Es ist nicht, als ob er einen Bauch hätte; er scheint ausschließlich aus Bauch zu bestehen. Er ist in einen glänzenden Seidenkaftan mit goldenen Knebelverschlüssen gehüllt, der über seinem korpulenten Leib spannt. Dazu trägt er eine Art Zipfelmütze, einen bleistiftdünnen Oberlippenbart und jede Menge funkelnden Schmuck. Seine Finger, seine Arme, seine Ohren, sogar seine Zähne blinken und blitzen.
Sofort weiß ich, dass ich es mit Bo Haru-Sin zu tun habe. Der kleine Hase höchstpersönlich.
Ich bin mir nicht sicher, ob wir uns geschmeichelt fühlen sollten. Bo Haru-Sin ist nämlich nicht alleine gekommen. Bei ihm sind mehrere grobschlächtige Schlägertypen und ein junger Mann mit weichen, beinahe schon weibisch wirkenden Gesichtszügen.
Während Bo Haru-Sin beschwichtigend auf Adeline einredet, versucht der junge Mann Kontakt zu Mae aufzunehmen, die ihn jedoch geflissentlich ignoriert. Ohne ihn auch nur eines Blickes zu würdigen, klammert sie sich an Isabel.
Die kleine Elfe wirkt dagegen reichlich unbesorgt und verfolgt die ganze Szene mit einem Ausdruck ungläubiger Faszination. Wie jemand, der über Menschen gelesen, sie aber noch nie in Aktion erlebt hat.
»Sie wollen uns doch bloß hinhalten!«, sagt Adeline soeben.
Bo Haru-Sin hebt abwehrend die fleischigen Hände. »Ich bitte Sie, Madame de Cinc Estrellia ... von Hinhalten kann gar keine Rede sein. Sie wissen, ich bin ein vielbeschäftigter Mann. Gerade jetzt, zwei Tage vor den Neujahrsfeierlichkeiten. Ich habe überhaupt nicht die Zeit, um Sie hinzuhalten.« Er senkt den Blick und legt die Fingerspitzen aneinander. »Ich verspreche Ihnen ... sobald diese Angelegenheit sich zur allgemeinen Zufriedenheit aufgeklärt hat, werde ich mich um den Grund Ihres Hierseins kümmern.«
»Sie meinen, sobald Sie eine schutzbedürftige Frau an ihren Peiniger ausgeliefert haben.«
»Ich rede davon, einen verzweifelten Vater wieder mit seinem verlorenen Kind zusammenzuführen«, erwidert Bo Haru-Sin und zieht einen Schmollmund. Seine Lippen sind von einer ungesunden, dunkelvioletten Farbe. »Sie sollten auf meiner Seite sein.«
»Wie viel Geld investiert Monsieur Jibun in Ihre dubiosen Geschäfte?«, kontert Adeline. »Beantworten Sie mir diese Frage, Monsieur Haru-Sin.«
Bo Haru-Sin schnappt nach Luft. »Wollen Sie damit andeuten, dass es mir nur ums Geld geht, Madame?«
Adeline pikst ihm mit dem Zeigefinger in die Brust und vermutlich wissen nur wenige der Anwesenden, dass ihn in diesem Moment nur ein paar Lagen Stoff vor einem unrühmlichen Ende als ungewöhnliches Dekorationsobjekt bewahren. »Sie würden Moral nicht mal erkennen, wenn Sie Ihnen ins Gesicht spränge.«
Bo Haru-Sin lächelt gleichmütig. »Monsieur Jibun ist ein Freund von mir und ich habe gesehen, wie sehr er unter dem Verlust seiner Tochter leidet.«
»Was denken Sie, wie sehr seine Tochter unter den unmenschlichen Praktiken der Joutan-Sekte gelitten hat?«
»Unmenschlich.« Bo Haru-Sin gibt ein schmatzendes Geräusch von sich. »Das sagen Sie nur, weil Sie kein Verständnis für unsere Kultur und unsere Traditionen haben.« Er schüttelt den Kopf und schnaubt. »Unmenschlich ...« Ihm scheint ein Gedanke zu kommen. Er hebt die Hand und droht Adeline mit dem beringten Zeigefinger. »Wissen Sie, was unmenschlich ist? Die Steuersätze auf dieser Insel. Die sind unmenschlich. Aber Monsieur Jibun-« Bo Haru-Sin hebt beide Handflächen zur Decke und zuckt mit den Schultern »-will nur seine Tochter heilen.«
Adeline scheint einzusehen, dass es nichts bringt, mit ihm zu diskutieren. Sie wendet sich an Mae und Isabel: »Kommt, ihr zwei. Wir gehen.«
Bo Haru-Sin und seine Handlanger verstellen ihr den Weg.
»Wollen Sie das wirklich tun?«, grollt Adeline.
Bo Haru-Sin lächelt verkrampft. »Sie und Monsieur Romarins Tochter können jederzeit gehen. Mademoiselle Jibun dagegen ...«
»Das ist Freiheitsberaubung, Monsieur Haru-Sin.«
»Nun, Monsieur Jibun hat mir gesagt, dass seine Tochter entführt wurde. Also ... möglicherweise ist das, was Sie machen, Freiheitsberaubung, und ich bin im Recht.«
»Dann rufen Sie die Gendarmerie«, erwidert Adeline. »Sie sollen zum Romarin-Anwesen kommen und sich davon überzeugen, dass Mademoiselle Jibun freiwillig bei uns ist. Bis dahin ...« Sie fasst Maes Handgelenk und zieht sie und Isabel mit sich zur Tür.
Bo Haru-Sins Handlanger scheinen sie packen und festhalten zu wollen, aber ihr Boss schnalzt mit der Zunge und bedeutet ihnen, sich zurückzuhalten. Vielleicht will er es nicht riskieren, Hand an die ehemalige Leiterin des Corps zu legen.
Die Männer weichen zurück und lassen Adeline, Mae und Isabel passieren. Anschließend macht sich die ganze Gruppe an die Verfolgung der drei Frauen.
»Sie werden nicht weit kommen«, höre ich Bo Haru-Sin sagen. Dann sind alle zur Tür hinaus verschwunden.
Niemand hat bemerkt, dass ich mich buchstäblich ‚aus dem Staub' gemacht habe.
Ich sinke langsam zu Boden und verwandele mich zurück. Erstaunt stelle ich fest, dass die Verwandlung mich kaum angestrengt hat. Vielleicht hat das etwas mit Isabel zu tun. Vielleicht kann ich ebenfalls von ihrer Magie profitieren, so wie alle anderen, die mit ihr zusammenwohnen.
Nachdem ich mich vergewissert habe, dass ich die Dokumente noch immer über dem Busen trage, schleiche ich zur Tür und husche in den weitläufigen Flur hinaus.
Es ist leicht, der Stimme von Bo Haru-Sin durch seinen Palast zu folgen. Er redet gerne und viel – und in einer Lautstärke, die sogar von den vielen Teppichen und Gardinen nicht geschluckt werden kann.
Am Durchgang zur Eingangshalle habe ich die Gruppe eingeholt und werde Zeugin davon, wie Bo Haru-Sins Handlanger schließlich doch eingreifen. Sie versuchen, Isabel, Mae und Adeline voneinander zu trennen. Die beiden jüngeren Frauen werden hin und her gezerrt. Isabel scheint sich zu amüsieren, während Mae die nackte Panik anzusehen ist. Ihre Adern schimmern weißlich durch ihre Haut und ihre Augen füllen sich mit Flammen.
Gleichzeitig entsteht auch am Eingang der Halle ein Getümmel.
Mehrere Joumin drängen herein. Ich glaube, Maes Vater und die anderen Männer zu erkennen, mit denen Étienne und Seymour sich gestern geprügelt haben.
»Mae!«
Bo Haru-Sins Handlanger schaffen es, Mae von Adeline wegzureißen. Dabei stürzt Isabel zu Boden. Als sie sich wieder aufrichtet, glühen ihre Augen wie der blutrote Schein des Elfmonds.
Eine Vibration wandert durch die Halle. Die Wände erzittern. Staub rieselt aus der Decke und Stuckverzierungen brechen auseinander.
Die Menschen in der Halle halten inne. Gespräche verstummen.
»Isabel«, zischt Adeline.
Kurz darauf ertönt ein langgezogenes Kreischen. Es scheint von draußen zu kommen.
Die Wände erzittern erneut und dann bricht etwas über den Schaltern aus der Mauer. Trümmer regnen auf die Halle herab. Panik bricht aus und die Menschen, die bis eben noch geduldig angestanden haben, fliehen in Richtung Ausgang.
Ich blinzele in den Staub und entdecke einen riesigen, keilförmigen Kopf, gefolgt von einem langen, schlangenartigen Körper. Da wird mir bewusst, dass es sich um eine der Steinkreaturen von der Fassade des Geldhauses handeln muss. Vermutlich ein Drache.
Inmitten des Durcheinanders versetzt Adeline dem Handlanger, der Mae festhält, einen gezielten Handkantenschlag. Dann packt sie die junge Frau und zerrt sie mit sich zum Eingangsportal.
Ich zögere nicht länger, fasse Isabels Handgelenk und ziehe sie hinter mir her.
Als wir im Freien ankommen und die Stufen hinunterstürzen, wird mir bewusst, dass der Drache nicht das einzige Fabelwesen ist, das sich selbstständig gemacht hat. Auf der Fassade des Geldhauses wimmelt es wie auf einem Ameisenhaufen.
»Schnell!«, drängt Adeline. Ihre Sorge scheint jedoch weniger den steinernen Kreaturen als den Handlangern von Bo Haru-Sin und Maes Vater zu gelten.
Wir springen die Treppe hinunter und tauchen in das labyrinthische Gassengeflecht von Jouyan-Sin ein. Nach ein paar Kreuzungen und Ecken stehen wir vor dem Tor zu Onkel Rajis Laden und suchen Zuflucht in seinem Lager.
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