45) Das Mädchen mit der Perlenkette
Die Innenräume des Joumin-Geldhauses sind genauso pompös wie die Fassade. Üppige Verzierungen aus Marmor und Goldauflagen schmücken die Wände, goldgerahmte Kartuschen und filigrane Stuckarbeiten die Decke der Eingangshalle. Am hinteren Ende des Raumes befinden sich die Schalter der Geldwechsler, links und rechts die Stuben der Geldverleiher, die mit dunkelroten Samtvorhängen vom Rest der Halle abgetrennt sind. Zwei der insgesamt sieben Schalter sind geöffnet. Davor haben sich lange Schlangen gebildet. Vermutlich hat der Taifun viele Menschen in eine Notsituation gebracht. Am Übergang zum Westflügel geben sich Arbeiter in schmutzigen Latzhosen die Klinke in die Hand, während sie allerlei Schutt und verkohlte Möbelstücke durch einen Seitenausgang ins Freie tragen.
»Und wie geht es jetzt weiter?«, frage ich.
»Ihr werdet hier warten.« Adeline weicht an den Rand der Halle zurück und wir folgen ihr wie Entenküken. »Bleibt einfach hier stehen«, ergänzt sie mit gesenkter Stimme.
»Und wo willst du hin?«
»Ich werde jemanden suchen, mit dem wir reden können.« Adeline mustert mich kritisch. »Wie ist Ihr Westragonisch, Mademoiselle Pommier?«
»Schlecht bis nicht vorhanden.«
»Nun ja, es wird ausreichen müssen.«
Adeline lächelt verkrampft, presst sich den Hut auf den Kopf und eilt mit raschelnden Röcken zu einem Durchgang, der in die Hinterzimmer des Geldhauses führen muss. Zwei Joumin von Étiennes Statur halten sie auf, aber nach einem kurzen und offenbar wenig freundlichen Wortwechsel darf Adeline passieren.
»Sieh mal, Betty«, sagt Isabel und deutet auf mehrere Joumin, die in diesem Moment aus der Tür zum Ostflügel strömen.
Alle tragen traditionelle Kleidung, kostbar wirkende Kaftane mit bunten Mustern und Knoten-Stickereien, Schnabelschuhe und Turbane. Die Männer besitzen lange, schon leicht ergraute Bärte und die Frauen haben ihr Haar zu komplizierten Frisuren aufgesteckt.
»Das sind die Doremin«, murmelt Mae.
»Was sind die Doremin?«, fragt Isabel, während sie die nobel wirkenden Joumin mit halboffenem Mund anstarrt.
»Eine Art ... Ältestenrat.« Mae wendet sich ab und versteckt ihr Gesicht.
Immer mehr Menschen strömen aus dem östlichen Durchgang. Unter die Joumin mischen sich auch einige Ragonen und Einheimische. Alle sehen ausgesprochen offiziell aus und scheinen es auch ausgesprochen eilig zu haben.
Mae, Isabel und ich weichen noch weiter an die Wand zurück, um ihnen aus dem Weg zu gehen. Doch es ist zu spät. Jemand biegt um die Ecke und stößt mit mir zusammen. Ich stolpere gegen Mae und kann mich gerade noch auf den Beinen halten. Die Frau, die mich angerempelt hat, hat nicht so viel Glück. Mit einem erstickten Keuchen landet sie auf allen vieren.
»Oh nein«, hauche ich. »Geht es Ihnen gut?« Ich bücke mich und strecke der Frau die Hand hin, um ihr aufzuhelfen. Als sie den Kopf hebt, wird mir bewusst, dass ich sie schon einmal gesehen habe. »Camille?«
»Betty?«
Camille wirkt genauso überrascht, mich zu sehen, wie ich, sie zu sehen. Sie greift nach meiner Hand, lässt sich von mir auf die Beine ziehen und streicht sich mit einer affektierten Bewegung die hellbraunen Locken über die Schulter. Heute trägt sie ein luftiges, weißes Rüschenkleid, das ihren Porzellanteint betont und sie noch etwas mehr wie eine fleischgewordene Puppe aussehen lässt.
»Wie geht es Ihnen, Mademoiselle Pommier?«, will Camille wissen. Dabei fasst sie nach dem Ende der Perlenkette, das ihr aus dem Ausschnitt gerutscht ist. Eingeschobene Perlen und rote Edelsteine in Form von Mohnblumen. Die Kette ist wirklich wunderschön. Das ist mir schon bei unserer letzten Begegnung aufgefallen. Was ich damals nicht bemerkt habe, ist der seltsame Schlüssel, der am Ende der Kette befestigt ist. Er sieht aus, als bestünde er aus patinierter Bronze und passt somit gar nicht zum Rest des Schmuckstücks.
»Wie ich sehe, haben Sie sich mit der kleinen Isabel angefreundet.« Camille spitzt die Lippen und klimpert mit den Wimpern. »Das bedeutet wohl, dass Étienne noch immer Ihr Patient ist.« Das Wort ‚Patient' betont sie auf eine Weise, die mir mehr als deutlich macht, was sie davon hält.
Ich erinnere mich an das, was Seymour über Camille und ihren Bruder Vernon gesagt hat, und kann spüren, wie mir die Galle hochsteigt. Allein der Gedanke, die zwei könnten Étienne wie ein Zuchtrind mit einer netten Ostragon-Kuh verpaaren wollen, um seine Abstammungslinie vom Joumin-Blut zu reinigen, macht mich rasend. Ich frage mich, ob ich in ihren Augen als Ostragon-Kuh durchgehe oder ob ich ihnen mit meinen blonden Haaren nicht ostragonisch genug bin.
»Étienne ist nicht mein Patient«, erkläre ich Camille und gebe mir Mühe, sehr langsam und deutlich zu sprechen, damit sie auch genau versteht, was ich ihr sage.
»Ach, nein?« Camille lässt den Schlüssel wieder in ihrem Dekolleté verschwinden.
»Nein«, erwidere ich süßlich. »Wir schlafen bloß miteinander.«
Camille starrt mich an.
Ich spitze die Lippen und klimpere mit den Wimpern.
»Betty ...«, raunt Mae, der die Situation ziemlich unangenehm zu sein scheint.
Ganz im Gegensatz zu Isabel, die sich neben mir aufbaut und die Hände in die Taille stemmt. »Sie sagt die Wahrheit! Ich hab's gehört.«
Ich notiere mir in Gedanken, dass Étienne und ich demnächst unbedingt einen etwas abgelegeneren Ort aufsuchen müssen.
Camille reckt das Kinn in die Luft und bläht die Nasenflügel auf. »Dann sind Sie jetzt so etwas wie seine Mätresse?«
»Seine Geliebte«, korrigiere ich sie – und hoffe, dass ich mich mit dieser Behauptung nicht zu weit aus dem Fenster lehne. »Aber ich kann mir schon vorstellen, wieso Sie den Unterschied nicht kennen.«
»Ist Mätresse nicht ein anderes Wort für Hu-?«
Mae hält Isabel den Mund zu.
»Nun, wenn das so ist«, sagt Camille mit einem starren Lächeln, »solltet ihr vielleicht beide zum Neujahrsempfang nach Holting kommen.«
»Neujahrsempfang?«
»In Jouyan enden übermorgen die Dämmertage und das neue Jahr beginnt«, erklärt Mae.
»Zu diesem Anlass – und weil schon bald die Troisan stattfinden wird – erwarten wir auf Menthe hohen Besuch«, berichtet Camille, so genüsslich, als würde sie sich dabei mit Schokolade einreiben. »Der jüngste Sohn der Königin wird nach Tournesol kommen, zusammen mit einer ganzen Delegation hochrangiger Joumin-Unterhändler.« Sie mustert mich herablassend über den Buckel ihrer ausnehmend großen Nase. »Und mein Bruder und ich werden die Feierlichkeiten ausrichten.« Ihre Augen blitzen opalblau auf. »Das wird ein Spektakel.«
»Glaub ich gern«, brumme ich. Dass ausgerechnet die Cerisiers die Neujahrsfeierlichkeiten ausrichten sollen, überrascht mich. Durch Étienne und Seymour habe ich den Eindruck gewonnen, die zwei könnten Joumin nicht ausstehen. Aber vielleicht hat sich das noch nicht herumgesprochen. Oder es ist den Verantwortlichen egal.
»Wie auch immer«, säuselt Camille. »Ihr seid herzlich eingeladen.« Ihr Blick wandert über das schlichte, dunkelblaue Ausgehkleid, das ich mir vor unserer Abreise von Adeline geliehen habe. Es muss noch aus der Zeit vor dem Tod ihres Mannes stammen und ist mir ein bisschen zu eng. »Aber denken Sie daran, sich etwas Vernünftiges anzuziehen. Wir wollen ja keine weiteren Missverständnisse bezüglich Ihres Verhältnisses zu Monsieur Romarin provozieren. Nicht wahr?«
Mit diesen Worten hängt sie sich ihren Schirm über den Arm und mischt sich wieder unter die wichtig aussehenden Menschen, die Richtung Ausgang strömen.
»Miststück«, grolle ich, als sie außer Hörweite ist.
»Ein furchtbares Weibsbild«, pflichtet Mae mir bei.
Isabel rümpft angewidert die Nase. »Eine rechte Dreckschwalbe.«
»Du sollst doch nicht alles nachplappern, was Adeline sagt«, tadelt Mae. Im nächsten Moment hält sie plötzlich inne, als hätte sie aus dem Augenwinkel etwas Unheimliches bemerkt. Suchend huscht ihr Blick über die Menge.
»Was ist?«, will ich wissen.
»Nichts«, flüstert Mae und wendet rasch das Gesicht ab. »Ich dachte nur, ich hätte jemanden wiedererkannt.«
»Vielleicht deinen Bruder?«, schlage ich vor.
Mae knetet nervös ihre Finger. Ihre Adern zeichnen sich ungewöhnlich deutlich unter ihrer gebräunten Haut ab – und sie sind nicht blau oder violett, sondern von einer gleißenden weiß-gelben Farbe, die mich an geschmolzenes Metall erinnert.
»Es ist alles gut.« Isabel greift nach Maes Hand und schenkt ihr ein aufmunterndes Lächeln. »Du wirst heute nicht brennen. Nicht, solange ich da bin.«
»Du kannst den Fluch unterdrücken?«, frage ich.
Isabel schüttelt den Kopf. »Ich mache gar nichts. Die Magie kommt aus mir raus und sie ist wie ... wie eine Klaviermelodie, die euch beruhigt, obwohl ihr sie nicht hören könnt.« Ihr Blick wird glasig, als würde sie in Gedanken nach einer besseren Erklärung suchen. »Die Magie hat euch bestraft, aber sie ist auch das Einzige, das euch retten kann. Und sie will euch retten. Ich weiß es.«
»Woher?«
»Sie hat es mir gesagt.« Isabel klingt verlegen.
»Die Magie redet mit dir?«, hake ich nach.
»Wie schon gesagt ... sie ist lebendig.«
»Hey!« Adelines Stimme schneidet wie ein Sägeblatt durch die gedämpfte Geräuschkulisse im Innern der Halle.
Mein Kopf schnellt in die Höhe. Ich entdecke Adeline am Durchgang zu den Hinterzimmern. Sie winkt uns zu sich. Wir tauschen nervöse Blicke und Isabel fasst Maes Hand fester.
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