44) Salz des Unabari
Wenig später sitze ich mit Étienne, Isabel, Adeline und Mae in unserer verbliebenen Voiturette.
Während Étienne und seine Tochter »Adlerauge und Blindfisch« spielen, mache ich mir auf einem Schreibblock, den ich aus dem Anwesen mitgenommen habe, Notizen. Nicht für mich, sondern für Seymour. Ich schreibe alles auf, was ich in seinem Traum gesehen habe und auch, wie ich das Gesehene auf Basis meiner Erfahrungen interpretieren würde.
Einige der Menschen, die mir in seiner Traumwelt begegnet sind, halte ich für seine Familie. Ich glaube, Seymour ist im Norden Ostragons oder irgendwo in Westragon aufgewachsen – jedenfalls an einem Ort mit Bergen und viel Schnee in den Wintermonaten. Er muss eine liebevolle Familie gehabt haben. Ich erinnere mich an eine Frau, die seine Mutter gewesen sein könnte, an einen Großvater und mehrere hellblonde Geschwister, die einander wie ein Ei dem anderen glichen. Sie alle wurden von der Finsternis verschlungen. Ich beschreibe sie so gut ich kann, in der Hoffnung, Seymour damit etwas Trost zu spenden.
Als ich mit meinen Beschreibungen zu den Kindern komme, durchfährt es mich wie ein Blitz. »Adeline!«
Adeline, die am Steuer der Voiturette sitzt und den Wagen geschickt über die schlammigen Feldwege lenkt, wirft einen misstrauischen Blick über ihre Schulter. »Was gibt's?«
»Andreas Kinder. Was ist aus ihnen geworden?«
»Madame Feige hatte keine Kinder«, antwortet Adeline, während sie die Voiturette um einen Baumstamm steuert, den der Taifun entwurzelt und auf die Straße geworfen haben muss.
»Aber die Fotografien in der Diele ...«
»Bei den Kindern auf den Fotografien handelt es sich wohl um ihre beiden Neffen«, erklärt Adeline. »Laut meiner Kontakte beim Corps waren die beiden gestern gar nicht bei ihr, sondern bei ihrer Mutter.«
Ich atme langgezogen aus. Natürlich bin ich erleichtert darüber, dass die beiden Jungen wohlauf sind. Gleichzeitig wird mir bewusst, dass Faucon mich hereingelegt hat. Er muss gewusst haben, dass keine Kinder im Haus waren. Und ich habe mich von ihm über den Tisch ziehen lassen. Nein, eigentlich habe ich mich selbst über den Tisch gezogen.
Diese Erkenntnis versetzt meiner Hochstimmung einen ordentlichen Dämpfer. Ich frage mich, ob ich den Capitaine falsch eingeschätzt habe. Hatte er wirklich Zweifel oder habe ich mir das bloß eingebildet? Und selbst wenn er Zweifel hatte ... wird ihn das davon abhalten, uns weiterhin zu verfolgen?
Es ist vielleicht schwer nachzuvollziehen, aber in diesem Moment wünsche ich mir, ihn drücken zu können. Ich will ihn nicht wirklich drücken (allein der Gedanke, ihm so nahe zu sein, widert mich an), aber wenn ich ihn drücken würde, wüsste ich danach mit Sicherheit mehr über ihn und seine Motive. Vielleicht sogar mehr als er selbst.
»Du, Isabel ...?«
Isabel, die inzwischen zum sechzehnten Mal in Folge ihren Titel als Adlerauge verteidigt und Étienne zum König der Blindfische degradiert hat, lächelt mich an. »Ja?«
»Können Elfen träumen?«
Isabel nickt. »Jeder träumt doch, oder?«
»Ich nicht«, erwiderte ich.
»Wirklich nicht?«, fragt Étienne.
»Nein.«
Isabel legt mir die Hand aufs Bein und sieht mich mit einer Ernsthaftigkeit an, die nicht zu ihrem äußeren Alter passt. »Das ist nicht gut, Betty.«
Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll.
»Vielleicht vergisst du bloß wieder, was du träumst«, schlägt Étienne vor.
»Nein. Das ist es nicht.«
»Oder du unterdrückst deine Träume. Ist sowas möglich?«
»Ich glaube nicht.«
»In Kasai sagen wir, dass Träume das Salz des Unabari sind«, bemerkt Mae.
»Was ist der Unabari?«
»Der endlose Ozean des Todes, in den wir jede Nacht eintauchen«, erläutert Étienne, der kaum neben Isabel und mich auf die schmale Rückbank der Voiturette passt. »Laut dem Joutan – der traditionellen Joumin-Religion – sterben wir im Schlaf und werden beim Aufwachen neu geboren.«
»Das heißt, mein Unabari ist eher ein Süßwasser-See?«, frage ich verwirrt.
Étienne lacht.
Isabel drückt mein Bein. »Vielleicht willst du nicht träumen.«
Dagegen kann ich nichts einwenden. Wenn ich ganz ehrlich bin, war ich immer froh darüber, nicht träumen zu können. Bei allem, was ich in meinem Leben schon in den Träumen anderer Menschen gesehen habe, ist es eine Erleichterung, nicht auch noch im Schlaf von bunten Bildern, verdrängten Erinnerungen und absurden Fantasieszenarien verfolgt zu werden.
Je näher wir Tournesol kommen, desto deutlicher wird die Zerstörung, die der Taifun hinterlassen hat. Umgeknickte Bäume, umgerissene Funkmasten und abgedeckte Dächer, so weit das Auge reicht. Nicht nur das Fernsprecher-System, sondern auch weite Teile des Gasnetzes sind zusammengebrochen. Auf den Straßen liegen Glasscherben, Trümmer, Handzettel, Zweige und Blätter. Es sieht aus, als wäre eine wilde Meute durch die Gassen der Stadt gezogen. Wir kommen an Gebäuden mit kaputten Fensterscheiben und abgerissenen Markisen vorbei. Manche Straßen sind unbefahrbar. Die Straßenbahn rührt sich nicht mehr – und auch der Zugverkehr ist eingestellt. Unten an der Küste müssen die Zustände jedoch noch viel verheerender sein. Jedenfalls schließe ich das aus den Gesprächsfetzen, die ich auf unserem Weg durch die Stadt aufschnappe.
In der Nähe des Parlaments hält Adeline kurz an, um Étienne aussteigen zu lassen, dann fahren wir in Richtung Klein-Jouyan, bis es nicht mehr weitergeht. Die Gendarmerie hat die Straße gesperrt, weil der Sturm die Fassade eines Reihenhauses abgerissen und die ganze Gegend mit Trümmern übersät hat. Offenbar ist jetzt der ganze Häuserblock einsturzgefährdet.
Die meisten Fahrer und Passanten nehmen die Neuigkeit, dass sie ihr Fahrzeug wenden und den Bereich umgehen oder umfahren müssen, nicht gut auf. Hörner erklingen; es wird geschimpft und geflucht. Ein Mann, der einen Packesel vor sich her treibt, greift einen der Gendarmen mit einem herumliegenden Palmwedel an.
Adeline ignoriert das Chaos, parkt die Voiturette am Straßenrand und hält nach den Jungen Ausschau, die sich für gewöhnlich etwas Handgeld damit verdienen, auf die Fahrzeuge aufzupassen. Heute fehlt von ihnen jede Spur.
»Nun denn«, brummt Adeline und rückt ihren Hut zurecht. »Gehen wir.«
Zu viert bewegen wir uns nach Westen. Dabei wird mir bewusst, dass wir uns Jouyan-Sin diesmal von der anderen Seite aus nähern.
Ich weiß nicht, ob es daran liegt, aber das Stadtviertel hat viel von seiner gestrigen Geschäftigkeit und seinem fremdländischen Charme eingebüßt. Beinahe so, als würden wir uns der wenig ansehnlichen Rückseite eines Gebäudes nähern, die normalerweise nur Handlanger und Dienstboten zu Gesicht bekommen. Im Grunde sieht es hier nicht anders aus als im Rest der Stadt. Der einzige Unterschied sind die Schilder an den Häusern und Straßenecken, die auf Joumon verfasst sind.
Wir durchqueren einen kleinen Park mit einem Goldfischteich und einem Gebetspavillon, der wie eine Reispapierlaterne geformt ist. Die Sonne ist hinter Wolkenschleiern verborgen, aber zumindest sieht es nicht nach einem weiteren Unwetter aus.
Am anderen Ende des Parks, hinter einer Mauer aus blühenden Sanzi-Kiefern, ragt das Joumin-Geldhaus empor. Étienne hat es ‚protzig' genannt, aber ich hätte es eher als ‚geschmacklos' bezeichnet. Die meterhohe Fassade besteht aus hellem Sandstein und ist dermaßen überladen mit Skulpturen, Stuckarbeiten und Fresken, dass ich nicht weiß, wo ich zuerst hinsehen soll. Drachen, mythologische Vögel und andere Fabelwesen bevölkern die Schauseite des Gebäudes und malen dabei ein derart überzeichnetes Bild der Joumin-Kultur, dass es mir regelrecht unangenehm ist. Der Baustil erinnert mich eher an ostragonische Schlösser aus dem letzten Jahrhundert als an das ferne Land hinter den Teppichbergen. Es sieht aus, als hätte Bo Haru-Sin den Stil des ragonischen Hochadels zu kopieren versucht und es dabei gewaltig übertrieben.
Was beim Näherkommen jedoch sofort meine Aufmerksamkeit auf sich zieht, sind die schwarzen Brandspuren und die zersprungenen Fenster an der Westseite des Gebäudes. Vermutlich hängen sie mit dem gestrigen Anschlag zusammen. In Anbetracht des Knalls und der enormen Rauchentwicklung hätte ich deutlich mehr Zerstörung erwartet.
Als wir uns der großen Treppe nähern, die zum Eingangsportal des Geldhauses hinaufführt, bleibt Mae ganz plötzlich stehen. Sie sieht aus wie ein Pferd, das vor einem Hindernis scheut und nicht weitergehen will. Ihre sonst so aufrechte und anmutige Haltung scheint einen Knick zu bekommen. Sie beißt sich auf die Unterlippe und späht zu den Fantasiewesen an der Fassade hinauf, als würde sie befürchten, die steinernen Geschöpfe könnten von dort oben auf sie herunterfallen.
Ich bleibe ebenfalls stehen. »Alles in Ordnung?«
Mae fasst sich mit einer Hand an den Hals.
Ich spüre ihre Beklemmung, als wäre es meine Eigene. Was haben wir hier vor? Was machen wir hier? Noch gibt es einen Weg zurück. Wir könnten einfach umkehren und das nächste Luftschiff zum Festland nehmen. Und hätte man mir dieses Angebot vor zwei Tagen gemacht, hätte ich es wohl ohne zu zögern angenommen. Doch jetzt will ich kämpfen. Ich will Faucon aufhalten und herausfinden, wieso Narcisse und Andrea sterben mussten.
Isabel nimmt Maes Hand. »Es wird nichts passieren«, sagt sie mit einer solchen Gewissheit, dass es ihre fleischliche Hülle überstrahlt. Sie hat sich eine rote Mütze übergezogen, um ihre elfische Natur zu verstecken, doch kein Mensch könnte diese vier Worte mit einer solchen Überzeugung aussprechen. Vielleicht liegt das am Unabari – am Wissen, dass wir irgendwann sterben müssen. Nur Kreaturen, für die der Tod keine Gewissheit, sondern bloß eine Möglichkeit ist, können derart überzeugt davon sein, dass nichts Schlimmes geschehen wird.
Mae atmet noch einmal tief durch, dann streift sie Isabels Hand ab und setzt sich wieder in Bewegung. Adeline und ich folgen ihr.
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