42) Drücken und gedrückt werden

In dieser Nacht warte ich, bis Seymour eingeschlafen ist, dann schleiche ich mich in sein Zimmer und mache mich ans Werk.

Es ist ein komisches Gefühl, jemanden zu drücken, mit dem ich auch in Zukunft befreundet sein will. Normalerweise sehe ich die Menschen, die ich drücke, danach nicht wieder (von meinen Kunden mal abgesehen). Gleichzeitig bin ich von Seymours Vertrauen gerührt. Vielleicht habe ich ihm Unrecht getan. Vielleicht hält er viel mehr von mir und meinen Fähigkeiten, als ich geglaubt habe. Auf jeden Fall will ich ihm beweisen, dass er sich auf mich verlassen kann.

Seymours Albtraum ist eigentlich nichts Außergewöhnliches. Er handelt von verschiedenen Menschen, die er in der Vergangenheit gekannt haben muss, und davon, wie sie vor seinen Augen in eine pechschwarze Finsternis gesaugt werden. Wäre er bloß ein gewöhnlicher Mann, hätte ich mir wahrscheinlich nichts dabei gedacht (jeder von uns kämpft wohl hin und wieder mit Verlustängsten), aber weil ich über seinen Nienich-Fluch Bescheid weiß, hinterlässt sein Traum ein schreckliches Gefühl von Kummer und Einsamkeit. Empfindungen, die mir nicht fremd sind, aber wenigstens weiß ich, was ich verloren habe, und kann mich an den schönen Erinnerungen festklammern, während Seymour mit der ständigen Ungewissheit leben muss.

Ich gebe mir große Mühe, mir jedes Detail seines Traumes so genau wie möglich einzuprägen, damit ich Seymour am nächsten Morgen davon berichten kann, dann verlasse ich sein Zimmer, schüttele meine Drudengestalt ab und suche nach Étienne.

Mein Gastgeber ist noch genau dort, wo Seymour und ich ihn zurückgelassen haben.

Sichtlich erschöpft lehnt er im Ohrensessel am Kamin und starrt geistesabwesend in die Flammen. Seine Miene ist grimmig, aber sein Gesicht hat wieder etwas Farbe bekommen und er wirkt nicht mehr ganz so niedergeschlagen wie zuvor.

»Étienne?«, frage ich.

 Étienne blinzelt. »Ja?«

Vorsichtig betrete ich das Zimmer.

Bevor ich zu Seymour gegangen bin, habe ich mich umgezogen. Jetzt trage ich ein einfaches, hellblaues Hauskleid mit aufgenähten Taschen und einer weißen Schürze. Nichts, was ich typischerweise anziehen würde, aber ich mag die Schlichtheit.

»Betty ...«, murmelt Étienne. Für einen kurzen Moment erhellt sich seine Miene, dann scheint er wieder in düsteren Gedanken zu versinken. »Es tut mir leid, Betty, aber ich glaube, ich wäre jetzt lieber alleine.«

»Ich weiß«, erwidere ich und gehe zum Fenster. Von hier aus kann ich auf die Bucht hinuntersehen, doch es ist zu dunkel, um mehr als die gezackten Konturen der Felsen auszumachen. »Aber als ich mich in mein Hotelzimmer eingeschlossen hatte, bist du auch nicht weggegangen. Weißt du noch?«

Étienne seufzt. »Natürlich weiß ich das noch, aber das hier ist-«

»Was?«, unterbreche ich ihn, ohne die Stimme zu erheben. »Etwas anderes?«

Ich wende mich vom Fenster ab und sehe mich nach Étienne um, der die Hände öffnet und schließt, als hätte er das Gefühl in den Fingern verloren.

»Was heute passiert ist ...«, sagt er langsam.

»Das ist passiert«, vollende ich seinen Satz.

Étienne schüttelt den Kopf. »... das hätte nie passieren dürfen.«

»Stimmt. Aber in Selbstmitleid zu zerfließen, wird es nicht ungeschehen machen.«

»Ich zerfließe nicht in Selbstmitleid«, protestiert Étienne.

»Oh, doch. Und wie.« Ich verlasse meine Position am Fenster und nähere mich Étienne, der gekränkt den Blick abwendet. »Und ich will es dir auch gar nicht ausreden«, ergänze ich schnell. »Du kannst dich gerne selbst geißeln. Ich meine, dieser gequälte-Helden-Typus ist schon irgendwie reizvoll. Bei Rémy Matisse funktioniert die Nummer bereits seit Jahren – und der Kerl hat keinen Fluch, sondern nur eine verkorkste Kindheit vorzuweisen.«

»Reizvoll?«, fragt Étienne.

Ich lege den Kopf schief, um ihn aus einer anderen Perspektive zu betrachten. »Ja ... ja, warum nicht? Der tragische Protagonist, der von seinen inneren Trieben überwältigt wird. Ja, das hat etwas. Wie ein westragonisches Märchen.«

Étienne runzelt zweifelnd die Stirn. »Ich wäre ein wirklich mieser Märchenprinz.«

»Das ist deine Meinung«, gebe ich zurück. »Ich persönlich finde die Kombination aus Prinz und Rinderzüchter gar nicht so übel.«

An dieser Stelle muss Étienne widerwillig schmunzeln. Er hebt die Hand an den Mund, um es zu verstecken.

»Étienne Romarin, der royale Rinderzüchter. Das hat doch einen schönen Klang, oder nicht?«

»Betty, bitte ...«

»Was? Soll ich aufhören?«, frage ich und schnappe mir eine Praline aus der bereitstehenden Schüssel. »Das musst du schon deutlicher formulieren. Ich bin nämlich wirklich schlecht im Auffangen subtiler Signale.«

Langsam und genüsslich schiebe ich mir die Praline in den Mund.

Étienne lässt mich nicht aus den Augen. Seine Miene wird immer finsterer, bis sie sich schließlich ganz plötzlich aufklärt. »Na schön, du hast gewonnen.«

»Wirklich?«, erwidere ich spöttisch. »Und was ist mein Preis?«

»Was hättest du denn gerne?«

»Mal sehen ...« Ich klettere über die Schüssel und das Teeservice hinweg und krabbele auf Étiennes Schoß. Es dauert ein bisschen, bis wir unsere Glieder sortiert und eine bequeme Sitzposition gefunden haben. Behutsam fahre ich Étienne mit den Fingern durch die verschwitzten Haare. »Kommt darauf an, was du zu bieten hast ...«

Étienne schlingt die Arme um mich. »Lass mich nachdenken ...« Er beißt sich auf die Zungenspitze und zieht eine Grimasse. »Tut mir leid, aber heute habe ich bloß verletzte Menschen und zerstörtes Eigentum zu bieten.«

Ich lege die Hand an seine stoppelige Wange. »Das und ein hübsches Gesicht, ein großes Herz, wundervolle Freunde und die Aussicht darauf, das Leben vieler Verfluchter entscheidend zu verbessern.«

»Mir scheint es eher, als wäre ich davon so weit entfernt, wie man nur sein kann«, murmelt Étienne.

»Wir werden Faucon damit nicht durchkommen lassen. Weder mit den Morden an Narcisse und Andrea, noch mit den Morden an Unseresgleichen.«

»Und was willst du gegen ihn ausrichten? Du hast doch gesehen, wozu er fähig ist.«

»Mag sein, aber Seymour und ich haben einen Plan.«

Das ist natürlich eine ziemliche Übertreibung. Seymour und ich haben höchstens etwas, das mit viel Fantasie der Bruchteil eines Plans sein könnte, aber irgendwo müssen wir anfangen. Und wenn wir herausfinden, was es mit dieser Maschine auf sich hat, finden wir vielleicht auch heraus, wieso Faucon Jagd auf alle macht, die davon wissen. Möglicherweise finden wir sogar etwas über den Ursprung unserer Flüche heraus. Alles in allem bin ich in diesem Moment so motiviert, wie man nur sein kann. Denn anders als Étienne sehe ich nicht nur, zu was Faucon fähig ist, sondern auch, zu was er nicht fähig ist. Und ich habe ihn zweifeln gesehen.

»Was Faucon über dich gesagt hat«, beginnt Étienne. Dabei legt er die Hand auf meinen Oberschenkel, um zu verhindern, dass ich ihm vom Schoß rutsche. »War das die Wahrheit?«

Ich lasse seine Wange los und vergrabe mein Gesicht an seinem Hals.

Über meine Vergangenheit zu sprechen, ist so ziemlich das Letzte, was ich jetzt will – vor allem, so kurz, nachdem ich Seymour gedrückt habe – aber ich kann Étienne in seinem derzeitigen Zustand auch keinen Wunsch abschlagen.

»Ja, war es«, seufze ich. »Mein richtiger Name ist Elisabeth Potiron.«

»Und du bist mit sechzehn von zuhause weggelaufen?«

»Hmhm«, mache ich.

»Weil du jemanden getötet hast?«

»Nein.« Ich schüttele den Kopf.

»Aber Faucon hat gesagt, dass jemand gestorben wäre.«

»Das war aber nicht meine Schuld«, erwidere ich. »Ich habe ihn nicht umgebracht. Er ist einfach so im Schlaf gestorben.«

»Während du ihn gedrückt hast?«

»Ich war nicht einmal in der Nähe, als das passiert ist.«

»Wieso bist du dann von zuhause weg?«

»Weil wir in einem Dorf gewohnt haben«, antworte ich. »Das bedeutet, es hat nicht viele Menschen gegeben, die ich drücken konnte. Manchmal haben Reisende im Gasthaus meiner Eltern übernachtet. Das waren gute Nächte. Aber meistens musste ich Freunde oder Nachbarn drücken.«

»Ich nehme an, das hat sich rumgesprochen«, vermutet Étienne. Irgendwie hat er es mal wieder geschafft, das Thema von sich wegzulenken.

»Bald hieß es, unser Dorf wäre verflucht. Ein gefährlicher Nachtalb würde umgehen ... und lauter so Blödsinn.« Ich atmete tief durch, um gegen die Beklemmung in meiner Brust anzukämpfen. »Sie haben eine Bürgerwehr gebildet und Jagd auf mich gemacht. Und als dann dieser Mann gestorben ist, wurde es richtig schlimm. Da habe ich es nicht mehr ausgehalten und bin geflohen.«

»Mit sechzehn«, murmelt Étienne.

»Es war nicht leicht, aber es war auch nicht so schlimm, wie Faucon angedeutet hat. Und um das ganz klarzustellen: Ich habe mich nie irgendwelchen Männern anbieten müssen, um über die Runden zu kommen.«

Statt einen dummen Witz über meinen Beruf zu machen, zieht Étienne mich an sich. »Denk nicht, dass ich deswegen schlechter von dir denken würde.« Er küsst mich auf den Scheitel. »Wie Faucon gesagt hat: Wir mussten alle schon Dinge tun, auf die wir rückblickend nicht stolz sind.«

»Denkst du, Faucon hat diesbezüglich aus Erfahrung gesprochen?«

Étienne runzelt die Stirn. »Hältst du das für möglich? Er sieht nicht aus wie jemand, der mit seinem Körper viel Geld verdienen könnte. Aber was weiß ich schon?«

Den Scherz ignoriere ich. »Ich frage mich bloß, was ihn antreibt«, murmele ich stattdessen, während ich gedankenverloren mit dem Finger die Formen von Étiennes Brust nachfahre. »Und ob er die Wahrheit gesagt hat, als er behauptet hat, sich den Menschen mehr verbunden zu fühlen als den Elfen.«

»Spielt das denn eine Rolle?«, fragt Étienne.

Ich antworte mit einer Gegenfrage: »Bist du nicht derjenige von uns beiden, der an das Gute in den Elfen glaubt?«

»Touché.«

»Natürlich kann das nicht verzeihen, was er getan hat«, schiebe ich hinterher, während ich mir die Szene am Nachmittag noch einmal durch den Kopf gehen lasse. Ich hasse Faucon für das, was er Narcisse und Andrea angetan hat. Wenn ich die Kraft oder Gelegenheit hätte, ihn zu töten, würde ich es ohne zu zögern tun. Und trotzdem ... ich habe ihn zweifeln gesehen. Einen Mann, der – laut Seymour – nicht wie jemand wirkt, der zum Zweifeln neigt.

Faucon hat gesagt, dass Narcisse auf Fehlinformationen hereingefallen wäre, aber vielleicht ist er derjenige, der betrogen wurde.

»Was ist?« Étiennes Hand wandert über meine Schulter zu meinem Gesicht. »Du hast wieder diesen traurigen Gesichtsausdruck.«

Ich schüttele die Gedanken an Faucon ab. »Welchen?«

»Wie heute Morgen, als wir nach Tournesol gefahren sind«, sagt Étienne.

»Ach das ... das war was Anderes.«

Étienne nimmt meinen Kopf in seine große, warme Hand und streichelt mit dem Daumen über meine Wange. Die Berührung wandert wie ein elektrischer Funkenschlag durch meinen ganzen Körper. »Hast du an deine Familie gedacht?«

»Nein«, antworte ich. »Das ist nur so eine blöde Sache ...«, ergänze ich und versuche, das Thema herunterzuspielen. »Hin und wieder werde ich einfach grundlos traurig. Das hat nichts zu bedeuten.«

Als wollten meine Sinne mich verspotten, mischt sich der Geruch von Orangen unter die beruhigenden Düfte, die vom Kaminfeuer und von Étiennes Körper ausgehen. Weil ich den damit aufkeimenden Gefühlen nicht nachgeben will, zwänge ich meine Beine links und rechts von Étiennes Hüfte in den Sessel, setze mich aufrecht hin und küsse ihn fest auf den Mund.

Étienne wirkt im ersten Moment ein wenig überrumpelt, aber dann gibt er meinem Drängen nach. Mehr noch. Er küsst mich so gierig, dass das Kaminzimmer um mich herum verschwimmt. Ich klammere mich an ihn, strecke den Rücken durch und presse meinen Körper gegen seinen. Unsere Münder verschmelzen miteinander, so tief und innig, dass ich mir für einige Sekunden schmerzhaft unvollständig vorkomme, als wir uns schweratmend wieder voneinander lösen.

Mit einer gewissen Befriedigung nehme ich wahr, dass Étiennes Gesicht seinen gesunden Farbton zurückbekommen hat. Seine Lippen sind gerötet und seine dunklen Augen betrachten mich mit einem bewundernden Ausdruck, der mein Herz schneller schlagen lässt und meine Gefühle für ihn weiter anfacht. Er sieht aus, als könnte er nicht glauben, dass ich tatsächlich existiere. Sein Daumen wandert von meiner Wange zu meinen Lippen, während seine andere Hand die Kurve meines Rückens entlangfährt und sich um meinen Po legt.

Jede flüchtige Berührung erzeugt in meinem Innern ein umso lauteres Echo. Ich spüre Étiennes Körper zwischen meinen Schenkel und die Hitze, die sich in meinem Schoß sammelt. Das Kaminzimmer - und damit auch die Realität – scheinen sich immer weiter von uns zu entfernen. Alle meine Sinne konzentrieren sich auf die Körperstellen, an denen Étienne und ich uns berühren. Seine Finger krallen sich in den Stoff meines Rocks und in die Pobacke darunter. Ich gebe ein leises Geräusch von mir, das ihm zu gefallen scheint. Das kann ich ihm nicht nur am Zucken seiner Mundwinkel ablesen, sondern auch zwischen meinen Beinen spüren. Die Hitze pulsiert in meinem Unterleib und ich sehne mich danach, ihr Erlösung zu verschaffen. Und ich habe die nicht ganz unbegründete Vermutung, dass es Étienne genauso ergeht.

Trotzdem bedenkt er mich mit einem tadelnden Blick und schnalzt missbilligend mit der Zunge. »Kann es sein, dass du vom Thema ablenken willst, Betty?«

Ich schlinge die Arme um seinen Hals und spielen mit den weichen Haaren an seinem Nacken. »Funktioniert es denn?«

»Natürlich nicht«, erwidert Étienne mit einem selbstgefälligen Lächeln. »Ich bin ein Musterbeispiel an Charakterstärke und Disziplin.«

Ich verändere meine Sitzposition und reibe meine Hüfte an ihm. »Ach ja?«

Étiennes Lächeln wird starrer. »Ich ... also ...«

»Ja?«

Étienne atmet tief durch, schüttelt sich kurz und sieht mir fest in die Augen. »Wenn du das nächste Mal grundlos traurig wirst, sagst du mir Bescheid.«

Es kostet mich große Mühe, in meiner verführerischen Rolle zu bleiben. Dass Étienne sogar in diesem Moment an meine Gefühle denkt, erfüllt mich mit einer starken, liebevollen Zuneigung. Ich kann es nicht verleugnen: Ich habe Étienne so gern, dass es mir das Herz zerreißt, und mit jeder Stunde, die ich in seiner Gesellschaft verbringe, empfinde ich mehr für ihn.

»Ach, Étienne«, murmele ich und senke den Kopf.

Étienne schmunzelt. »Was ist?«

Mir steigen die Tränen in die Augenwinkel. Mit Gewalt dränge ich sie zurück.

Étiennes Hände fahren an meinen Schenkeln entlang und suchen sich einen Weg unter meinen Rock. »Was ist los, Betty?«

»Nichts.« Ich sehe wieder zu ihm auf. Mein Körper erbebt unter seinen Berührungen und mein Verlangen nach ihm ist so stark, dass ich nicht mehr richtig denken kann. »Willst du jetzt mit mir schlafen, oder nicht?«

Étienne sieht mich entgeistert an. »Ich habe ein Mitspracherecht?«

Es dauert einen Moment, bis ich bemerke, dass er sich einen Scherz erlaubt. »Verdammt, Étienne«, knurre ich und strecke mich nach seinen Lippen.

Étienne erwidert meinen Kuss lachend.


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