41) In Vergessenheit
Im Haus brauche ich eine Weile, bis ich die Küche gefunden habe. Dort ist Mae bereits dabei, Tee aufzubrühen und Pralinen aus ihrer Verpackung zu schälen.
Ich lasse meinen Blick über die Arbeitsflächen, Regale und Schränke wandern. Sie sind in einem bäuerlichen, rustikalen Stil gehalten und umgeben einen altmodischen, gemauerten Feuerofen, auf dem irgendetwas Unidentifizierbares vor sich hin köchelt.
Nach kurzem Zögern wende ich mich dem großen Buffetschrank zu, öffne die oberen Fächer und stelle mich auf die Zehenspitzen, um die Tinktur zu holen, die Adeline erwähnt hat. Dabei handelt es sich um ein schmales, unauffälliges Fläschchen aus braunem Glas. Neugierig schraube ich den Deckel ab und schnuppere daran. Schon im nächsten Moment wünsche ich mir, ich hätte es nicht getan. Der beißende Geruch treibt mir die Tränen in die Augen.
»Was ist das?«
»Ein Jingsu-Derivat«, antwortet Mae, die meine Anwesenheit bis dahin geflissentlich ignoriert hat. »Zum Schlafen und gegen die Schmerzen.«
»Ist das eine gute Idee?«, erwidere ich.
In meinem Beruf bin ich schon oft Menschen begegnet, die ihre Schlafprobleme mit derartigen Substanzen bekämpfen wollten und sich damit nur noch mehr Probleme eingehandelt haben. Ich weiß, wie zerstörerisch eine Jingsu-Abhängigkeit sein kann. Sie zerfrisst den Körper und den Geist, entzweit Familien und Freundschaften und führt meist zu einem sehr unschönen Ende.
Mae antwortet nicht.
Ich kann ihre Ablehnung spüren. Automatisch frage ich mich, ob ich ihr etwas getan habe oder ob sie mich aus denselben Gründen nicht im Haus haben will wie Seymour. Vielleicht ist sie aber auch eifersüchtig auf meine Beziehung zu Étienne (wenn man es denn so nennen mag).
»Mae, ich-«
Bevor ich weiterreden kann, hat sie sich schon die Teekanne und die Schüssel mit den Pralinen geschnappt und verschwindet mit wehendem Seidenkaftan zur Tür hinaus.
Ich folge ihr. »Mae, es tut mir leid, wenn ich irgendwas gemacht habe, um dich zu verärgern.«
Mae gleitet wie eine Geistererscheinung durch das Haus und mir bleibt nichts anderes übrig, als ihr nachzulaufen.
Stimmen führen uns durch die Bibliothek ins Kaminzimmer. Dort haben Seymour, Adeline und Theo den erschöpften Étienne im Sessel vor der Feuerstelle abgeladen.
»Er wollte nicht ins Bett«, erklärt Seymour. Es klingt vorwurfsvoll, was ich verstehen kann, denn Étienne sieht aus wie jemand, der im Bett liegen sollte. Aber natürlich wäre es zu kompliziert, ihn gegen seinen Willen die Treppe hochzutragen. Selbst im angeschlagenen Zustand ist er noch zu groß und zu schwer, um ihn zu irgendetwas zu zwingen.
Adeline kommt aus dem Nebenraum und schleppt mehrere Decken herein.
Ich stelle das Fläschchen auf dem Kaminsims ab und helfe ihr dabei, Étienne zuzudecken. Derweil facht Theo das Kaminfeuer an, bis die Flammen gegen den eisernen Rost schlagen.
Im zuckenden Feuerschein wirkt Étienne noch blasser und kränker als draußen in der Dunkelheit. Sein Gesicht ist bleich, seine Augen von violetten Schatten umgeben, seine Haut wächsern und kaltschweißig.
»Hab ich ...?«, fragt er mit einer Miene, als würde ihm jedes Wort Schmerzen bereiten. »Hab ich wen umgebracht?«
»Ach, hör schon auf«, brummt Adeline, während sie sich von Mae eine Teetasse reichen lässt und sie Étienne an die Lippen setzen will.
Étienne hebt abwehrend den Arm und schlägt ihr dabei die Tasse aus der Hand. »Sag es mir!« Seine Augen glänzen fiebrig und seine Stimme klingt heiser und brüchig.
Adeline scheint innerlich zu seufzen. »Nein, Étienne, du hast niemanden umgebracht.«
»Aber?«, schnappt Étienne. Als Adeline nicht sofort antwortet, ergänzt er: »Und erspar mir die Beschönigungen.«
»Ich bin wohl kaum die Richtige, um Dinge schönzureden«, erwidert Adeline. Um ihre Lippen haben sich viele kleine Fältchen gebildet. »Es hat einige Schwerverletzte gegeben. Und natürlich jede Menge Sachschäden.«
Étienne scheint im Sessel noch etwas weiter in sich zusammenzusinken. Ihn so kraftlos und niedergeschlagen zu sehen, tut mir in der Seele weh.
»Nimm es dir nicht so zu Herzen«, sagt Seymour. »Was passiert ist, war schließlich nicht deine Absicht.«
»Welche Rolle spielt das?«, murmelt Étienne. »Ich hab vielleicht die Leben dieser Menschen zerstört.«
»Es spielt eine Rolle«, hält Adeline dagegen. »Du bist nicht schuld daran, dass diese Menschen verletzt worden sind.«
»Natürlich bin ich das.«
»Red nicht so einen verschissenen Unfug!«
»Du bist diejenige, die verschissenen Unfug redet.«
»Ach ja?« Adeline geht zum Kamin und stochert mit dem Schürhaken zwischen den Holzscheiten herum. »Ich sage dir nur, was du damals zu mir gesagt hast. Willst du mir jetzt etwa verkaufen, dass das gelogen war?«
Étienne zögert. »Nein ...«
»Nein«, wiederholt Adeline. »Du hast mir deine ehrliche Meinung gesagt – und jetzt sage ich dir meine ehrliche Meinung.« Sie richtet sich wieder auf und deutet mit dem Schürhaken auf Étienne, als wollte sie ihn zum Duell herausfordern. »Du hast diese Menschen vielleicht verletzt, aber du bist nicht Schuld daran, was mit ihnen passiert ist. Niemand von uns ist für das verantwortlich, was der Fluch mit uns macht.« Sie deutet mit einer weit ausholenden Geste durch den Raum. »Niemand von uns! Das hast du uns von Anfang an immer wieder gepredigt. Und wir haben dir geglaubt. Jetzt ist es an der Zeit, dass du uns zuhörst. Und du wirst uns ebenfalls glauben, weil es verdammt nochmal die verfluchte Wahrheit ist.«
Étienne scheint mit jedem ihrer Worte kleiner zu werden.
Ich kann den Drang, ihn in den Arm zu nehmen, ihn ganz festzuhalten und ihm zu sagen, wie gerne ich ihn habe und dass ich vollkommen Adelines Meinung bin, kaum noch unterdrücken.
Seymour scheint meine Gefühlslage zu spüren, denn er umrundet den Sessel, berührt mich am Arm und bedeutet mir, ihm zu folgen.
»Du kannst später zu ihm gehen«, sagt er, als wir draußen im Flur stehen. »Lass die beiden das erst einmal ausdiskutieren.«
Ich verschränke die Finger ineinander und nicke.
Seymour setzt sich in Bewegung. »In der Zwischenzeit kannst du vielleicht etwas für mich tun.«
»Für dich?« Ich raffe meinen durchnässten Rock zusammen und gehe ihm nach.
»Würdest du lieber nicht?«
»Na ja ...« Eigentlich will ich bei Étienne sein. »Ich hatte bisher nicht den Eindruck, dass du großen Wert auf meine Mithilfe legen würdest. Genau wie Mae.«
»Mae ist schüchtern.«
»Das mag sein, aber es steckt mehr dahinter, oder?«
»Mae vertraut anderen Menschen nicht. Würdest du auch nicht, wenn du das durchgemacht hättest, was sie durchgemacht hat.«
Ich denke an die Hashouti. Wenn Mae von ihrem eigenen Vater zu einem derart grausamen Ritual gezwungen wurde, hat sie wohl allen Grund, der Menschheit zu misstrauen. Womöglich muss ich einfach geduldiger sein.
Normalerweise stört es mich auch nicht, wenn andere Menschen mich nicht auf den ersten Blick ins Herz schließen, doch irgendetwas ist diesmal anders. Ich will unbedingt, dass Étiennes Freunde mich mögen. Vielleicht, weil ich spüre, wie hoch ihr Stellenwert in Étiennes Leben ist.
»Na gut«, lenke ich ein, während ich Seymour durch zahlreiche Flure und Korridore in einen Teil des Anwesens folge, der etwas herrschaftlicher wirkt als der Rest des Gebäudes. Die Wände sind ordentlich tapeziert und der Dielenboden glänzt wie frisch gebohnert. »Was soll ich denn für dich tun?«
»Eigentlich ist es etwas, das uns beiden dient«, antwortet Seymour. »Und da es etwas dauern kann, bis Adeline mit Étienne fertig ist ...«
»Aber was ist mit Faucon?«, entgegne ich. »Sollten wir uns nicht um ihn kümmern? Er darf schließlich nicht mit noch einem Mord davonkommen. Oder mit dem, was er Étienne angetan hat.«
»Und was schlägst du vor?«
»Ich weiß nicht. Vielleicht ... wir müssen die Beweise finden, von denen er gesprochen hat.«
»Dann glaubst du noch immer, dass diese magische Maschine existiert?«, fragt Seymour. »Und daran, dass die Menschen sie gegen die Elfen eingesetzt haben?«
»Ja, das glaube ich.«
»Nach allem, was du uns erzählt hast, scheint Faucon diese Geschichte für ein Märchen zu halten.«
»Er hatte Zweifel.«
Seymour wirft einen Blick über seine Schulter. »Der Capitaine wirkt auf mich nicht wie ein Mann, der zweifelt.«
»Aber er hat gezweifelt«, halte ich dagegen. »Ich habe es ihm angesehen. Als ich ihm von Narcisse' Traum erzählt habe, hat er Zweifel bekommen.«
Wir gelangen in ein geräumiges Treppenhaus. Am Fuß der Treppe, die sich in immer enger werdenden Vierecken in die Höhe schraubt, stehen zwei Korbsessel und dazwischen eine Standuhr und ein niedriger Tisch, auf dem eine Karte und kompliziert aussehendes Zeichenwerkzeug ausgebreitet liegen.
In diesem Teil des Anwesens ist der Sturm kaum zu hören. Wären nicht die flackernden Gaslampen, würde ich seine Existenz vielleicht vollkommen vergessen.
»Mal angenommen, das wäre tatsächlich der Fall«, sagt Seymour. Seine Stimme hallt durch das Treppenhaus. »Und nehmen wir an, es würde diese Maschine wirklich geben und Narcisse hätte seiner Sekretärin irgendwelche Beweise dafür hinterlassen ... wo sollen wir danach suchen? Wenn sie in ihrem Haus sind, hat er sie bestimmt schon gefunden und vernichtet.«
Ich folge Seymour die Treppe hinauf. »Und was, wenn sie nicht in ihrem Haus sind?«
»Wo sollten sie sonst sein?«
»Keine Ahnung, aber Andrea war sehr nervös, als ich mit ihr telefoniert habe. Fast so, als wüsste sie, dass jemand hinter diesen Beweisen her sein könnte. Also hat sie sie vielleicht irgendwo versteckt. Und sie hat einen Anruf erwartet.«
»Einen Anruf?«, wiederholt Seymour. Unsere schlammverschmutzten Schuhe hinterlassen Spuren auf den Fliesen, während wir hintereinander die Treppe hinaufspringen.
»Möglicherweise können wir herausfinden, von wem sie den Anruf erwartet hat.«
»Das Fernsprecher-System ist wegen des Sturms zusammengebrochen«, überlegt Seymour laut.
»Wir müssen bei der Vermittlung nachfragen, ob bei ihnen nach meinem Anruf noch ein weiterer Anruf für Andrea eingegangen ist.«
»Das klingt ... erstaunlich sinnvoll.«
Etwas verärgert frage ich mich, was Seymour von mir erwartet hat. Offenbar kann er sich noch immer nicht mit dem Gedanken anfreunden, dass ich kein vollkommen verblödetes Landei bin.
Im ersten Stock biegen wir nach links ab und betreten einen schmalen Flur, der zu zwei gegenüberliegenden Zimmern führt.
»Hier wohnen Adeline und ich«, erklärt Seymour und öffnet die Tür auf der rechten Seite. Dahinter erwartet mich ein aufgeräumtes, eher bescheiden eingerichtetes Zimmer mit einem großen Kleiderschrank, einem Pflanzentrog unter dem Fenster, einer Waschecke aus Emaille und einem schmalen Bett, das von zwei Regalen flankiert wird. In den Regalen stehen hunderte von Heftchen aufgereiht, alle fein säuberlich mit einem Datum markiert. Neben der Tür hängt ein Kalender, in dem die bereits vergangenen Tage der Dekade durchgestrichen sind. Daneben befindet sich eine dekorative Komposition aus Namen und Fotografien verschiedener Personen. Gleich in der ersten Reihe entdecke ich Étienne, Adeline, Isabel, Theo und Mae. Außerdem fallen mir sofort die vielen kleinen Notizzettel auf, die überall im Zimmer verteilt hängen und liegen. Ich werfe einen Blick auf den Zettel an der Wand neben dem Waschbecken.
Frühstück gibt es unten im Speiseraum. Wenn die Anderen schon gegessen haben, kannst du in die Küche gehen und dir etwas holen. Isabel isst am liebsten Pfannkuchen mit Sirup. Mae bevorzugt zum Frühstück Teigtaschen mit Honig. Étienne isst sie mit Hackfleisch. Adeline trinkt nur Kaffee (in rauen Mengen). Vergiss nicht, nach Theo zu sehen. Er ist vermutlich ein Baum.
»Was ...?« Ich sehe mich nach Seymour um. »Was hat das zu bedeuten?«
»Kannst du dir das nicht denken?«
Ich lasse meinen Blick erneut durch den Raum schweifen. »Wozu brauchst du diese ganzen Zettel?«
»Ich brauche diese Zettel, weil ich vergesse«, antwortet Seymour.
»Was vergisst du?«
»Alles.« Seymour geht zum Fenster und faltet die Hände auf dem Rücken. »Jedenfalls manchmal. Ich weiß nie, was und wie viel ich am nächsten Morgen vergessen haben werde. Aber die vergangenen Wochen und Monate sind meistens vollkommen ... schwarz.«
»Ist das dein Fluch?«
»Der Nienich-Fluch, ja.«
Ich versuche, mir die Konsequenzen seines Fluchs vorzustellen. »Heißt das, wenn du morgen aufwachst, wirst du nicht mehr wissen, was heute passiert ist?«
»So ist es.« Seymour lächelt verkniffen. »Zugegeben, manchmal ist das ein Segen, aber ...« Sein Blick scheint aus dem Fenster hinauszuwandern und sich unter die Regentropfen zu mischen, die rhythmisch gegen das Glas prasseln. »Ich weiß nicht, was ich in meinem Leben schon alles vergessen habe. Bevor ich Étienne und Isabel begegnet bin, war jeder Tag wie der erste Tag meines Lebens. Ich wusste nie, wer ich bin oder wo ich hingehöre. Ich habe Freunde und Familie vergessen. Ich habe keine Ahnung, wer mich aufgezogen hat oder wo ich aufgewachsen bin. Alles ist eine einzige, gigantische Leere.«
Ich schlucke. »Das muss furchtbar sein ...«
»Vielleicht.« Seymour zuckt mit den Schultern. »Ich weiß es nicht. Woher auch? Die furchtbaren Momente rauschen an mir vorbei, genau wie die schönen oder die unbedeutenden Momente. Aber ...«
An dieser Stelle schweigt Seymour so lange, dass ich die Geduld verliere und nachfrage. »Was aber?«
»Manche Momente hinterlassen ihre Spuren. Nicht, wenn ich wach bin, sondern wenn ich schlafe.«
In diesem Augenblick wird mir alles klar. »Du hast Albträume.«
»Ich habe Träume«, korrigiert Seymour mich. »Und ich will wissen, wovon ich träume.« Er zieht sein Notizbuch aus der Jackentasche und schiebt es zu den anderen in das Regal neben dem Bett. »Jeden Tag mache ich mir Notizen, sodass ich nachlesen kann, was in den vergangenen Tagen und Wochen passiert ist. Doch früher habe ich das nicht gemacht. Früher war mir egal, was mit mir in der Vergangenheit geschehen ist – oder was in der Zukunft mit mir geschehen würde. Alles war mir egal. Aber jetzt würde ich es gerne wissen.« Seymour hält inne und sieht mich an. Aus seiner Miene spricht Unbehagen. »Und vielleicht sind meine Träume der einzige Weg, die Wahrheit herauszufinden. Aus diesem Grund möchte ich, dass du mich drückst.«
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