4) Rundfahrt ins Glück
Am nächsten Morgen landen wir auf dem Lufthafen von Tournesol.
Tournesol ist die größte Stadt auf der Insel Menthe, die südlich von Ostragon mitten im Ellyrischen Ozean liegt. Im Sommer ist es hier deutlich heißer als im Rest des Landes, im Winter deutlich kälter. Aktuell haben wir Herbst, weshalb ich beim Verlassen der Gondel von einer kühlen, salzig schmeckenden Brise empfangen werde.
Der Lufthafen von Tournesol liegt außerhalb der Innenstadt und ist an allen Seiten von Platanen umgeben. Die Bäume haben bereits ihr rotgoldenes Herbstgewand angelegt. Ihr trockenes Laub raschelt leise im Wind. Dahinter sind die Umrisse schmuckloser, sandfarbener Bruchsteinhäuser mit weißen Holzläden und flachen Holzziegeldächern zu erahnen. Die typischen, bunten Keramikfassaden und Reetdächer, die auf vielen berühmten Gemälden der Hafenstadt verewigt sind, suche ich vergebens. Der Himmel ist grau und es liegt ein Hauch von Regen in der Luft.
Während weiter hinten noch Ballast aufgeladen wird und die seitlichen Triebwerke zum Schutz vor der salzhaltigen Luft mit Planen abgedeckt werden, reicht mir ein bereitstehender Stewart die Hand und führt mich über eine Treppe zur Landeplattform hinunter. Dabei lächelt er spöttisch und ich frage mich, ob sich der Umstand, dass ich nach Étiennes Kabinennummer gefragt habe, bereits herumgesprochen hat. Aber vielleicht bin ich auch bloß paranoid.
Ich bedanke mich für die Hilfe, fasse meinen wenig handlichen Reisekoffer mit beiden Händen und entferne mich über die freie Fläche in Richtung eines niedrigen Backsteingebäudes, das mit den bronzenen Symbolen für Luftfahrt und Technik, sowie mit den Firmenzeichen diverser Fluggesellschaften geschmückt ist. Aus dem Augenwinkel kann ich sehen, wie die anderen Reisenden ins Freie strömen. Einige von ihnen werden am Rand der hölzernen Landeplattform von Freunden oder Angehörigen empfangen.
Auch Étienne Romarin und sein Buchhalter werden bereits erwartet – und zwar von einer streng aussehenden Dame in einem altmodischen, schwarzen Kleid, die ein Kind mit honigbraunen Haaren und einer roten Wollmütze auf dem Kopf an der Hand führt. Auch wenn ich das Mädchen aus der Entfernung nicht genau erkennen kann, bin ich mir vollkommen sicher, dass es sich bei ihr um Isabel, die junge Klavierspielerin aus Étiennes Traum, handeln muss.
Als sie Étienne und Seymour entdeckt, löst sie sich von der Hand der feinen Dame und rennt auf die beiden zu. Étienne ist die harte Nacht deutlich anzusehen. Trotzdem geht er in die Hocke, um sie in die Arme zu schließen, dann hebt er sie hoch und wirbelt sie herum, sodass ihr karierter Rock und ihre kurzen Beine durch die Luft fliegen. Beide lachen ausgelassen und sogar Seymour wirkt in diesem Moment nicht ganz so griesgrämig wie gestern. Bei diesem Anblick muss ich unwillkürlich lächeln.
»Madame Pommier?« Die Stimme gehört einem hageren Mann mit eingefallenen Wangen und tief liegenden, wässrigen Augen. Er trägt ein Livrée mit großen Silberknöpfen und blütenweiße Handschuhe.
»Ja?«, frage ich, während ich noch überlege, ob ich ihn kennen sollte.
»Monsieur Narcisse schickt mich«, antwortet der Mann mit einem deutlichen Inselakzent. »Ich soll Sie zu Ihrem Hotel bringen.«
Ich bin überrascht, aber keineswegs unangenehm. »Vielen Dank.«
»Darf ich Ihnen den Koffer abnehmen?«
»Ja, ja, natürlich, danke.«
Nun, da ich den Koffer los bin, weiß ich nicht so genau, was ich mit meinen Händen machen soll. Ich werfe einen Blick über die Schulter, sehe Étienne aber nur noch von hinten. Er zieht mit seiner Familie davon und wird unsere Begegnung und seinen seltsamen Albtraum schon bald vergessen haben. Bestimmt findet er Trost in den Armen der kleinen Mae.
Ich seufze leise und folge meinem Ein-Mann-Empfangskomitee zur Straße, wo eine Voiturette auf uns wartet. Diese motorisierten Fahrzeuge kommen immer mehr in Mode. In den großen Städten sind sie aus dem Straßenbild schon nicht mehr wegzudenken. Ich erkenne auf den ersten Blick, dass es sich um eine Auris & Bader Typ A mit einem Zweizylindermotor handelt, die mit einer Sitzbank für zwei bis drei Personen, einem Faltverdeck und einer leuchtend gelben Karosserie ausgestattet ist. Ein neues Modell und alles andere als billig. Seit ich vor zwei Monaten einen Kunden hatte, der in seinen Albträumen von einer blutroten Voiturette gejagt worden ist und auch im Wachzustand nur von Automobilen und Motoren gequasselt hat, weiß ich über dieses Thema mehr als ich jemals wissen wollte.
Mein Begleiter reicht mir die Hand, um mir beim Einsteigen zu helfen. Ich raffe meinen Faltenrock zusammen und klettere auf die lederbespannte Sitzbank. Mein Koffer landet im Fußraum, mein Begleiter hinter dem Lenkrad. Dann geht es auch schon los.
Wir reihen uns in den frühmorgendlichen Verkehr ein, der in erster Linie aus Droschken und Fahrrädern besteht. Vereinzelt kann ich auch größere Pferdegespanne entdecken. Erst als wir uns der Innenstadt nähern, kommen andere Motorfahrzeuge hinzu – und natürlich die elektrische Straßenbahn, über die in den vergangenen Monaten so viel geschrieben worden ist. Obwohl ich schon davon gehört habe, falle ich vor Schreck fast aus der Voiturette, als ich sie zum ersten Mal um eine Straßenecke kriechen sehe.
Während wir die Stadt durchqueren, wird mein namenloser Begleiter nicht müde, mich auf die beliebtesten Sehenswürdigkeiten hinzuweisen. Da wären der Hafen mit seiner Befestigungsanlage, das Inselmuseum, die alte Königsburg, der Elfenbrunnen (der in Vergessenenbrunnen umbenannt werden soll), die Kuranlage mit ihren preisgekrönten Heilbädern, der Muscheltempel, das Spielcasino und das Lou-Tan-Theater.
»Und jetzt das Wichtigste«, sagt mein Begleiter, als wir in eine herbstlich eingefärbte Lindenallee einbiegen. Dabei zeigt er auf ein imposantes Gebäude mit einem mehrreihigen Säulenvorbau und einem türkisgrün patinierten Kuppeldach, das von einer Bronzestatue der Göttin Vika gekrönt wird. Mit wehendem Haar, einem seitlich aus dem Schädel sprießenden Hirschgeweih und einem großen Buch in den Händen sieht die ostragonische Göttin der Weisheit auf die Spaziergänger vor dem Gebäude herunter. »Das Parlament.« Mein Begleiter wirft mir einen erwartungsvollen Blick zu. »Interessieren Sie sich für Politik?«
Nicht die Bohne, denke ich. Laut antworte ich: »Ein bisschen.«
»Nächsten Monat findet wieder die Troisan statt.« Mein Begleiter nickt, als wollte er sich selbst beipflichten. »Das ist jedes Mal ein großes Theater, aber es bringt viele Besucher in die Stadt.«
Ich krame in meinen Erinnerungen. Die Troisan ist eine Veranstaltung, bei der die einzelnen Fraktionen des Oberhauses dem Unterhaus ihre Regierungspläne vorlegen und das Unterhaus darüber abstimmt. Irgendetwas in der Art. Politik ist wirklich nicht mein Metier. Ich weiß nur, dass ich seit Neustem wählen darf. Eine Errungenschaft der Frauenbewegung. Allerdings wird sich das erst in zweieinhalb Jahren auswirken, wenn das Unterhaus neu bestimmt wird. Bis dahin sollte ich mich wohl etwas eingehender mit Politik befasst haben.
Kurz darauf erreichen wir mein Hotel. Laut meinem Begleiter ist es das teuerste Hotel der Stadt. Dafür spricht bereits die Fassade, die aus einem kunstvollen Keramikmosaik besteht. Auch die Inneneinrichtung ist erlesen: Marmorböden, geflieste Wände, Seidengardinen, hochwertige Holz- und Polstermöbel, Hängeleuchten aus Gusseisen und buntem Glas.
Ich beziehe mein Zimmer, reiße die Vorhänge auf und stelle sehr zu meiner Freude fest, dass ich von hier aus bis zum Meer sehen kann. Mit einem Glücksglucksen streife ich meine Schuhe ab und springe aufs Bett, das von einem dunkelblauen Baldachin überspannt wird. So viel Luxus ist sogar für mich eine ganz neue Erfahrung. Ich habe jedoch keine Zeit, mich einzugewöhnen.
Nur wenige Minuten, nachdem ich mein Zimmer zum ersten Mal betreten habe, klopft es an die Tür. Ein Hotelpage bringt mir meinen Koffer und einen Brief von Monsieur Narcisse. Darin fordert er mich auf, ihm am Abend im Lou-Tan-Theater Gesellschaft zu leisten. Falls ich keine angemessene Abendgarderobe hätte, könne er mir gerne etwas Passendes zur Verfügung stellen. Das Angebot nehme ich dankend an.
Als man mir die angemessene Abendgarderobe bringt, kann ich nur mit viel Mühe ein albernes Kichern unterdrücken. Das Kleid besteht aus kornblumenblauem Taft, besetzt mit goldener Spitze, rosafarbenen Diamanten und Süßwasserperlen. Es hat Puffärmel mit viel Tüll und eine elegante Schleppe. Ich mag mir gar nicht vorstellen, wie viel es gekostet haben muss, und weigere mich, anzunehmen, Roland Narcisse hätte es nur für mich gekauft. Bestimmt ist es geliehen. Dagegen spricht, dass das Kleid von einer Schneiderin begleitet wird, die es auf meine Figur anpassen soll, was zum Glück schnell erledigt ist.
Den Rest des Tages verbringe ich mit einem ausgedehnten Spaziergang durch die Innenstadt und einem vorgezogenen Abendessen. Dann nehme ich ein Bad und mache mich zurecht. Pünktlich zum Sonnenuntergang bin ich bereit für mein erstes Treffen mit meinem Auftragsgeber.
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