39) Président Ragosonic
Einige Stunden später sind Seymour und ich wieder zuhause. Wir haben es gerade noch geschafft, bevor der Taifun auf Land getroffen ist. Jetzt heult und brüllt der Sturm, während er um das Anwesen streift wie ein Ungeheuer auf der Suche nach Beute. Der Ozean hat die Bucht und weite Teile der Küste überspült. Das Fernsprecher-System ist zusammengebrochen.
Nur das Radio funktioniert noch.
Geistesabwesend sehe ich die Dunkelheit hinaus, während die Stimme von Paul Ispin durch den Äther zu mir ins Zimmer dringt. Ich habe keine Ahnung, wovon er spricht. Normalerweise klebe ich an seinen Lippen. Er hat eine so wundervolle, samtige und beruhigende Stimme.
Doch heute habe ich dafür kein Ohr. Immer wieder gehe ich den Vorfall in Andreas Haus gedanklich durch. Immer wieder sehe ich Andreas entstellte Leiche, Faucons scharf umrissene Gestalt und Étiennes wilde Tieraugen vor mir.
Wie kann jemand, der so sanft und liebevoll, lebhaft und leidenschaftlich sein kann, derart seine Menschlichkeit verlieren? Was ist das für ein grausames Schicksal, das uns Verfluchte an diesem Ort zusammengeführt hat?
Im Radio ertönt eine kurze Melodie, gefolgt von Paul Ispins Stimme, die einen ostragonischen Schlager ankündigt.
Während die Musik knarzend aus den Lautsprechern des Gloriola dringt und sich in meinem Turmzimmer ausbreitet, lege ich den Kopf gegen die Fensterscheibe und betrachte mich in dem hohen Standspiegel neben dem Bett, der nur halb mit einem weißen Tuch verhängt ist. Eine einzelne Öllampe auf dem Nachttisch erhellt mein Gesicht. Ich sehe müde aus. Erledigt. Besiegt. Und das Schlimme daran ist: Ich fühle mich auch so.
Mein Spiegelbild flackert. Kurz kann ich meine Drudengestalt erkennen.
Als Drude sehe ich für jedes meiner Opfer anders aus. Ich selbst sehe mich als hässliches, altes Weib mit grauer Haut und langen, schlohweißen Haaren. Mein Gesicht ist eingefallen, die Haut papierdünn, meine Augen sind tief eingesunken und meine Finger knochig und gebogen wie Krallen. Es ist kein schöner Anblick.
»Betty?«
Ich wende mich vom Spiegel ab und entdecke Isabel, die in der Zimmertür steht und nicht recht zu wissen scheint, ob sie hereinkommen darf.
»Machst du das?«, frage ich mit einem kurzen Kopfnicken zu der Schreckensgestalt, die mich aus dem Spiegel heraus anstarrt.
»Findest du das schlimm?«, erwidert Isabel.
Ich wische mir mit der Hand über die Augen. »Nein. Heute nicht. Mein Fluch ist nichts gegenüber dem, was Étienne durchmachen muss.«
Isabel zögert. Mehrfach sieht es so aus, als wollte sie etwas sagen und jedes Mal scheint sie es sich anders zu überlegen. Doch dann trifft sie offenbar eine Entscheidung, übertritt mit einer resoluten Bewegung die Schwelle und kommt ins Zimmer. »Der Drudenfluch kann viel Unheil anrichten«, sagt sie. »Aber er ist auch sehr mächtig.«
»Ach ja?«, murmele ich und wende mich wieder dem Sturm zu. »Was weißt du über Flüche? Oder über Magie?«
»Nicht viel«, gibt Isabel zu. In der Glasscheibe kann ich sehen, wie sie sich bückt und ihre geringelten Kniestrümpfe hochzieht. »Nur das, was Theo und ich in den alten Büchern gefunden haben, und ein paar Dinge, die ich einfach weiß. So wie Vögel wissen, wie man die Flügel ausbreitet und fliegt.«
»Was du über Flüche gesagt hast, war das wahr?«, frage ich, obwohl mir gar nicht der Sinn nach einer Unterhaltung steht. Seymour und ich haben sowieso schon alles erzählt, was die Anderen wissen müssen. Und ich bin müde. So unendlich müde. Das Einzige, das mich davon abhält, die Augen zu schließen und einzuschlafen, ist der Umstand, dass ich es auf keinen Fall verpassen will, wenn Étienne nach Hause kommt.
Isabel schwingt sich aufs Bett und lässt die Beine baumeln. »Flüche sind nicht, wie ihr Menschen denkt.«
»Was bedeutet das?«
Die Musik im Radio wechselt. Beschwingte Tanzmusik. Das Letzte, wonach mir derzeit der Sinn steht.
»Man kann niemanden verfluchen«, erwidert Isabel. »In den alten Büchern steht, dass Flüche nur dann entstehen, wenn Magie falsch eingesetzt wird.«
»Falsch?«
Isabel schlägt mit den Hacken ihrer Schuhe gegen das Bettgestell. »Magie ist keine Sache und auch keine unsichtbare Naturkraft. Wie das Wetter. Oder die Elektrizität.« Ihr Blick irrt wie ein grüner Schmetterling durch den Raum und bleibt nacheinander auf den Dingen sitzen, die ihre Aufmerksamkeit erregen. Der antike Kleiderschrank, der ebonisierte Sekretär, der kaputte Schaukelstuhl und der hübsche, kleine Gussofen mit Emailbemalung . »Nein ...«, murmelt sie, mehr an sich selbst als an mich gewandt. »Magie ist lebendig.«
Ich runzele die Stirn. »Aber ... wie?«
»Das weiß ich auch nicht.« Isabel zuckt mit den Schultern. »Aber Theo hat gesagt, dass sie sich verändern kann. Dass sie von den Menschen lernt und sich entwickelt. Und dass sie eine eigene ...« Sie scheint nach dem richtigen Wort zu suchen. »... Moral besitzt. Das bedeutet, sie bestraft diejenigen, die sich auf unrechte Weise ihre Macht aneignen wollen. Das nennt man dann einen Fluch.«
»Denkst du, das ist damals passiert?«, frage ich. Erst als die Worte schon heraus ist, fällt mir ein, dass ich mich mit einem Kind unterhalte. Ein knapp hundertjähriges Kind zwar, aber immer noch ein Kind. Das ist jedoch leicht zu vergessen, denn Isabel kann eine eigenartig weise Art an sich haben, die dazu verleitet, sie wie eine Erwachsene zu behandeln.
Isabel tippt sich mit dem Zeigefinger an die Lippen. »Hm ... ja. Was sonst?«
»Und ...« Ich fahre mir mit der Hand durch die Haare und beobachte, wie das hässliche, verunstaltete Weib im Spiegel dasselbe macht. »... warum orientieren sich alle Flüche an alten Legenden und Märchen? Hat das auch etwas damit zu tun, dass die Magie lebendig ist?«
»Theo sagt, die Magie würde die alten Geschichten benutzen, um geeignete Strafen zu finden.«
»Aber wie kann die Magie diese Geschichten ‚benutzen'?«
»Ich weiß es nicht.« Isabel zuckt erneut mit den Schultern. »Wenn ich in Ellyrien aufgewachsen wäre, könnte ich dir das vielleicht sagen.« Sie lehnt sich zurück, stützt sich mit den Händen auf der Bettdecke ab und starrt missmutig an den Betthimmel. »Es ist doof, so wenig zu wissen, aber ... wenigstens kann ich ein bisschen helfen.«
Ich ringe mich zu einem Lächeln durch. »Du hilfst Étienne und den Anderen vermutlich mehr, als du dir vorstellen kannst.«
Isabel schweigt. Jetzt, da sie mir so nahe ist, kann ich auch ihre Ohren sehen. Sie laufen am oberen Ende spitz zu. Genau wie in den Geschichten über Elfen, die ich als Kind gehört habe.
Es ist ein komisches Gefühl, so einträchtig mit einer Elfin zusammenzusitzen. Noch vor ein paar Tagen hätte ich mir das nicht vorstellen können. Noch gestern hat mich allein der Gedanke, einen Ellyrier zu treffen, in nackte Panik versetzt. Doch hier bin ich. Die neue Elisabeth Potiron.
Das Radio knarzt. Die Musik verstummt. Stattdessen erklingt die Stimme von Paul Ispin. Er kündigt eine Übertragung von der Insel an. Mit anderen Worten: Ein Sprecher der Regierung meldet sich zu Wort.
Ein Einspieler mit Fanfaren ertönt. Ich weiß nie, ob dieser Einspieler ernst gemeint ist.
Dann dringt die Stimme des Präsidenten aus den Lautsprechern. Président Ragosonic kann es wohl nicht einmal in einer Taifunnacht unterlassen, sich im Rundfunk zu präsentieren.
Nach ein wenig Vorgeplänkel kommt er auf die Vorfälle des vergangenen Tages zu sprechen. Er spricht sein Bedauern über den Tod von Professeur Narcisse aus und versichert, dass die Gendarmerie und das Corps alles tun würden, um den grausamen Mord aufzuklären. Dabei deutet er an, dass alle gefundenen Spuren und Beweise auf ein Bündnis aus Regierungsfeinden hindeuten würden. Immerhin habe Narcisse vor seinem Ableben jede Menge Todesdrohungen von elfenfeindlichen Organisationen erhalten und der Staat könne es sich nicht erlauben, weiterhin die Augen vor der Wahrheit zu verschließen.
Der Präsident redet weiter und weiter, sendet seine Lügen über den Äther und ich stelle mir vor, dass seine Worte in die Köpfe der Menschen kriechen und sich darin festsetzen, wie eine Seuche, die sich über den Rundfunk verbreitet.
Am Ende seiner Rede wechselt er jedoch noch einmal das Thema und kommt auf etwas Erfreulicheres zu sprechen. In Vorbereitung auf die Troisan und weil das Jouminsche Neujahrsfest vor der Tür stünde, würde in drei Tagen eine Delegation aus Jouyan auf die Insel kommen. In diesem Rahmen würden derzeit Vorbereitungen für ein großes Spektakel getroffen. Überall in der Stadt würden Feierlichkeiten zu Ehren der Staatsgäste stattfinden und am Abend solle es am Hafen ein großes Feuerwerk geben.
Schließlich verabschiedet Président Ragosonic sich mit einem Gruß an die Bevölkerung und der altmodischen Floskel Friede und Wohlstand dem ganzen Land, von den Myrtillen bis zur Prunne. Dann knackt es im Empfänger und kurz darauf ist wieder Paul Ispin zu hören.
Ich wende mich an Isabel, die das Radio mit gekräuselter Oberlippe betrachtet und so aussieht, als würde sie es am liebsten aus dem Fenster werfen. Wahrscheinlich hätte ich sie nicht einmal aufgehalten. Viele Dinge haben an diesem Tag ihre Wertigkeit verloren.
»Denkst du ...«, beginne ich vorsichtig. »... du kannst Étienne helfen?«
Isabel setzt gerade dazu an, meine Frage zu beantworten, da ertönen Schritte auf der Treppe. Jemand springt die Stufen hinauf. »Betty! Isabel!«
Die Tür fliegt auf und Theo steht schweratmend im Türrahmen. »Sie sind da.« Er schnappt nach Luft. »Étienne ist da!«
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