37) Auge in Auge
»Mademoiselle Pommier«, sagt der Capitaine und deutet auf einen der freien Sessel. »Bitte, tun Sie uns den Gefallen.«
Mich zu ihm zu setzen, ist buchstäblich das Letzte, was ich will. Deshalb bin ich auch so erschüttert, als mein Körper sich ohne mein Zutun in Bewegung setzt.
Ehe ich mich versehe, bin ich schon im Wohnzimmer und nähere mich den quadratisch angeordneten Sesseln und Sofas. Dabei bemerke ich Étienne, der in einem der anderen Sessel sitzt. Er hat die Hände um die Armlehnen gekrallt und sieht aus, als wollte er jeden Moment aufspringen. Seine Lippen sind verkrampft und aus seinen Augen spricht der ganze halsstarrige Trotz eines kleinen Jungen im Körper eines 600-Kilogramm-Rindviehs.
Ich gehe zu dem verbliebenen Sessel, nehme Platz und klemme mir die Hände zwischen die Knie.
»Sind das jetzt alle?«, fragt Julien Faucon.
»Wo ist Andrea?«, will ich wissen.
Der Capitaine deutet auf das gegenüberliegende Sofa und auf eine Gestalt, die ich im Halbdunkeln zunächst für ein großes Kissen gehalten habe.
Andrea ist in sich zusammengesunken und dabei wie ein totes Insekt auf halbe Größe zusammengeschrumpft. Ihr Gesicht ist voller Blut – und dahinter ... ich will mir das Grauen, das sie in den vergangenen Minuten erlebt haben muss, nicht einmal ausmalen. Die einzelnen Bestandteile ihres Gesichts scheinen sich nicht mehr dort zu befinden, wo sie sein sollten. Sie sieht aus wie ein falsch zusammengesetztes Puzzle. Ihr Kopf ist an einer Seite eingedellt, eines ihrer Augen ist aus der Höhle gequollen, ihr Mund steht halb offen und ich kann sehen, dass ihr mehrere Zähne fehlen.
»Andrea und ich haben uns unterhalten«, sagt Faucon.
»Ist sie ...« Meine Stimme wird so leise, dass sie im Rauschen des Ozeans untergeht. »... tot?«
Faucon sieht mich unverwandt an. Seine Augen glimmen, als würde das Licht des Elfmonds sich darin spiegeln. »So ist es, Mademoiselle Pommier.« Er schürzt die Lippen. »Und falls es Sie beruhigt ... sie hat mir nichts verraten.«
»Verraten?«, echoe ich mit Blick zu Étienne, der gegen innere Ketten anzukämpfen scheint.
Ich weiß genau, wie es ihm ergeht. Es ist nicht so, dass ich mich nicht bewegen könnte oder keine Kontrolle über meine Glieder hätte, doch immer, wenn ich den Entschluss treffe, aufzuspringen und wegzurennen, überlege ich es mir im letzten Moment anders. Als würde Julien Faucon nicht meinen Körper, sondern einen Teil meiner Gedanken kontrollieren.
Faucon beugt sich vor und legt die Fingerspitzen aneinander. Sein makelloses Allerweltsgesicht zeigt keine erkennbare Regung. »Verkaufen Sie mich nicht für dumm, Mademoiselle Pommier. Sie wissen, wovon ich spreche. Ihr Auftraggeber, Monsieur Narcisse, hat sich in Ellyrien gefährliche Falschinformationen angeeignet.«
»Musste er deswegen sterben?«, flüstere ich, während mein Herz immer fester gegen meine Rippen hämmert. Andreas hervorgequollenes Auge scheint mich anzustarren. Weiß, fleischig und unförmig, wie eine komisch gewachsene Schneebeere.
»Er hat seinen Untergang selbst herbeigeführt«, erwidert Faucon.
Ein dumpfer Donner grollt über den Himmel und der Regen wird stärker. Im Stakkato prasseln die Tropfen gegen die Scheiben des Wintergartens.
»Für wen arbeiten Sie?«, fragt Étienne. Seine Stimme klingt seltsam. Schwach und heiser, als würde ihm irgendwas die Kehle zusammenschnüren.
Faucon ignoriert ihn. »Es ist meine Aufgabe, dafür zu sorgen, dass diese irreführenden Informationen aus Ellyrien mit Monsieur Narcisse begraben werden, Mademoiselle Pommier. Deswegen bin ich hergekommen, um mit Madame Feige zu sprechen. Mir ist jedoch schnell klar geworden, dass sie keine genauen Kenntnisse über die Vorgänge in Ellyrien hat. Allerdings habe ich erkannt, dass sie etwas vor mir versteckt.« Er schüttelt langsam, beinahe bedauernd den Kopf. »Leider hat ihre unerschütterliche Loyalität zu ihrem verstorbenen Arbeitgeber nicht zugelassen, dass sie sich selbst rettet.« Sein Blick wandert zu Andrea – oder zu dem, was noch von ihr übrig ist. »Ich hätte ihr Leid noch um Stunden oder Tage verlängern können, aber wir wären zu keinem anderen Ergebnis gelangt.«
»Sie sind ein mieses Schwein«, grollt Étienne.
»Mag sein«, erwidert Faucon. »Aber ich respektiere Madame Feiges Entscheidung. Sie hat gewusst, dass ich sie töten würde, ganz egal, was sie mir erzählt, und ist erhobenen Hauptes aus dem Leben geschieden. Wir werden sehen, welchen Weg Sie wählen, Monsieur Romarin.«
»Tun Sie ihm nichts«, hauche ich.
Der Capitaine wendet sich wieder an mich. »Mademoiselle Pommier, als wir uns im Lou-Tan-Theater zum ersten Mal begegnet sind, hielt ich Sie lediglich für eine lästige Verwicklung meiner Pflichten, eine ...« Er öffnet und schließt die Hände. »... unerwartete Komplikation, wenn man so will. Aber seit der vergangenen Nacht muss ich annehmen, dass Sie mehr als das sind.«
Ich will etwas sagen, aber ich weiß nicht, was. Langsam wird mir bewusst, was Andrea vor etwa zehn Minuten auf dem benachbarten Sofa erkannt haben muss: Faucon wird uns töten, ganz egal, was ich ihm sage.
»Sehen Sie, ich habe mich über Sie informiert. Ihr richtiger Name ist Elisabeth Potiron. Sie stammen aus Aubergine, einem kleinen Dorf im Zentrum Ostragons. Mit sechzehn Jahren sind Sie nach dem Tod eines Ihrer Opfer von dort geflohen und schlagen sich seitdem alleine durch.« Faucon sieht mich an. Seine roten Augen sind so kalt und gefühllos wie die Karbid-Scheinwerfer einer Voiturette. »Das kann nicht einfach gewesen sein.«
Ich merke, wie ich innerlich zu beben beginne.
»Vor allem, wenn man verflucht ist«, ergänzt Faucon. »Mit Sicherheit mussten Sie viele Dinge tun, auf die Sie rückblickend nicht stolz sind.«
Ich spüre Étiennes Blick auf mir ruhen, aber ich will ihn nicht ansehen. Er soll nicht wissen, was in mir vorgeht. Doch vor Faucon kann ich mich nicht verstecken.
»Und trotzdem haben Sie es geschafft«, fährt der Capitaine fort. »Sie haben einen Fluch in ein gewinnbringendes Geschäftsmodell verwandelt. Das ist bewundernswert, finden Sie nicht?«
Ich presse die Lippen zusammen. Meine Nase prickelt, meine Augen brennen, aber ich will dem Capitaine nicht die Genugtuung gönnen, vor ihm in Tränen auszubrechen.
Faucon nimmt mein Schweigen mit einem Seufzen zur Kenntnis. »Und dann werden Sie von Monsieur Narcisse kontaktiert. Ich bin mir sicher, dass Sie davon zunächst sehr geschmeichelt waren. Schließlich war der Professor zu Lebzeiten ein wohlhabender und einflussreicher Mann.« Er legt die Hände aneinander und mustert mich eingehend. Fast komme ich mir vor, als würde ich unter dem Mikroskop seziert. »Und ich muss zu meiner Schande gestehen, dass ich nicht gleich darauf gekommen bin, mit was ich es zu tun hatte. Verfluchte kommen in so vielen verschiedenen Formen, da ist es nicht leicht, den Überblick zu behalten. Aber als ich Sie in der vergangenen Nacht in Narcisse' Schlafzimmer entdeckt habe, da ist mir alles klar geworden.«
»Sie hätten mich töten können«, presse ich mühsam heraus.
»Das ist wahr«, sagt Faucon. »Ich hätte Sie töten können.«
Die Erkenntnis trifft mich wie ein Schlag in die Magengrube. »Sie ... es ... war Absicht.«
»Ich habe schon seit Jahren den Verdacht, eine größere Gruppe Verfluchter könnte sich auf Menthe verstecken«, erwidert Faucon. »Und ich nahm an, es bestünde wenigstens eine geringe Chance, dass Sie mich zu ihnen führen würden, wenn Sie verletzt und ohne Ausweg wären.«
Mir wird übel. Meine schlimmste Befürchtung hat sich bestätigt. Ich habe Étienne und seine Freunde diesem Ungeheuer ausgeliefert.
»Warum ...« Meine Stimme versagt mir den Dienst. Tränen wallen in mir auf und ich brauche meine ganze Kraft, um sie niederzuringen.
Faucon wartet geduldig, bis ich wieder sprechen kann.
»Warum jagen Sie uns?«
»Ich kann verstehen, dass Ihnen das grausam und ungerecht erscheinen mag«, gibt Faucon zu. »Aber ich versichere Ihnen, dass ich damit im Interesse der Menschheit handele.«
»Und dabei sind Sie nicht einmal ein Mensch«, bemerkt Étienne.
Faucon lächelt und streicht sich mit einer Hand durch die Haare, ohne dabei auch nur eine einzige Strähne durcheinanderzubringen. »Sie haben wenigstens zur Hälfte Recht«, gibt er zu. »Nicht alles an mir ist menschlich.« Seine Augen funkeln. »Aber es ist auch nicht alles elfisch. Und ich fühle mich den Menschen deutlich stärker verbunden als den Ellyriern, auch wenn ich nicht damit rechne, dass Sie das verstehen werden, Monsieur Romarin.« Sein Lächeln verblasst. »Was ich tue, ist nichts anderes, als einen Baum von der Last seiner toten Blätter zu befreien. Eine unschöne Aufgabe, aber notwendig.«
»Und Narcisse?«, frage ich und kann nicht verhindern, dass meine Stimme kraftlos und weinerlich klingt. »Er war ein guter Mann ... er hat sich für den Frieden eingesetzt ...«
»Ich weiß und bestimmt hat er gedacht, mit seinen Taten im Sinne der Menschheit und des Weltfriedens zu handeln, auch wenn seine Bemühungen nur das Gegenteil bewirkt hätten. Und genau aus diesem Grund müssen seine Informationen auch vernichtet werden – zusammen mit allen angeblichen Beweisen, die es für die Existenz dieser Maschine gibt.«
Bei diesen Worten beobachtet Faucon mich ganz genau und ich kann nicht verhindern, dass ich mich unwillkürlich unter seinem Blick wegducke.
»Sie wissen, von welcher Maschine ich spreche, nicht wahr, Mademoiselle Pommier? Hat er Ihnen davon erzählt oder haben Sie sie in seinem Traum gesehen?«
»Betty, sag ihm-«
Faucon hebt die Hand. »Sie müssen jetzt still sein, Monsieur Romarin.« Er lässt die Hand sinken und wendet sich wieder an mich. »Mademoiselle Pommier ... Sie sind doch nicht dumm. Sie wissen, worauf das hier hinausläuft.« Er klingt erschöpft, müde. Wie jemand, der schon zu lange dieselben Dinge tun und sehen muss. »Ich könnte Ihnen jetzt vormachen, dass ich Monsieur Romarin am Leben lassen werde, wenn Sie mir die Wahrheit sagen, aber wir wissen beide, dass ich weder ihn noch Sie oder jemand anderen von Ihren Freunden am Leben lassen kann.«
Mein Herz fühlt sich an, als würde es von einer großen Faust zusammengepresst. Fieberhaft suche ich nach einem Ausweg aus meiner Lage, aber ich kann vor Todesangst kaum klar denken.
»Was ist mit den Kindern?«, flüstere ich.
»Den Kindern?«, wiederholt Faucon. Seine Miene zuckt, als hätte ihm etwas einen schmerzhaften Stich versetzt. Die Regung ist so kurz, dass ich mir nicht sicher bin, sie überhaupt wahrgenommen zu haben.
»Madame Feiges Kindern. Werden Sie die auch töten?«
Faucon mustert mich einige Herzschläge lang ausdruckslos, dann zieht er verwundert die Augenbrauen zusammen. »Sie wollen mit mir über das Leben von Madame Feiges Kindern verhandeln?«
»Es sind nur Kinder«, wende ich ein. »Mit Sicherheit wissen sie von nichts – und selbst wenn, würde ihnen niemand glauben.«
Wieder mustert mich Faucon einige Sekunden lang schweigend, dann gibt er sich geschlagen. »Nun denn ... Mademoiselle Pommier ... wenn Sie mir alles sagen, was Sie über diese Maschine wissen, werde ich die Kinder verschonen. Klingt das für Sie nach einem annehmbaren Handel?«
Ich wage es immer noch nicht, Étienne anzusehen, aus Angst vor dem, was ich in seinem Blick lesen könnte. »Und ... tun Sie ihm nicht weh«, wispere ich.
»Sie haben mein Wort, dass ich Monsieur Romarin schnell und schmerzlos töten werde.« Faucon presst ungeduldig die Fingerkuppen aneinander. »Also ... Mademoiselle Pommier ... was wissen Sie über die Maschine?«
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