36) Atmen

Für einen Moment bin ich wie erstarrt. Äußerlich, aber auch innerlich. Kein Gedanke regt sich. Ich fühle nichts. Und dann bricht alles auf einmal über mich herein. Das Herz schnellt mir in den Hals und die Erregung schießt wie ein Flächenbrand durch meine Adern.

Ich lasse die Hörmuschel fallen und kämpfe mich aus dem Glaskasten ins Freie. Mit zitternden Knien stolpere ich auf die Straße hinaus. Eine feuchte Windböe erfasst mich und macht mich kurzzeitig orientierungslos. Zweige und Blätter regnen auf mich herab. Ich fühle mich, als würde ich den Boden unter den Füßen verlieren.

Ein Horn ertönt.

»Achtung! Aus dem Weg!«, ruft jemand.

Im nächsten Moment schießt eine Voiturette an mir vorbei. Der darin sitzende Herr hält seinen Zylinder fest und schüttelt tadelnd den Kopf.

»Betty!« Étienne packt mich an der Schulter und zerrt mich herum. Seine Miene zeigt eine Mischung aus Entsetzen, Sorge und mühsamer Beherrschung. »Was ist los, Betty?«

Ich suche seinen Blick und darin nach der Sicherheit, die ich gestern Abend verspürt habe. »Andrea ...«

»Was ist mit ihr?«

»Faucon ... ich glaube ...« Meine Lippen zittern und meine Stimme ist kaum mehr als ein Flüstern. »Ich glaube ... er ist bei ihr.«

»Wie können Sie das wissen?«, fragt Seymour, während er einer weiteren heranrauschenden Voiturette in den Weg tritt, sodass der Wagen ausweichen muss und auf der nassen Straße ins Schlingern gerät.

»Ich weiß es«, beharre ich.

Natürlich könnte es auch eine andere Erklärung für das Gehörte geben. Vielleicht ist tatsächlich jemand vom Corps gekommen, um Andreas Aussage aufzunehmen, aber irgendetwas – möglicherweise sogar Andreas eigene Reaktion – sagt mir, dass etwas Furchtbares passieren wird.

»Na gut.« Étienne umfasst meine Schultern und beugt sich vor, um mir besser ins Gesicht sehen zu können. Seine Augen brennen vor Eifer. »Wo müssen wir hin?«

»Dattelstraße 51«, hauche ich.

»Das liegt etwa zwanzig Minuten von hier«, sagt Seymour. »Unten am Weißen Hafen.«

Étienne richtet sich wieder auf. »Fünfzehn Minuten, wenn wir rennen.«

»Ich hole den Wagen.«

»Zu Fuß sind wir schneller.«

»Ja, aber vielleicht brauchen wir den Wagen später.«

Seymour sagt es nicht laut, aber ich weiß, was er mit ›später‹ meint. Später, wenn wir fliehen müssen.

»Wir müssen uns beeilen«, dränge ich.

Étienne nickt Seymour zu, packt meine Hand und zieht mich über die Straße. »Komm!«

Wir drängen uns durch den Verkehr. Der Wind fegt über die Dächer der umliegenden Häuser. Viele davon sind Geschäfte oder Warenhäuser. Offenbar befinden wir uns im Handelszentrum von Tournesol. Die meisten Läden haben bereits geschlossen und die Besitzer sind dabei, ihre Häuser vor dem Sturm zu schützen, indem sie Fenster und Türen verrammeln.

Étienne führt mich durch einige Querstraßen und Seitengassen. Mit der freien Hand halte ich meinen Rock hoch, um besser rennen zu können. Wir kommen am Stand eines Kerzenverkäufers vorbei, passieren einen Festplatz und überqueren eine Brücke, die sich über einen zügig dahinströmenden Fluss wölbt. Der Nieselregen überzieht das dunkle Wasser mit Kreisen und Kringeln und der Wind malt Wellenberge und -täler ins borstige Ufergras.

»Kannst du noch?«, keucht Étienne.

›Nein‹ wäre vermutlich die ehrliche Antwort auf seine Frage gewesen, aber ich will keine Schwäche zeigen. Nicht, wenn Andreas Leben auf dem Spiel stehen könnte. Also nicke ich nur, beiße die Zähne zusammen und renne weiter.

Hand in Hand hasten Étienne und ich über eine Wiese, die ein imposantes, kastenförmiges Gebäude mit einer türkisgrün patinierten Dachkuppel umgibt. Erst als wir den Bau schon halb umrundet haben und den gepflasterten Vorplatz erreichen, weiß ich wieder, wo wir uns befinden. Wir sind am Parlament. Die steinerne Göttin Vika sieht von oben auf uns herab, als würde sie Ameisen bei ihrem Tagewerk beobachten. Unter ihrem starren Blick überqueren wir die Lindenallee und springen eine große Freitreppe hinunter, die sich zwischen zwei Torhäusern aufspannt. Dahinter liegen vier Badehäuser und mehrere, von Arkaden eingefasste Kurbecken.

Auf der anderen Seite der Anlage befindet sich das Hafenviertel – oder vielmehr: ein Hafenviertel. Denn dieser Ort hat nichts mit dem gemein, wofür gleichnamige Orte in den meisten Städten bekannt sind. Das Stadtviertel, in dem Andrea Feige wohnt, ist ein Nobelviertel, das sich an der Küste entlangzieht und bis auf eine kleine, vorgelagerte Halbinsel hinausreicht. Hier halten keine Schoner und Frachtschiffe, sondern höchstens Ausflugsboote und Yachten.

»Hier muss es sein«, sagt Étienne.

Ich kann nicht reden. Meine Lunge krampft und ich kriege kaum noch Luft.

»Atme, Betty, atme«, befiehlt Étienne.

Atmend verlässt mich die Kraft. Ich stolpere und wäre vermutlich der Länge nach hingefallen, hätte Étienne mich nicht festgehalten.

»Du musst vorgehen«, keuche ich und entziehe ihm meine Hand.

»Sicher?«

Ich stemme die Hände in die Taille und nicke. Mein Brustkorb fühlt sich wie ein löchriger Blasebalg an. Mein Hals brennt und jeder Atemzug schmerzt.

»Es ist da vorne.« Étienne deutet auf ein Straßenschild.

»Ja ... ja«, stöhne ich. »Jetzt geh.«

Mit einem letzten Blick in mein Gesicht setzt Étienne seinen Weg fort.

Erst als er hinter der Straßenecke verschwindet, wird mir bewusst, dass er sich vermutlich in große Gefahr begibt. Sollte der Capitaine wirklich bei Andrea sein ... und sollte er wirklich ein Halbelf sein ... ich will mir gar nicht ausmalen, was alles passieren könnte.

Die Furcht um Étienne verleiht mir neue Kraft und ich schleppe mich die Straße hinunter.

Das Hafenviertel ist geprägt von schmucken Bruchsteinhäusern mit weißen Fensterläden und flachen Holzziegeldächern. Weiter hinten stehen auch ein paar auffälligere Gebäude mit bunten Keramikfassaden und Reetdächern. Der Sturm braust durch die Gärten und ich kann hören, wie der Ozean donnernd gegen die Küste brandet.

Die Dattelstraße und Andreas Zuhause sind zum Glück nicht schwer zu finden. Auch – oder vielleicht gerade weil – eine unauffällige, schwarze Voiturette direkt vor dem Eingang parkt. Wer auch immer Andrea besucht hat, er muss noch in der Nähe sein.

Meine Brust scheint enger zu werden. Ich atme flach und kauere mich hinter den hohen Lattenzaun, der das Grundstück umgibt. Andreas Haus ist eine zweistöckige Villa, die sich gut zwischen die anderen Häuser einfügt. Der Bau wirkt gepflegt, die Fensterläden sind frisch gestrichen und in den Blumenkästen wachsen rote Rüsselveilchen.

Ich beobachte die Fenster an der Straßenseite, kann jedoch niemanden entdecken. Das Eingangstor und die Haustür sind nur angelehnt, aber davon abgesehen gibt es kein Anzeichen dafür, dass überhaupt jemand das Grundstück betreten hat.

Geduckt husche ich weiter.

Nur wenige Meter entfernt schwankt ein Telegrafenmast im Sturm und in einem der Vorgärten verursachen die aufgespannten Wäscheleinen ein surrendes Geräusch. Die Luft riecht seltsam. Vielleicht ist es nur meine Anspannung, aber ich vermeine, den Duft von Orangen wahrnehmen zu können.

Nein, sage ich mir. Das kann nicht sein.

Ein Klirren dringt aus dem Innern des Hauses. Leise. Nicht wie jemand, der einen Spiegel zerschmettert, sondern eher wie jemand, der auf Glasscherben getreten ist.

Ich schlucke meine aufkeimende Furcht herunter, öffne das Eingangstor und betrete das Grundstück. Um kein Geräusch zu verursachen, meide ich den Kiesweg und schleiche über das feuchte Gras zur Tür. Vorsichtig schiebe ich sie auf. Der Geruch nach Orangen wird intensiver und schlägt dann so plötzlich um wie das Wetter in den Bergen. Ich rieche Metall.

Mein Magen hebt sich und meine Knie werden weich. Trotzdem öffne ich die Tür und spähe in den Flur. Es herrscht ein unheimliches Halbdunkel, das alle Konturen zu bedrohlichen Gruselgebilden verzerrt. Vage kann ich die Umrisse einer Kommode und einer Garderobe erkennen. An den Haken hängen Jacken und Mäntel, an der Wand daneben gerahmte Bilder.

Langsam gewöhnen sich meine Augen an die Dunkelheit und ich kann weitere Einzelheiten ausmachen. Der Flur wirkt auf mich sehr ordentlich und fast schon bieder. Auf der Kommode liegt ein akkurat ausgerichtetes Spitzendeckchen, darauf stehen eine Schüssel mit Kleingeld und zwei Bilderrahmen mit den kunstvollen Fotografien kleiner Kinder. Hat Andrea Kinder?

Der Gedanke verstärkt das dumpfe Gefühl in meinem Magen und die lähmende Kälte in meinen Gliedern. Wo ist nur Étienne?

Ich kann mich gerade noch davon abhalten, seinen Namen zu rufen. Am liebsten würde ich mich umdrehen und wegrennen, aber ich kann nicht gehen, ehe ich weiß, was aus Andrea und den Kindern geworden ist.

Schritt für Schritt wage ich mich vorwärts. An den Flur schließt sich ein Wohnraum mit einer Sofagarnitur an, der sich Linkerhand zum Speisezimmer und im hinteren Bereich zu einem beeindruckenden Wintergarten öffnet. Von dort kann ich zu den Klippen sehen. Nichts versperrt den Blick auf den Ozean, der die vorgelagerten Felsen umspült. Auf den schwarzen Wellen tanzen weiße Schaumkronen und der Sturm treibt die aufspritzende Gischt meterhoch in den Himmel. Der Anblick hat etwas Hypnotisches. Ich kann mich kaum abwenden.

Doch dann bemerke ich die Gestalt, die vor dem Hintergrund des nahenden Taifuns auf dem Sofa sitzt. Ihre Augen glimmen glutrot.


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