34) Onkel Raji

Der Laden von Onkel Raji ist ein Sammelsurium von Schrott und Merkwürdigkeiten. Irgendwie erinnert mich der Ort an das Büro von Narcisse, mit dem kleinen, aber feinen Unterschied, dass die Sammelobjekte meines Auftraggebers von unschätzbarem Wert gewesen sein müssen. Bei Onkel Raji finden sich durchaus ansehnliche Antiquitäten neben altem Plunder und wertlosem Müll.

Als wir den Laden betreten, werden wir von einem Joumin-Mädchen von vielleicht fünfzehn oder sechzehn Jahren empfangen. Sie trägt keine traditionelle Joumin-Tracht, sondern eine legere Bluse und schmal geschnittene Hosen.

»Misa-sin, Étienne«, grüßt sie und lehnt sich über den Tresen. Ihr Gesicht ist klein und rundlich, mit flachen Wangen, einem fliehenden Kinn, dunklen Mandelaugen und jeder Menge Hautunreinheiten, wie es in ihrem Alter wohl normal ist.

»Misa, Tammi«, erwidert Étienne und duckt sich unter einer Feiertagsgirlande, die von der Decke herabbaumelt, hindurch.

Tammi knabbert an der Kappe eines Füllfederhalters und grinst anzüglich. »Mit wem hast du dich wieder geprügelt?«

»Das-«, beginnt Étienne.

Es knallt, als Seymour das Tor hinter uns schließt.

»Das ist nicht so wichtig.«

Étienne und ich nähern uns dem Tresen. Dabei müssen wir über allerlei Unrat und Metallschrott hinwegsteigen.

Linkerhand stehen Schränke und Regale in allen nur erdenklichen Zuständen. Dazwischen verschiedene Musikinstrumente, eine Druckerpresse, ein Spinnrad, eine Kupfer-Badewanne, ein ausgebauter Motor, mehrere Grammophone, allerlei Porzellan, Besteck, Werkzeuge sowie Kisten voller Kleidung und Accessoires. Hinter dem Tresen befindet sich ein Raumteiler aus rotem Holz und bemaltem Seidenpapier. Es riecht intensiv nach Alkohol, Holzpolitur, Mottenkugeln, Staub, Maschinenöl und vielen Dingen, die ich nicht identifizieren oder benennen kann.

»Wo ist denn Onkel Raji?«, fragt Étienne.

Tammi deutet hinter sich. »Im Lager.« Sie mustert Étiennes blutverschmiertes Gesicht. »Soll ich dir vielleicht nen Lappen holen?«

»Ach ...« Étienne winkt ab. »Das ist nicht so-«

»Ja, vielen Dank«, mische ich mich ein, bevor Étienne die Angelegenheit herunterspielen kann.

Tammi wirft Étienne einen vielsagenden Blick zu, grinst noch breiter, stößt sich vom Tresen ab und verschwindet hinter dem Raumteiler.

»Es ist wirklich nicht so schlimm«, beteuert Étienne.

Ich hüstele. »Du siehst aus, als wärst du unter eine Voiturette geraten.«

»Platzwunden am Kopf bluten immer heftig«, murmelt Étienne und wischt das Blut weg, das an seiner Braue entlangläuft. »Das sieht schlimmer aus als es ist.«

»Wenn du meinst ...«

Während ich das sage, entdecke ich ein Flugblatt, das verkehrt herum auf dem Tresen liegt. Vielleicht hat Tammi bis zu unserem Eintreffen darin gelesen. Neugierig drehe ich es herum. Zu meiner Überraschung handelt es sich um eine Werbeannonce für eine Schule. Die Cerisier Bildungsanstalt für junge Frauen aus gutem Hause heißt es in verschnörkelter Schrift.

Bei dieser Formulierung muss ich schmunzeln. »Sieh mal, Étienne. Ist das nicht die Schule von deinen Freunden?«

Étienne wirft nur einen flüchtigen Blick auf die Anzeige. »Freunde würde ich die beiden nun nicht unbedingt nennen.«

»Die Cerisiers?«, fragt Seymour, während er den Krimskrams in den Regalen inspiziert.

Ich kann mir nicht vorstellen, dass er auf der Suche nach einem neuen Porzellanservice ist. Vielleicht eher nach einem Messerset aus Berlitzer Stahl. Der Gedanke lässt mich frösteln. Die Prügelei hat mir keine große Angst gemacht, aber die Erinnerung an Julien Faucon erfüllt mich mit einer beinahe irrationalen Panik. Am liebsten wäre ich schon wieder zurück im Romarin-Anwesen. Dort habe ich mich wenigstens ein bisschen sicher gefühlt.

»Wenn ich Sie wäre, Mademoiselle Pommier«, sagt Seymour, »würde ich mich von den Cerisiers fernhalten.«

»Wieso? Sie wirken doch ganz anständig.«

»Oh, sie sind anständig«, erwidert Seymour mit einem sarkastischen Unterton in der Stimme. »Aber sie sind auch wie Haie immer auf der Suche nach etwas, das sie zerreißen können.« Er nimmt einen Zigarrenanzünder aus Perlmutt aus dem Regal und betrachtet ihn von allen Seiten. »Und sie haben es auf Étienne abgesehen.«

»Du übertreibst«, brummt Étienne.

»Mitnichten, mein Freund. Camille ist besessen von dir.«

»Ach was.«

»Lass es dir nicht zu Kopf steigen«, seufzt Seymour und lässt eine Flamme aus dem Anzünder schießen. »Das hat nichts mit dir zu tun, aber alles mit deiner Abstammung.«

»Wie meinen Sie das?«, will ich wissen.

»Die Cerisiers betreiben etwas, das sie eine Bildungsanstalt nennen, aber in Wirklichkeit geht es ihnen bloß darum, die Blutlinien der großen Familien hier auf der Insel so rein wie möglich zu halten. Dass Monsieur Romarin nur einen Bastard hinterlassen hat – noch dazu einen Shimin – haben die beiden noch nicht verwunden.« Seymour stellt den Anzünder ins Regal zurück. »Seitdem sind sie ganz wild darauf, Étienne zu verkuppeln, um das unreine Blut aus ihm herauszukreuzen.«

Ich kann Étienne ansehen, wie unangenehm ihm dieses Thema ist. Und plötzlich sehe ich auch unser Treffen mit den Cerisiers im Ver Luisant in einem ganz neuen Licht. »Das ... das ist furchtbar«, stammele ich. »Und ich dachte, Camille wäre ...«

»Verknallt in Étienne?«, fällt Seymour mir ins Wort. »Mag sein.« Er faltet die Hände auf dem Rücken. »Sie wissen das vermutlich besser als ich, Mademoiselle Pommier, aber schmecken die verbotenen Früchte nicht immer am süßesten?«

»Schluss jetzt«, grunzt Étienne, schnappt sich das Flugblatt vom Tresen und zerknüllt es in den Händen.

In diesem Moment kommt Tammi zurück. »Du musst wirklich mit den Prügeleien aufhören«, sagt sie vorwurfsvoll. »Uns gehen nämlich die Lappen und das Verbandszeug aus.«

Étienne lächelt verlegen und stopft das zusammengeknüllte Flugblatt in eine herumstehende Vase. »Du übertreibst.«

»Ein wenig vielleicht«, gibt Tammi zu und reicht ihm einen feuchten Lappen. »Aber laut Onkel Raji hast du ein Talent dafür, dich in Schwierigkeiten zu bringen.«

Kaum hat sie das gesagt, erscheint Onkel Raji aus dem Lager. Er ist ein kleiner, knochiger Mann mit wirren grauen Haaren, einem langen, spitz zulaufenden Bart und auffällig großen Ohren. Seine Haut hat die Farbe und Beschaffenheit von altem Leder.

»Étienne!«, ruft er und schlingt sich einen ölverschmierten Lappen um die Schultern.

»Onkel Raji«, erwidert Étienne und umrundet den Tresen, um den alten Mann zu begrüßen.

Ich folge ihm in einem gebührenden Abstand und warte, bis die beiden die üblichen Floskeln ausgetauscht haben. Onkel Raji ist mir sofort sympathisch. Er lacht viel und scheint nur noch zwei Zähne zu besitzen.

Nachdem Étienne und Onkel Raji sich gegenseitig auf den neusten Stand gebracht haben, lenkt Étienne das Gespräch auf mich. »Raji ... darf ich dir meine Freundin Elisabeth Pommier vorstellen?«

Onkel Raji strahlt mich an. »Sehr erfreut, Mademoiselle. Es kommt nicht oft vor, dass Étienne eine Freundin mitbringt.«

»Wirklich?«, frage ich erstaunt.

Étienne lacht und klopft Onkel Raji auf die Schulter. »Man stellt ja auch nicht jede Bekanntschaft gleich seinen Eltern vor.« Er deutet in den hinteren Bereich des Ladens. »Aber da wir schonmal hier sind ... magst du uns nicht ein bisschen herumführen?«

»Aber sicher doch«, erwidert Onkel Raji und schiebt die Ärmel seines Baumwollkaftans hoch, die zwar mehrfach umgeschlagen sind, aber an seinen knochigen Ärmchen trotzdem keinen Halt finden. »Suchst du was Bestimmtes?«

»Ein größeres Bett vielleicht?«, fragt Tammi kichernd, während sie zusammen mit Seymour eine Bücherkiste ausräumt.

Étienne ignoriert ihren Kommentar. »Wenn du so fragst ...« Er und Onkel Raji setzen sich in Bewegung. »... ich denke, ich hätte Verwendung für ein Radio.«

»Da wird es dich freuen, zu hören, dass ich gerade gestern ein neues Exemplar hereinbekommen habe.«

Ich folge Étienne und Onkel Raji hinter den Seidenparavent und durch ein kleines, ziemlich unordentliches Büro in einen großen Lagerraum.

Genau wie im Laden stapeln sich hier alle Arten von Gerätschaften und Materialien. Ich kann mehrere Paletten mit hübschen blau-weißen Keramikfliesen entdecken, daneben eine Kiste mit Feuerwerkskörpern, die eiserne Walze einer Wäschemangel, seltsame Skulpturen von dicken Frauen und ein ganzes Sortiment verschiedener Porzellanfigürchen. Im Zentrum des Lagers steht eine Voiturette – oder vielmehr das Grundgerüst einer Auris & Bader Typ C.

»Sieh dir das an!« Onkel Raji präsentiert Étienne die freigelegten Innereien, den Zweizylindermotor, die Lenkung und das Fahrwerk. »Ist sie nicht eine Schönheit?«

Étienne heuchelt Interesse, aber ich kann ihm ansehen, dass er mit Technik nicht viel anfangen kann.

»Was ist mit Andrea?«, flüstere ich ihm zu.

Étienne lächelt und nickt, zum Zeichen, dass er den Grund unseres Hierseins nicht vergessen hat.

Ich gebe mich vorläufig damit zufrieden und halte stattdessen nach interessanten Fundsachen Ausschau. Und dann entdecke ich es: Ein formschönes Gloriola NW2 der Westragonischen Firma Parhelion. Ein hübscher, geschwungener Kasten mit dezenten Holzintarisien, der auf jedem Nachttisch Platz findet. »Nein!«, entfährt es mir.

Sofort richten sich zwei Augenpaare auf mich.

»Betty?«, fragt Étienne verwundert.

Ich bahne mir meinen Weg durch das Chaos und nehme den Rundfunkempfänger vom Regal. »Ein Gloriola! Und ich dachte, die wären überall ausverkauft.«

»Sie haben ein gutes Auge, Mademoiselle«, lobt Onkel Raji. »Ich bin durch ...« Er räuspert sich. »... günstige Umstände in Besitz dieses Exemplars gelangt.«

Ich bin mir darüber bewusst, dass diese ›günstigen Umstände‹ möglicherweise Diebstahl umfassen, aber das ist mir egal. Noch vor ein paar Tagen wäre ich selbst über Leichen gegangen, um mir eines dieser Geräte zu sichern. »Der NW2 ist so modern«, schwärme ich, während ich das Radio hin und her drehe und die nur leichten Gebrauchsspuren begutachte. »Es hat einen Drehkondensator und einen ganz neuen Überlagerungsempfänger.«

»Na, sieh dir das an, Onkel Raji. Du solltest sie einstellen«, bemerkt Étienne scherzhaft.

Onkel Raji lacht meckernd. »Besser nicht. Sie würde nur meine Angestellten ablenken.« Er schnalzt mit der Zunge. »Aber was hältst du davon, Étienne? Ich mache dir einen Freundschaftspreis für den Rundfunkempfänger.«

»Nein«, mische ich mich ein. »Ich will dieses Radio und ich werde auch dafür bezahlen.«

»Es macht mir nichts aus, Betty«, sagt Étienne.

»Ich weiß, aber du hast schon so viel für mich gemacht.«

Étienne mustert mich noch einen Moment abschätzend, dann zuckt er mit den Schultern. »Du hast das Fräulein gehört, Raji. Aber wehe, du haust sie übers Ohr.«

»Ich stelle Ihnen einen Schuldschein aus«, versichere ich und presse mir das Radio fest an die Brust.

Natürlich freue ich mich über Étiennes großzügiges Angebot und vermutlich wird ihn dieses Radio (im Gegensatz zu mir) nicht finanziell ruinieren, aber ich kann einfach nicht noch mehr Hilfe von ihm annehmen.

»Da wir aber gerade vom Geschäft reden ...«, sagt Étienne.

»Oh, jetzt komm's«, lacht Onkel Raji, als hätte er schon geahnt, dass wir nicht wegen des Radios gekommen sind.

»Wir sind auf der Suche nach jemandem«, fährt Étienne fort.

»Aha ... aha ...« Onkel Raji nickt und schiebt sich die Ärmel über die Ellenbogen. »Und wen sucht ihr?«

»Sagt dir der Name Roland Narcisse etwas?«

Onkel Rajis Miene wird ernst. Offenbar hat er schon gehört, was mit Narcisse geschehen ist. »Der Professor, der ermordet wurde ...«

»Ganz genau.«

»Hast du etwas damit zu tun?«

»Natürlich nicht«, schnaubt Étienne.

»Es geht um Narcisse' Sekretärin«, wende ich ein. »Andrea.«

»Andrea«, wiederholt Onkel Raji.

»Kennst du sie?«, fragt Étienne.

Onkel Raji scheint nachzudenken, schiebt seine Ärmel hoch und spielt mit der Zunge an einem seiner verbliebenen Schneidezähne. »Andrea Feige.«

»Ist das ihr Nachname?«, frage ich.

»Ich glaube schon.« Onkel Raji zieht an seinem Bart. »Monsieur Narcisse hatte viele Freunde in Jouyan-sin und er hat auch ab und zu Handwerksarbeiten in Auftrag gegeben. Und Madame Feige hat diese Geschäfte für ihn abgewickelt, wenn ich mich nicht irre.«

»Sie wissen nicht zufällig, wo wir Madame Feige jetzt finden können, oder?«

Onkel Raji legt die Stirn in Falten. »Étienne ...«

»Es ist wichtig«, sagt Étienne. »Wirklich wichtig.«

Der alte Mann zögert noch einen Moment, dann gibt er ein winselndes Geräusch von sich und scheint ein Stück in sich zusammenzusacken. »Na schön ... ich sehe mal, was ich tun kann. Ihr wartet am-«

In diesem Moment gibt es einen ohrenbetäubenden Knall. Mein Herz macht einen erschrockenen Satz. Die Wände des Lagers erzittern und die Warenstapel geraten in Bewegung. Porzellanfiguren klirren und Fliesen scheppern. Staub rieselt von den Dachbalken herunter.

Étienne rückt näher zu mir und ich umklammere mein Radio.

Noch ehe das Dröhnen verstummt ist, kommen Seymour und Tammi aus dem Nebenraum gelaufen.

»Was ist da los?«, fragt Étienne.

»Keine Ahnung«, erwidert Seymour. »Klang wie eine Explosion.«

»Vielleicht ist mal wieder ein Kessel explodiert«, schlägt Tammi vor.

Wir tauschen Blicke, wie Duellanten, die auf ein verräterisches Zucken im Gesicht ihres Gegners warten, dann setzen wir uns alle gleichzeitig in Bewegung und rennen zurück in den Laden.

Von draußen dringen aufgeregte Stimmen herein. Étienne und Seymour umrunden den Tresen und schieben das Tor auf. Das Geschrei wird lauter. Menschen flüchten die Straße hinunter. Rauchschwaden ziehen durch die Gassen und der Gestank von Schwarzpulver liegt in der Luft.

»Das war bestimmt kein Kessel«, sagt Seymour, auch wenn ich keine Ahnung habe, woher er diese Überzeugung nimmt.

Étienne nickt zustimmend. »Raji ... wir brauchen diese Adresse. Und zwar so schnell wie möglich.«

Onkel Raji starrt in die dunklen Schwaden.

»Hast du gehört?«, setzt Étienne nach.

»Ich bin ... gleich wieder da ...« Mit diesen Worten fährt Onkel Raji herum und verschwindet hinter dem Tresen, um irgendwelche Bücher durchzusehen. Nach ein paar Sekunden geht Tammi ihn zur Hand.

»Was ... was ist hier los?«, frage ich.

»Das eiserne Kreuz hat wieder zugeschlagen«, brummt Seymour.

Seine Worte ergeben für mich keinen Sinn.

»Ein Anschlag«, erklärt Étienne.

»Lange her, dass die Eisenkreuzbewegung zuletzt einen Anschlag auf Jouyan-sin verübt hat«, gibt Seymour zu. »Aber vielleicht ist das ihre Reaktion auf den Mord an Narcisse, der ihnen in die Schuhe geschoben werden soll.«

»Oder es soll so aussehen«, murmele ich.

Niemand widerspricht mir.


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