33) Ein unerfreuliches Wiedersehen
Noch während Seymour das sagt, entsteht am Michii-Stand ein Tumult.
Mehrere Joumin sind aufgetaucht und haben Étienne umstellt. Einer von ihnen kommt mir bekannt vor. Und dann fällt mir auch wieder ein, woher ich ihn kenne. Es ist der Joumin-Kaufmann aus dem Luftschiff. Der Vater der kleinen Mae.
»Ach, verdammt«, ächzt Seymour.
Die Männer, mit denen Maes Vater unterwegs ist, wirken grobschlächtig, so wie Étienne selbst. Schlägertypen mit Narben im Gesicht und an den Händen. Vermutlich haben sie auch irgendwo ein verbotenes Klappmesser versteckt. Sie umringen Étienne und es sieht so aus, als wollten sie eine Schlägerei anzetteln. Étienne lehnt mit dem Rücken am Michii-Stand, hat die Hände erhoben und redet scheinbar beschwichtigend auf seine Gegner ein.
»Warten Sie hier«, sagt Seymour und drängt sich durch die Menge.
Natürlich höre ich nicht auf ihn und folge ihm.
Étienne und seine Angreifer schubsen sich gegenseitig, wie kleine Jungen auf dem Schulhof. Alle reden gleichzeitig und Maes Vater überzieht Étienne mit einer Schimpftirade.
»Ich wusste, dass es eine blöde Idee war, herzukommen«, knurrt Seymour und stößt einen Passanten aus dem Weg.
Ich halte mich hinter ihm. Frauen und Kinder weichen vor uns zurück.
Étienne diskutiert mit seinen Angreifern. Da sie auf Joumon sprechen, verstehe ich nicht, was sie sagen, aber mit Sicherheit geht es um die kleine Mae.
Auf einmal packt einer der Männer Étienne am Kragen und drängt ihn gegen den Michii-Stand. Dabei fallen Becher, Servietten, Schüsseln mit Teigtaschen und Honig zu Boden. Étiennes Arm streift den Herd und einen Topf mit siedendem Fett. Er kriegt einen Holzlöffel zu fassen und zieht ihn seinem Angreifer über den Schädel. Der Mann lässt ihn los und stolpert zurück. Sofort nehmen die Anderen seinen Platz ein. Zu dritt gehen sie auf Étienne los. Fäuste fliegen und weitere Kochutensilien landen auf der Straße.
Seymour beschleunigt seine Schritte und zückt ein Messer.
»Hey!«, rufe ich und weiß selbst nicht so genau, wen ich damit meine.
Maes Vater fährt herum.
Im selben Moment wird er von Seymour an der Schulter gepackt. »Rufen Sie Ihre Straßenköter zurück«, verlangt Seymour, während er dem alten Mann die Klinge zwischen die Rippen presst.
Einer der anderen Joumin will sich auf ihn stürzen und ihn von Maes Vater wegzerren, aber Seymour weicht ihm aus und schlitzt ihm in der Rückwärtsbewegung den Unterarm auf. Blut tropft auf die Straße. Der Mann keucht vor Schmerz. Ein zweiter Joumin lässt von Étienne ab, zerrt Seymour herum und nimmt ihn von hinten in den Schwitzkasten. Seymour verdreht die Augen, rammt dem Mann erst das Messer in den Oberschenkel, dann den Ellenbogen ins Gesicht und nutzt den entstehenden Freiraum, um sich aus dem Griff seines Angreifers zu winden.
Derweil verwickelt Étienne die anderen beiden Joumin in einen Boxkampf. Einer der zwei bekommt eine Faust ans Kinn, der andere einen Aufwärtshaken in den Magen. Étienne selbst wird an der Schläfe getroffen, stolpert rückwärts und reißt dabei den halben Michii-Stand um. Eine Dampfwolke schießt in die Höhe und heißes Fett spritzt in alle Richtungen. Die Männer heben die Hände und taumeln davon, um sich zu schützen. Étienne packt einen von ihnen und rammt ihn – Nase voran – gegen die nächstgelegene Hauswand.
Ich weiß nicht, was ich machen soll. Doch dann entdecke ich Maes Vater, der ebenfalls nur zusieht.
Mit schnellen Schritten bin ich bei ihm und schiebe mich zwischen ihn und das Kampfgeschehen. »Misa!«, sage ich, weil die traditionelle Begrüßung das einzige Joumon-Wort ist, das ich kenne.
Der alte Mann blinzelt verwirrt. Er sieht schlecht aus. Wässriger Blick, dunkle Tränensäcke unter den Augen, schlaffe Wangen, ein ungepflegter Bart und fahle Lippen. Eigentlich tut er mir leid. Ich weiß nicht genau, weshalb er hinter Étienne her ist, aber vielleicht weiß er nichts von dem Fluch und denkt wirklich, Étienne hätte seine Tochter entführt.
»Hören Sie, Herr Jibun«, sage ich und bemühe mich um einen ruhigen Tonfall. »Was auch immer Sie glauben, aber es ist nicht, wie Sie denken.« Ich deute mit einem Kopfnicken auf Étienne, der soeben einem der vier Joumin einen Kopfstoß versetzt. Seine Schläfe, sein Hemd und seine Fäuste sind voller Blut, aber er lacht und scheint in seinem Element zu sein. »Beenden Sie das, dann können wir über Ihre Tochter reden.«
»Es gibt nichts zu reden«, erwidert Herr Jibun mit starkem Akzent. Er zeigt mit einem krummen Finger auf Étienne. »Dieser Bore-Shimin hat mir meine kleine Mae genommen. Wer weiß, was er ihr angetan hat.«
»Gar nichts«, erwidere ich. »Ihrer Tochter geht es gut.« Ich zwinge mich zu einem Lächeln. »Also ... bitte, sagen Sie Ihren Freunden, dass sie aufhören sollen.«
Herr Jibun denkt jedoch gar nicht daran. »Was wissen Sie von meiner Tochter?«
»Ich habe sie gesehen«, antworte ich und hoffe, dass ich damit nicht zu viel verrate.
Herr Jibun deutet erneut auf Étienne. Seine schwarzen Augen scheinen ihre Lethargie abzuschütteln und bekommen einen lauernden Glanz. »Sie gehören zu diesem Shimin?« Er spricht das letzte Wort aus, als wäre es eine Beleidigung. Und vielleicht ist es das auch. Möglicherweise sind Mischlinge sowohl bei den Ostragonen als auch bei den Joumin nicht hoch angesehen.
»Ich ... ich wohne vorübergehend bei ihm«, sage ich.
»Und Sie haben meine kleine Mae gesehen?«
»Das habe ich und ich kann Ihnen versichern, dass es ihr gut geht.«
Herr Jibun kneift die Augen zusammen. »Sie lügen.«
Aus irgendeinem Grund kränkt mich diese Anschuldigung. Ich lüge viel – das lässt sich bei meinem Lebensstil nicht vermeiden – und vielleicht ärgert es mich deshalb so sehr, wenn ich der Lüge bezichtigt werde, obwohl ich ausnahmsweise mal die Wahrheit sage. »Nein, das tue ich nicht«, erwidere ich verschnupft. »Also rufen Sie Ihre Schläger zurück.«
»Sie haben mir gar nichts zu sagen«, knurrt Herr Jibun und wendet sich wieder dem Kampfgeschehen zu. »Kümmern Sie sich gefälligst um Ihre eigenen Angelegenheiten.«
»Das tue ich gerade«, entgegne ich. »Und wenn Sie nicht machen, was ich Ihnen sage, werde ich dafür sorgen, dass Sie Ihre Tochter nie wiedersehen.«
Damit habe ich seine Aufmerksamkeit.
»Was?«, keucht Herr Jibun.
»Sie haben mich schon richtig verstanden.«
»Das können Sie nicht.«
»Ich weiß nicht, was zwischen Ihnen und Ihrer Tochter vorgefallen ist«, erwidere ich mit einem starren Lächeln, »aber ich weiß, dass Mae freiwillig bei Herrn Romarin lebt. Das heißt, sie ist nicht entführt worden. Dass Sie hier herumlaufen und diese Lügen erzählen, bedeutet vermutlich, dass sie den Kontakt zu Ihnen abgebrochen hat. Und vielleicht hatte sie gute Gründe dazu.« Ich merke, wie irgendetwas in mir aufbricht. Eine alte Wunde, die nie ganz verheilt ist. »Ihre Tochter ist vor Ihnen weggelaufen, ist es nicht so?«
Herr Jibuns Augen werden groß. Er öffnet den Mund, wie um etwas zu sagen, aber ich lasse ihn nicht zu Wort kommen.
»Was haben Sie mit ihr gemacht?«, frage ich drohend.
»Gar nichts«, zischt Herr Jibun.
»Weshalb ist sie dann weggelaufen?«
Étienne wird von einem der Joumin gegen eine Hauswand gedrängt und kann sich nur im letzten Moment unter einer heransausenden Faust hinwegducken. Er schlägt seinem Angreifer in die Leberregion. Der Mann krümmt sich vornüber und Étienne setzt mit einem Kniestoß ins Gesicht nach.
Herr Jibun presst die Kiefer zusammen. Seine Lippen beben, sein Kinn schlackert. »Sie ist nicht weggelaufen.«
»Sparen Sie sich das«, fahre ich ihn an.
»Dieser Bore kam in unser Haus!«, faucht Herr Jibun im gleichen Tonfall. Obwohl ich nicht weiß, was Bore bedeutet, kann ich mir denken, dass er von Étienne spricht. »Er hat gesagt, er könne meiner kleinen Mae helfen und sie hat ihm geglaubt.« Herr Jibuns Stimme überschlägt sich. »Aber sie ist eine Hashmin! Das Einzige, das ihr helfen kann, ist eine Hashouti. Und er hat sie uns weggenommen, bevor wir sie reinigen konnten.« Er ballt die knorpeligen Hände zu Fäusten. »Sie muss zu uns zurückkommen, bevor es zu spät ist.«
In diesem Moment taucht Seymour wieder bei uns auf. »Das reicht jetzt«, sagt er und hält Maes Vater das Messer an die Kehle.
Während der Prügelei ist Seymours Frisur durcheinandergeraten, aber davon abgesehen scheint er weder eine Schramme noch einen Kratzer abbekommen zu haben – und seine dunkle Kleidung verbirgt die Blutspritzer, die er auf jeden Fall abgekriegt haben muss. Sein Blick irrt zu Étienne, der soeben ihren letzten Angreifer mit einem Kochtopf K.O. schlägt. Im Gegensatz zu seinem Buchhalter sieht Étienne auch so aus, als hätte er sich geprügelt.
Nachdem sein Gegner zu Boden gegangen ist, wischt er sich mit dem Ärmel über die blutverschmierte Schläfe, stemmt die Hände in die Taille und sieht sich um. Inzwischen hat sich um uns herum eine Menschentraube versammelt. Alle scheinen gespannt den Atem anzuhalten.
Seymour und Étienne tauschen Blicke. Daraufhin nimmt Seymour die Klinge von der Kehle des alten Mannes und lässt sie wieder in seiner Manteltasche verschwinden.
Étienne betrachtet Herrn Jibun mit einem deutlichen Ausdruck von Abscheu in den Augen und für einen Moment befürchte ich, er könnte diesem Gefühl körperliche Gestalt verleihen, doch dann scheint er es sich anders zu überlegen. »Gehen wir«, sagt er, fasst mich am Arm und schiebt mich ins Gedränge.
Die Joumin weichen vor uns zurück.
»Na, das war ja ein wundervoller Start in den Tag«, grollt Seymour, fährt sich mit den Fingern durch die Haare und schließt sich uns an.
»Wenn du das sagst, klingt das immer so, als würdest du mir die Schuld daran geben«, erwidert Étienne, während wir eine schmale Gasse zwischen zwei traditionellen Jouyan-Häusern ansteuern.
»Was ist eine Hashouti?«, will ich wissen.
Étienne schnaubt. »Eine Art Austreibung.«
»Eine Joumin-Tradition, um Besessene oder Verfluchte zu heilen«, ergänzt Seymour. »Unfassbar grausam.«
»Er hat Mae anketten und sie von einem Joutan-Priester rituell verprügeln lassen. Als wir sie fanden, hatte sie tagelang nichts gegessen.« Étienne stapft die Gasse hinunter. Seine Stimme bebt vor Zorn und seine Finger graben sich schmerzhaft in meinen Arm.
»Étienne!«, beschwere ich mich.
Erst da scheint ihm aufzufallen, dass er mir wehtut. Sofort lässt er mich los.
»Tut mir leid, Betty.« Étienne bleibt stehen und rauft sich die Haare. »Aber dieser Kerl ... ich ...« Er fährt sich mit der Hand über das stoppelige Kinn.
»Er wird nicht aufgeben, bis er seine Tochter zurück hat«, sagt Seymour sachlich.
»Nur über meine Leiche«, knurrt Étienne.
Seymour seufzt. »Das wäre ihm vermutlich nicht Unrecht.« Er wirft einen Blick über seine Schulter. »Aber jetzt sollten wir uns erstmal aus dem Staub machen.«
»Wegen den Gendarmen?«, frage ich und kann nicht verhehlen, dass mich dieser Gedanke beunruhigt.
Étienne lächelt nachsichtig. »Nein, Betty. Die Gendarmen wagen sich nicht so weit nach Jouyan-Sin. Aber die Menschen hier haben ihre eigenen Ordnungshüter und mit denen will ich mich nicht anlegen.«
»Das sind ja ganz neue Töne«, spottet Seymour.
»Na schön«, gibt Étienne zu. »Heute nicht. Die arme Betty soll mich nicht für einen Raufbold halten.«
»Tja, zu spät«, erwidere ich schnippisch, strecke die Hand nach seinem Gesicht aus und streiche ein paar zerzauste Haarsträhnen beiseite, damit ich die Platzwunde an seiner Schläfe besser untersuchen kann. »Aber solange du dich für einen guten Zweck prügelst, kann ich damit umgehen.«
Étienne wirft Seymour einen Ich-hab-es-dir-doch-gesagt-Blick zu, den ich als Kompliment verstehe. Nur das viele Blut in Étiennes Gesicht hält mich davon ab, ihm einen Kuss auf die Wange zu drücken.
»Wie weit ist es denn noch bis zu diesem Onkel Raji?«, frage ich stattdessen. »Du blutest und brauchst einen Verband.«
»Nicht mehr weit«, antwortet Étienne und deutet die Straße hinunter. »Gleich da vorne, neben dem großen Tor.«
»Dann los«, drängt Seymour. »Uns gegenseitig belobhudeln können wir auch später noch.«
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