31) Rückkehr nach Tournesol

Nachdem wir uns gewaschen und umgezogen haben, wollen Étienne und ich aufbrechen. Allerdings besteht Seymour darauf, uns zu begleiten. Étienne ist nicht begeistert von diesem Vorschlag, aber sein Freund lässt sich nicht abschütteln. Seymours Meinung nach kämen Mae und Isabel auch ohne ihn zurecht und zudem würde Adeline jeden Moment nach Hause zurückkehren.

Ich warte vor der Tür, während Étienne und seine Mitbewohner das Thema beraten.

Auf dieser Seite des Anwesens, die den Klippen abgewandt ist, herrscht eine ländliche Postkarten-Idylle. Halbhohe Wiesen, eingezäunte Weiden, hölzerne Stallungen und grasende Schafe. Über dem Meer sind bereits Wolken aufgezogen, aber über der Insel scheint noch die Sonne und lässt die Natur in warmen Herbstfarben erstrahlen. Es riecht salzig, ein bisschen modrig, nach nasser Erde und feuchtem Laub.

»Du musst auf Mae achtgeben«, höre ich Étienne sagen. Kurz darauf erscheint er mit seiner Tochter im Flur. »Sie hat schon wieder diese Kopfschmerzen.«

»Ich weiß, ich weiß.« Isabel verdreht genervt die Augen. »Ich kümmere mich schon um Mae.«

Étienne droht ihr spielerisch mit dem Zeigefinger. »Ich will keine Brandflecken finden, wenn ich wiederkomme.«

»Wirst du nicht«, verspricht Isabel. Als sie mich entdeckt, kämmt sie sich rasch die Haare über die Ohren.

Ich will ihr sagen, dass das nicht nötig ist, überlege es mir aber im letzten Moment anders. Isabel und ich müssen uns aussprechen. Aber nicht jetzt.

»Und falls dieser Faucon auftaucht ...«, beginnt Étienne, aber Seymour fällt ihm ins Wort.

»Unwahrscheinlich«, sagt er. »Der Kerl wird genug mit dem Scheißhaufen zu tun haben, den er in der Malvenallee hinterlassen hat. Den sehen wir frühestens heute Abend wieder.«

»Ich hoffe, du hast Recht«, seufzt Étienne. »Aber falls nicht-«

»Ich bin nicht mehr fünfzig«, murrt Isabel. »Und wenn er nur ein Halbblut ist-«

»Ein Halbblut vielleicht«, kontert Étienne. »Aber du bist noch ein Kind und er ist erwachsen.«

»Dir ist aber schon klar, dass ich älter bin als du – und vermutlich auch als er?«

»Natürlich. Doch in Elfenjahren bist du noch-« Étienne zeigt mit Daumen und Zeigefinger eine Distanz von vielleicht drei Zentimetern.

Isabel spiegelt die Geste. »Das ist wohl eher was anderes.«

»Und was?«, fragt Étienne herausfordernd.

»Dein Vertrauen zu mir.«

Étienne lächelt und streichelt Isabel liebevoll über die Haare. »Ich vertraue dir, Bella. Pass einfach gut auf dich und Mae auf. Momo, Betty und ich werden bald wieder zurück sein und vielleicht finden wir in der Zwischenzeit etwas über unser Fluch-Problem heraus.« Er zögert. »Und möglicherweise erfahren wir auch was über deine Verwandtschaft und was mit ihnen passiert ist.«

Isabel kräuselt die Lippen. Ihr Blick wandert zu mir und ihre ungewöhnlich grünen Augen verengen sich zu Schlitzen. Sie traut mir nicht. Ich kann nicht sagen, dass ich ihr das verübele.

»Nun komm schon ...« Étienne bückt sich und zieht Isabel in eine Umarmung, die diese erst zaghaft, dann stürmisch erwidert. Offenbar ist sie doch noch mehr Kind, als sie sich eingestehen will.

Seymour nickt mir zu. »Gehen wir.«

Ich folge Seymour die Stufen hinunter.

In einem Unterstand neben dem Schlammweg, der zum Anwesen führt, parkt eine Voiturette. Spuren deuten darauf hin, dass sie eines von zwei Fahrzeugen ist. Das andere hat vermutlich Adeline genommen. Die verbliebene Voiturette ist ein eher sportliches Modell, ohne Verdeck, mit einer lederbespannten Sitzbank, die gerade breit genug für drei Personen ist. Vermutlich wird Étienne die Luft anhalten und die Schultern einziehen müssen.

Schweigend nehmen Seymour und ich Platz. Wir haben uns nicht viel zu sagen. Ich lasse unseren Streit gedanklich Revue passieren und überlege, ob es meine Aufgabe wäre, ihm ein Friedensangebot zu unterbreiten. Doch was habe ich ihm anzubieten? Seymour will mich nicht hier haben, weil er mich für ein einfältiges Flittchen mit einem Hang zum Masochismus hält. Das ist seine Meinung. Dafür muss ich mich nicht entschuldigen.

Während wir auf Étienne warten, zückt Seymour das Büchlein, in dem ich ihn schon mehrfach blättern und lesen gesehen haben. Dann zieht er einen Füllfederhalter aus seiner Reverstasche, nimmt die Kappe ab und macht sich eine Notiz. Ich kann nicht lesen, was er schreibt, aber er tut es mit einer Ruhe und Konzentration, als würde er zwei Substanzen miteinander vermischen, die bei jeder abrupten Bewegung in die Luft fliegen könnten.

»Na, seid ihr bereit?«

Étienne kommt angelaufen und quetscht sich zu uns auf die Sitzbank, sodass ich gegen Seymour gedrückt werde und Seymours Stift auf dem Papier abrutscht. Verärgert betrachtet er erst den dunklen Tintenstrich, der sich über seine Notizen zieht, und dann mich, als wäre ich schuld an seinem Missgeschick.

Um davon abzulenken, wende ich mich an Étienne. »Wo wollen wir denn überhaupt hin?«

»Ins Jouyan-Viertel«, antwortet Étienne, während Seymour sein Büchlein wegsteckt und den Motor startet.

Das Jouyan-Viertel, wiederhole ich in Gedanken.

In jeder größeren Stadt Ostragons gibt es mindestens ein Jouyan-Viertel. Dort wohnen hauptsächlich Joumin und Shimin. Deshalb sieht dort alles aus wie in dem fernen Land hinter den Teppichbergen. Farbenfrohe Häuser und Stoffe, rustikale Holzdächer, bunte Reispapier-Laternen, halbseidene Schmuckhändler, fröhliche Straßenverkäufer, Musikanten mit traditionellen Flöten und Trommeln.

Allerdings haben diese Viertel auch ihre Schattenseiten. Viele der Bewohner sind arm und es herrscht eine hohe Kriminalitätsrate. In Lierre kann man sich als Nicht-Joumin nicht ins Jouyan-Viertel wagen, ohne ausgeraubt zu werden. Dazu kommt, dass die Joumin das Monopol auf illegales Glücksspiel, zwielichtige Zinsgeschäfte und den Handel mit Jingsu, einer betäubend wirkenden Substanz aus Schwarzveilchensamen, besitzen.

Für gewöhnlich vermeide ich es, Jouyan-Viertel zu betreten. Diese Vermeidungshaltung scheint auf Gegenseitigkeit zu beruhen, denn die Joumin halten nichts von Schlafheilern. Sie haben ihre eigene traditionelle Medizin und kämen nie auf den Gedanken, mich anzuheuern.

»Und was wollen wir da?«, frage ich.

»Wir besuchen einen Freund meiner Mutter«, sagt Étienne, lehnt sich zurück und legt mir den Arm um die Schultern. »Du wirst ihn mögen.«

»Wieso?«

»Er ist ein bisschen unkonventionell.«

Ich runzele die Stirn. »Hältst du mich für unkonventionell?«

Étienne sieht mich an, als hätte ich ihn gefragt, ob meine Augen blau sind. »Ich ... also ...« Er beißt sich auf die Zungenspitze. »Nein?«

»Weißt du, was unkonventionell ist?«, entgegne ich. »Ein Rinderzüchter, der selbst ein Rindvieh ist. Das ist unkonventionell. Streng genommen ist es sogar ein bisschen obszön, wenn man mal darüber nachdenkt.«

»Ich bin kein Rinderzüchter«, widerspricht Étienne eilig.

»Hast du nicht neulich noch behauptet-«

»Na schön. Mein Vater hat Rinder gehalten und wir haben noch genau eine Kuh, aber die ist uralt.« Er deutet auf die Wiesen und Weiden, die an uns vorbeifliegen. »Der Rest sind Schafe.«

»Dein Vater hat also Rinder gehalten, obwohl er selbst ein Rind war?«

»Ja ...« Étienne stöhnt und reibt sich mit den Händen über das Gesicht. »Aber das ... das war nicht, wie du jetzt denkst.«

»Sie hat nicht ganz Unrecht«, bemerkt Seymour, während er die Voiturette durch den Schlamm steuert, sodass der Matsch zu beiden Seiten hochgewirbelt wird. »Das ist mehr als nur ein bisschen seltsam. Sicher, dass du nicht noch ein paar tierische Geschwister hast?«

Étienne wirft Seymour über meinen Kopf hinweg einen bösen Blick zu.

Ich will lachen, bringe jedoch keinen Ton heraus.

Als wir das Gelände des Romarin-Anwesens durch das kaputte Holztor verlassen, überkommt mich eine drückende Schwermut. Das vage Gefühl von Sicherheit, das ich im Innern des Hauses verspürt habe, zerstreut sich in alle Winde. Mir wird wieder bewusst, wie groß die Gefahr ist, in der ich schwebe.

Kaum habe ich das gedacht, beginnt die Wunde an meinem Arm zu schmerzen. Ich lege die Hand darüber und versuche, meine negativen Gedanken abzuschütteln. Doch das ist nicht so leicht. Kann Étienne mich wirklich beschützen, wenn wir Faucon oder den Männern vom Corps über den Weg laufen? Und will ich überhaupt, dass er sich für mich in Gefahr begibt?

Solange ich auf Menthe festsitze, bin ich eine Gejagte. Daran kann auch Étienne nichts ändern. Meine Tage könnten bereits gezählt sein. Vielleicht bleiben mir nicht einmal mehr Tage, sondern bloß Stunden oder Minuten.

Das letzte Mal, dass ich mich so schutzlos und ausgeliefert gefühlt habe, war in der Nacht, in der es nach Orangen duftete. Ich spüre, wie es mich in das Labyrinth zieht, das tief in meinem Innern verborgen liegt. Wie ein Vortex, der alles an sich reißt, das ihm zu nahe kommt. Der Sog zerrt an mir, zieht mich hinunter in die Dunkelheit. Ich sehe die Lichter auf der feuchten Straße, spüre die Kälte, die Einsamkeit, das Verlassensein, als hätte man etwas von mir abgeschnitten. Etwas Warmes und Schönes, Gutes und Sicheres. Etwas, das mir Halt und meinem Leben einen Sinn gegeben hat. Und jetzt bin ich allein. Allein auf der Suche nach einer Sache, die nie wieder ein Teil von mir sein kann, selbst wenn ich sie wiederfände. Ich bin verloren in der Finsternis. Für immer.


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