30) Rindvieh-Instinkt
Ich schiebe mich an ihm vorbei und betrete ein Turmzimmer mit Fenstern an allen Seiten. Im Zentrum des Raumes steht ein Himmelbett mit einem hellblauen Baldachin. Die restlichen Möbel sind mit Tüchern abgedeckt. Unter einem der Tücher kann ich die Umrisse eines Grammophons erkennen. Staubteilchen tanzen in der Luft und scheinen im hereinfallenden Sonnenlicht beinahe zu glühen.
»Das ist ... wunderschön«, hauche ich.
»Du kannst es haben«, erwidert Étienne, stopft die Hände in die Hosentaschen und wandert an den Fenstern entlang. »Es steht ohnehin leer. Und hier oben hättest du deine Ruhe.«
Mein Herz schlägt schneller, aber ich rufe mich zur Raison. »Danke, wirklich, aber ich kann das nicht annehmen, Étienne.«
»Es ist nur für die Zeit, in der du hier wohnst.«
Langsam gehe ich zu dem Grammophon und schäle es aus seiner Hülle. Der goldene Trichter funkelt im Sonnenschein.
Étienne wirft einen kurzen Blick über die Schulter. »Unten im Keller müssten wir auch noch ein paar Schallplatten haben. Allerdings nur seichte Kammermusik und rührselige Chansons. Altes Zeug, das nicht einmal mehr im Radio gespielt wird.«
»Ich liebe Musik«, seufze ich. »Und ich liebe das Radio.«
»Na ja, dann treiben wir vielleicht noch eins für dich auf.«
»Es gibt hier kein Radio?«
»Nicht im Haus, nein«, antwortet Étienne. »Isabel mag keine modernen Geräte oder Maschinen. Die ...« Er lässt den Zeigefinger neben seiner Schläfe kreisen. »... machen irgendwas mit ihrer Magie.«
»Und es ist wirklich in Ordnung, wenn ich vorübergehend hier einziehe?«
»Sonst würde ich es dir nicht anbieten.«
»Danke, Étienne.«
Ich fasse nach der Kurbel und ziehe das Grammophon auf. Ein paar Umdrehungen müssen reichen. Dann entferne ich den Plattenstopper und lege die Nadel auf den Beginn der Platte. Zuerst dringt lediglich ein Knarzen aus dem Trichter, dann ein melodisches Brummen.
»Wolltest du mir nicht die Namen der Flüche verraten?«, frage ich, während die Musik um mich herum Gestalt annimmt. Ein alter ostragonischer Chanson, vorgetragen von einer Frauenstimme, die klingt, als würde die Sängerin mehrere Dutzend Zigarren am Tag rauchen.
Étienne wendet sich vom Fenster ab. »Ja, das wollte ich.«
Ich wiege mich im Takt der Musik.
»Aber du lenkst mich ab.«
»Tue ich das?«, frage ich und klimpere unschuldig mit den Wimpern.
Étienne seufzt schicksalsergeben. »Die anderen Flüche hier im Haus sind der Nienich-Fluch, der Goldmarie-Fluch und der Feuervogel-Fluch.« Er hebt mahnend den Zeigefinger. »Aber wenn du mehr darüber wissen willst, musst du mit Seymour, Adeline und Mae reden. Es steht mir nicht zu, für sie zu sprechen.«
»Das mache ich«, verspreche ich Étienne und strecke die Hände nach ihm aus.
Er gibt sich einen sichtbaren Ruck und kommt zu mir. Wir bewegen uns gemeinsam zur Musik. Es ist kein ausgelassener Tanz – danach steht uns in Anbetracht der Umstände nicht der Sinn – aber ein langsames, vertrauliches Schunkeln.
Ich schlinge die Arme um Étiennes Taille und lege den Kopf gegen seine Schulter. »Denkst du, Faucon wird mich weiter jagen?«
»Ich befürchte es«, murmelt Étienne. Seine Hände gleiten über meinen Rücken. »Und wenn wirklich er es ist, der schon seit Jahren Jagd auf Verfluchte macht, sind wir alle in Gefahr.«
»Aber wieso sollte er Jagd auf Verfluchte machen?«
»Keine Ahnung. Es spricht jedoch vieles dafür. Als Elf oder Halbelf hat er die angeborene Fähigkeit, Verfluchte zu erkennen.«
»So wie Isabel?«
Étienne nickt.
Ich spüre seine Körper, fest und warm, wie ein Fels, der sich in der Sonne aufgeheizt hat.
»Es funktioniert aber nicht auf die Distanz. Das bedeutet, Elfen müssen nahe an ihr Ziel herankommen, um zu erkennen, ob es sich um einen Verfluchten handelt.« Étienne seufzt. »Dummerweise war Faucon gestern Abend ziemlich nahe an Adeline und Momo.«
»Tut mir leid«, murmele ich. »Wenn ich das gewusst hätte ...«
»Mach dir keine Gedanken. Wir biegen das irgendwie wieder gerade.« Étienne macht einen Ausfallschritt zur Seite und wirbelt mich herum.
Ich klammere mich an ihn und muss kichern. »Lass das.«
»Wieso?«
Étienne wirbelt mich noch einmal durch die Luft. Dadurch geraten wir beide ins Taumeln, stolpern durch das Zimmer und fallen aufs Bett. Eine Staubwolke explodiert um uns herum. Der Staub brennt in meinen Augen und reizt meine Atemwege. Halb blind und hustend rutsche ich über die Bettkante und lande unsanft auf dem Dielenboden.
»Tut mir leid«, keucht Étienne. »Wir müssen hier wohl erstmal Staubwischen.«
»Ach ja?«, krächze ich. »Wie kommst du denn darauf?«
Étienne wischt sich eine Träne aus dem Augenwinkel. »Keine Ahnung. Rindvieh-Instinkt.«
»Gibt es den wirklich?«
»Ich glaube schon.« Étienne lässt sich ebenfalls vom Bett rutschen, sodass wir nebeneinander sitzen. »Leider habe ich nicht gelernt, in Tiergestalt mit meinen Artgenossen zu sprechen. Anders als Oma Shira.«
»Oma Shira? Wer ist das?«
»Eine Kuh«, antwortet Étienne schmunzelnd. »Mein Vater hat mir erzählt, sie wäre seine Mutter und die einzige Frau aus unserer Familie, die sich verwandelt hätte. Und dummerweise hätte sie vergessen, wie man sich zurückverwandelt.«
»Echt?«
»Keine Ahnung.«
Étienne lässt den Kopf zurücksinken. Sein Kehlkopf sticht durch die gerötete Haut an seinem Hals. »Wenn wir nur wüssten, was Narcisse über die Elfenflüche herausgefunden hat.«
»Wieso?«
»Weil uns das unserer Heilung näherbringen könnte.«
Ich denke an Theo. Und an die Flüche, die Étienne aufgezählt hatte. Einer davon kommt mir bekannt vor.
Der Goldmarie-Fluch.
Ich kenne ein dazu passendes Märchen. Darin wird alles, was ein unschuldiges Bauernmädchen anfasst, zu Gold. Auch ihre Eltern und ihr kleiner Bruder. Mir fallen Adelines Handschuhe ein. Ich habe sie noch nie ohne Handschuhe gesehen. Und wie aus dem Nichts muss ich wieder daran denken, was Narcisse vor dem Theater zu mir gesagt hat. Sie hat ihren Mann umgebracht. Das erzählt man sich jedenfalls. Seine Leiche ist nie gefunden worden.
»Étienne ...«, flüstere ich.
Étienne beugt sich zu mir. »Ja?«
Die Musik aus dem Grammophon verstummt.
»Letzte Nacht, als das mit Faucon passiert ist, da habe ich Narcisse gedrückt.«
»Als Teil deiner Schlafbehandlung, nehme ich an.«
»Ja ...« Ich beiße mir auf die Unterlippe. »Aber in seinem Traum, da habe ich etwas gesehen.«
»Was?«
»Eine Maschine, glaube ich.«
Étienne zieht die Brauen zusammen. »Was für eine Maschine?«
»Ich weiß es nicht, aber ich glaube, sie war magisch.«
»Wieso träumt Narcisse von magischen Maschinen?«
Unruhig rutsche ich auf dem Dielenboden herum. »Ich vermute, dass er von so einer Maschine Kenntnis hatte. Vielleicht hat er sie gesehen. Vielleicht hat man ihm davon berichtet.«
»Sicher? Könnte es nicht einfach nur eine Fantasie gewesen sein?«
Ich schüttele den Kopf.
»Woher weißt du-«
»Ich kann es dir nicht erklären. Nenn es meinen Rindvieh-Instinkt.«
»Na schön, aber was ist so interessant an dieser Maschine?«
»Nichts«, erwidere ich schulterzuckend. »Es geht vielmehr darum, wer sie benutzt hat.« Ich halte inne und überlege, wie ich es Étienne sagen soll.
»Hey«, brummt Étienne und stößt mich mit der Schulter an. »Raus damit.«
Daraufhin sprudeln die Worte einfach so aus mir heraus. »Es waren die Truppen des Königs, die diese Maschine verwendet haben.«
»Du meinst ...?«
»Ja.« Ich nicke heftig. »Vielleicht bin ich verrückt, aber ich glaube, diese Maschine hat existiert – und die Menschen haben sie im Krieg gegen die Elfen eingesetzt.«
»Bist du dir ganz sicher?«
»Nein«, gebe ich zu. »Ich weiß nur, dass es diese Maschine geben muss. Sie war zu ... spezifisch, um ein reines Fantasiegebilde zu sein. Und du hast selbst gesagt, dass Elfen keine Maschinen mögen, also kann diese Maschine nur menschengemacht sein.«
Für einige Sekunden herrscht Schweigen. Étienne scheint nachzudenken. Dabei presst er die Lippen zusammen und knetet seine Finger. Schließlich scheint er zu einem Entschluss gekommen zu sein. Ein Lächeln erhellt sein Gesicht.
»Was hast du?«
»Na ja, vielleicht sollten wir uns mal umhören, was es mit dieser Maschine auf sich hat.«
»Und wie willst du das machen?«
Étienne zieht sich am Bett auf die Beine. »Es muss doch jemanden geben, der Narcisse gut gekannt hat. Seine Frau zum Beispiel.«
»Eher nicht«, brumme ich.
Étienne wirft mir einen irritierten Blick zu, hält sich aber nicht lange mit dem Gedanken auf. »Kinder? Eine Sekretärin ...?«
»Andrea!«, fällt es mir wieder ein.
»Sehr gut.« Étienne klatscht in die Hände. »Du kennst nicht zufälligerweise auch ihren Nachnamen?«
»Nein. Leider.«
»Na, das macht nichts.« Étienne reicht mir die Hand und zieht mich mit einem schwungvollen Ruck auf die Beine. »Westragonische Namen sind auf Menthe nicht besonders weit verbreitet. Wir werden uns durchfragen.«
»Warte, Moment mal«, bremse ich Étiennes Feuereifer. »Du willst, dass wir in die Stadt fahren und Nachforschungen anstellen?«
Étienne zeigt mit dem Finger auf mich. »Ganz genau.«
»Aber ist das nicht gefährlich? Was, wenn Faucon auf uns aufmerksam wird? Bestimmt wird überall in der Stadt nach mir gesucht.«
»Du kannst dich doch verwandeln.«
Ich schnaube. »Ja, aber nur kurzfristig.«
»Das wird reichen.« Étienne strahlt wie eine Laterne und irgendwie kann ich seine Freude verstehen. Alles ist besser, als hier herumzusitzen und darauf zu warten, dass Faucon zurückkehren wird. »Glaub mir«, sagt Étienne beschwichtigend, streckt die Hand aus und streichelt meine Wange. »Da wo wir hingehen, wagt sich nicht einmal der Capitaine hin.«
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