29) Baldanders
»Das Haus ist ziemlich verwinkelt«, erklärt Étienne. »Es ist ganz normal, wenn man sich am Anfang verläuft. Sogar ich verlaufe mich noch manchmal.« Er gefällt sich ganz offensichtlich in der Rolle des Fremdenführers und ich bringe es nicht über mich, ihn zu bremsen. »Der erste Stock besteht aus vielen verschiedenen Zwischengeschossen, die alle zu unterschiedlichen Zeiten errichtet worden sind. Aus diesem Grund gibt es hier überall Stufen und Treppen. Man muss gut in Form sein, wenn man hier wohnen will«, ergänzt er lächelnd.
»Das Gasthaus meiner Eltern war genauso.«
»Ach, wirklich?«
Ich nicke. »Viele Generationen haben daran gebaut. Es sieht aus wie eine von diesen verrückten Hutschachteln, die feine Damen manchmal mit sich herumtragen.« Die Erinnerung daran macht mich ganz wehmütig. Meine Familie und ich kommen nicht mehr miteinander aus, aber ich vermisse die alte Zeit.
Étienne scheint mir anzusehen, was in mir vorgeht. »Du hast gesagt, deine Familie und du ...«, beginnt er vorsichtig. »... ihr hättet euch entfremdet.«
»Ja ...«, seufze ich.
»War das wegen des Fluchs?«
Meine Brust zieht sich zusammen und ich bin froh, dass ich Étiennes Hand halten kann, während wir durch die labyrinthischen Korridore wandern. Holzvertäfelte Wände, verschlissene Tapeten, gerahmte Landschaftsgemälde und Einbauschränke mit beeindruckenden Intarsien ziehen an mir vorbei. Am Boden wechseln sich Tonfliesen, dunkle Holzdielen und Jouyan-Teppiche ab.
»Es hat angefangen, als ich etwa sechs Jahre alt war«, berichte ich Étienne. Hinter einer halb offenen Tür kann ich in eine geräumige, aber ziemlich unordentliche Küche sehen. Unwillkürlich frage ich mich, wer in diesem Haushalt für das Kochen verantwortlich ist. »Ich hatte jede Nacht furchtbare Schmerzen und ich musste mich übergeben. Es hat gar nicht mehr aufgehört.«
Étienne nickt, als wüsste er genau, wovon ich spreche.
»Damals habe ich mir noch das Zimmer mit meiner Schwester geteilt und eines Nachts ...« Ich zucke mit den Schultern. »... bin ich einfach auf sie geklettert und habe sie gedrückt. Es war furchtbar, ihren Albtraum mitzuerleben, aber danach ging es mir sofort besser. Die Schmerzen waren weg und ich konnte wieder essen.« Bei diesen Worte lege ich die Hand um den Verband an meinem Arm.
»Bist du die Einzige in deiner Familie, die von dem Fluch betroffen ist?«
»Ich glaube schon.«
»Und wann haben deine Eltern es herausgefunden?«
Wir machen vor einem Fenster halt, durch das ich die Dünen sehen kann, die sich rund um die Felsklippen auftürmen. Der Wind ist stärker geworden und fegt durch das hohe Gras. Die Halme beugen demütig die Köpfe und am Himmel sammeln sich bereits die ersten Wolken.
»Nach ein paar Monaten«, antworte ich leise, schlinge die Arme um Étiennes Arm und halte mich an ihm fest, als könnte ich von der Last der Erinnerungen in die Tiefe gezogen werden.
»Hast du die ganze Zeit deine Schwester gedrückt?«, fragt Étienne.
Ich nicke. »Sie ist immer schwächer geworden ... wollte nicht mehr schlafen, nicht mehr essen, nicht mehr spielen ... und irgendwann hat sie unseren Eltern von mir erzählt. Von dem grauenhaften Gespenst, das sie nachts heimsuchen würde.« Meine Stimme wird ganz leise und brüchig. »Ich hab mich so geschämt«, sind die letzten Worte, die ich herausbringe. Danach starre ich mit glasigem Blick auf das wogende Gras und durchlebe erneut den ganzen Schmerz dieses furchtbaren Abends, als die Wahrheit über mich zum ersten Mal ans Licht kam.
»Ich war auch ungefähr sechs Jahre alt, als ich mich zum ersten Mal verwandelt habe«, sagt Étienne. Obwohl er nicht besonders laut spricht, hallt seine Stimme durch den leeren Korridor. »Genau wie du hatte ich davor furchtbare Schmerzen und danach ging es mir besser, aber ... nur kurz.« Er fasst mit der freien Hand nach dem Fensterrahmen. »Einer der Viehtreiber hatte mich beobachtet und ist natürlich sofort zu meinem Vater gerannt.«
»Du hast dich verwandelt?«, hake ich nach.
Étienne stößt sich vom Fensterrahmen ab, setzt sich wieder in Bewegung und zieht mich den Flur hinunter. Ich folge ihm wie eine Schlafwandlerin. »Theo könnte dir das vermutlich viel besser erklären als ich, aber alle uns bekannten Elfenflüche orientieren sich an klassischen Geschichten, Mythen oder Legenden. Warum das so ist?« Étienne zuckt mit den Schultern. »Keine Ahnung.«
»Druden sind in Ostragon bekannte Gruselwesen«, murmele ich.
»Genau«, stimmt Étienne mir zu. »Mein Fluch ist in Westragon als Baldanders-Fluch bekannt.«
»Baldanders«, wiederhole ich. Der Begriff sagt mir nichts.
»Das heißt: Ich muss mich jede Nacht verwandeln.«
»In was?«
Étienne bleibt am Durchgang zur Bibliothek stehen. Ich habe keine Ahnung, wie wir wieder hierher gekommen sind. »Ach, verdammt«, murmelt er und reibt sich das Kinn.
»Was?«
Er weicht meinem Blick aus. »Du wirst mich auslachen, wenn ich dir das sage.«
»Werde ich nicht.«
»Wirst du.«
»Jetzt sag schon.«
»Sicher?«
»Ja.«
Étienne holt tief Luft. »In ein Rind.«
Ich starre ihn an. »Ein Rind?«
»Ein Ochse.«
Mir kommt eine Erkenntnis. »Dann warst du das gestern Abend!« Meine Mundwinkel zucken. Ich wende mich ab, damit Étienne nicht sehen kann, wie schwer es mir fällt, nicht in lautes Gelächter auszubrechen.
»Was glaubst du, warum hier jeder ständig Rinder-Witze macht?«, brummt Étienne.
»Ein Ochse!«, keuche ich. »Natürlich!«
Étienne zieht die Augenbrauen zusammen. »Was soll denn das bitte heißen?«
Jetzt kann ich mir ein kurzes Lachen nicht mehr verkneifen. »Deswegen hast du so seltsam reagiert, als ich das mit dem Rinderzüchter gesagt habe.«
»Du warst ...« Étienne zieht scharf Luft zwischen den Zähnen ein. »... ziemlich nah an der Wahrheit. Das war schon ein bisschen unheimlich.«
Ich mustere Étienne von der Seite. Die breiten Schultern, der kräftige Nacken, die schwarzen Augen. »Aber du hast auch ein bisschen was von einem Ochsen«, stelle ich fest.
»Tun wir mal so, als hätte ich das nicht gehört.«
»Und was hat dein Vater gemacht, als er davon erfahren hat?«
»Nun, das ist kompliziert. Mein Vater wusste noch nicht, dass er mein Vater ist. Und durch die Sache mit dem Fluch ist seine Affäre mit meiner Mutter herausgekommen.«
»Dann war dein Vater auch von dem Fluch betroffen?«
»Alle Männer in meiner Familie«, sagt Étienne nickend.
»Das heißt ... dein Bruder ...?«
»Ja, auch mein Bruder.« Étienne macht ein paar Schritte in die Bibliothek und streicht mit den Fingern über die schweren Holzregale. Verstaubte Goldplaketten markieren Jahreszahlen und Autorennamen. Es riecht intensiv nach altem Papier, Klebstoff und Möbelpolitur, auch wenn ich mir sicher bin, dass hier schon sehr lange niemand mehr sauber gemacht hat. »Aber mehr gibt es dazu nicht zu erzählen. Cédric ist aufs Meer hinausgefahren und nicht wieder gekommen. Wir vermuten, dass er sich verwandelt haben muss. Vielleicht ist sein Boot dadurch gekentert. Vielleicht hat er es in Tiergestalt nicht zum Ufer zurückgeschafft. Wir werden es nie erfahren.«
Ich folge Étienne durch die eng stehenden Regalreihen. Noch nie habe ich so viele Bücher in einem Privathaushalt gesehen.
»Wie alle Flüche ist der Baldanders-Fluch in Elfmondnächten stärker. Doch dank Isabels Elfenmagie habe ich gelernt, mich zu kontrollieren. Andernfalls wäre unsere Begegnung gestern Abend vielleicht nicht so glimpflich verlaufen.«
»Du hättest mir doch aber nicht wehgetan, oder?«
»Nicht absichtlich«, beteuert Étienne. »Aber wenn ich mich in ein Tier verwandle, kann ich nicht mehr richtig denken. Oder zumindest war das so, bevor Isabel und ich mit dem Training angefangen haben. Ihre Magie ist noch nicht ganz ausgereift, aber sie wird von Jahr zu Jahr stärker.«
Ich weiß nicht, ob ich mich darüber freuen soll. Gleichzeitig wird mir bewusst, dass ich vielleicht etwas zu hart mit Isabel ins Gericht gegangen bin. Immerhin ist sie noch ein Kind. »Was ich vorhin gesagt habe ... über die Elfen und den Dienst an meinem Land, das habe ich gar nicht so gemeint«, gebe ich kleinlaut zu. »Ich war nur so wütend auf Seymour.«
»Weißt du, Betty ...« Étienne biegt um die nächste Ecke und bleibt abrupt stehen.
Kurz darauf weiß ich auch, wieso. Direkt vor ihm steht ein Baum. Eine Pinie, wenn ich mich nicht irre. Ihre Nadelkrone drückt gegen die Decke, ihre Wurzeln wuchern über die Dielen.
»Ach, Theo«, ächzt Étienne und bückt sich nach einer Brille mit halbmondförmigen Gläsern und einem Buch, die vor dem Baum auf dem Boden liegen. »Hat wohl mal wieder beim Lesen die Zeit vergessen.«
»Willst du mir etwa sagen, dass ...?« Noch während ich spreche, wird mir klar, dass meine Frage unnötig ist. Nach allem, was ich heute gehört habe, weiß ich genau, was die Pinie, die Brille und das Buch zu bedeuten haben. »Dieser Baum ist Theo?«
»Theo leidet ebenfalls unter einem Baldanders-Fluch«, antwortet Étienne, steckt die Brille in seine Hemdtasche und schiebt das Buch zurück ins Regal. »Allerdings ist es bei ihm umgekehrt. Will sagen: Theo verwandelt sich nicht bei Einbruch der Nacht, sondern beim ersten Licht der Morgendämmerung. Und er verwandelt sich auch nicht in einen Ochsen, sondern in einen Baum.«
Ich umrunde die Pinie und betrachte sie von allen Seiten. Nichts deutet darauf hin, dass sie ein Mensch ist.
»Aber was ich eigentlich sagen wollte«, nimmt Étienne den vorangegangenen Gesprächsfaden wieder auf. »Wir beide, du und ich, Betty, wir haben irgendwie gelernt, mit unseren Flüchen zu leben. Aber es gibt Flüche, die so grausam sind, dass die meisten Betroffenen nicht damit leben können.«
»Ich weiß nicht«, murmele ich, während ich vorsichtig eine Hand gegen die borkige Rinde lege. Dann fällt mir ein, dass ich keine Ahnung habe, was ich da gerade anfasse, und ziehe meine Hand wieder zurück. »Dieser Baldanders-Fluch erscheint mir schon ziemlich furchtbar.«
»Mag sein.« Étienne verlässt die Bibliothek durch einen Seitenausgang, der hinter einer Tapetentür verborgen liegt.
Ich gehe ihm nach.
»Erinnere mich daran, Theo später zu gießen«, murmelt Étienne. Lauter sagt er: »Aber das ist alles nichts gegen das, was Momo, Adeline und Mae durchmachen müssen.«
Wir steigen eine enge Stiege hinauf. Die Luft riecht staubig und muffig.
»Was müssen sie denn durchmachen?«, will ich wissen.
»Ich kann dir verraten, wie ihre Flüche heißen, aber den Rest musst du dir selbst zusammenreimen. Oder du redest mit ihnen.«
»Abgemacht.«
Étienne tastet im Dunkeln nach der Tür am oberen Treppenabsatz.
Schließlich springt sie knarrend auf. Helles Tageslicht, das durch mehrere große Fenster hereinfällt, hüllt uns ein. »Nach dir«, sagt Étienne und lässt mir den Vortritt.
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