28) Heiß und kalt
Étienne scheint mir anzusehen, dass ich an mir zweifle. Er hat wirklich ein viel feineres Gespür, als ich ihm zugetraut hätte. Offenbar ist er nur äußerlich ein grober Klotz.
»Ich denke, wenn es auch nur eine winzige Hoffnung für uns gibt, diese Flüche loszuwerden, sollten wir sie ergreifen. Ganz egal, von wo sie kommt.«
»Es gibt Grenzen«, erwidere ich.
Seymour wirbelt herum. »Das kann nur jemand sagen, der nicht unter seinem Fluch leidet.«
»Ich leide!«, protestiere ich.
»Aber ganz offensichtlich nicht genug!« Seymours Augen funkeln voller Verachtung. »Denn wenn das so wäre, würden Sie keine helfende Hand ausschlagen – ganz egal, ob sie einem Menschen oder einem Elfen gehört.«
»Der Zweck heiligt nun einmal nicht die Mittel«, fauche ich zurück. Mein ganzer Körper verspannt sich. Ich sitze aufrecht wie ein Ladestock. »Ja, ich leide unter meinem Fluch«, knurre ich zähneknirschend. »Aber das ist eben der Preis, den ich dafür bezahlen muss, dass mein Land den Krieg gegen Ellyrien gewonnen hat. Wenn ich durch mein Leid verhindern kann, dass die Elfen zurückkommen und mit ihrer Magie alles vernichten, das mir lieb und teuer ist, dann werde ich das tun.«
»Dieses Land ist mir doch scheißegal«, entgegnet Seymour. »Ich bin kein Soldat. Und ich habe mich nie freiwillig-«
»Mit dieser Einstellung wären Sie auch ein beschissener Soldat!«, falle ich ihm ins Wort.
Seymour sieht aus, als wollte er mich mit bloßen Händen erwürgen. Zwei blonde Haarsträhnen fallen ihm in die Stirn und sein Gesicht ist krebsrot angelaufen. »Wissen Sie was?«, zischt er. »Sie haben sich lediglich daran gewöhnt, eine Drude zu sein. Sie sind wie eines dieser dämlichen Weiber, die sich einreden, dass ihr Ehegatte sie liebt, auch wenn er ihnen diese Liebe bloß mit den Fäusten beweist. Sie sind zu bequem, um sich von der Ursache Ihres Leids zu befreien.« Er lächelt verschlagen. »Aber vielleicht mögen Sie es auch, verprügelt zu werden.«
Ich bebe vor Zorn. »Wie können Sie es wagen?«
»Das reicht jetzt, Seymour«, sagt Étienne. »Betty hat einen harten Tag hinter sich und vielleicht sollten wir ein andermal-«
»Deine Betty hat offensichtlich keinerlei Interesse daran, sich von ihrem Fluch zu befreien«, widerspricht Seymour. »Und noch dazu hat sie diesen Faucon hergelockt. Jetzt weiß er über uns Bescheid. Wegen deiner Betty werden wir alle draufgehen.« Er schlägt sich mit der flachen Hand an die Stirn. »Wach endlich auf, Étienne, und versuch wenigstens für fünf Minuten mal nicht mit dem zu denken, was sich zwischen deinen Beinen befindet.«
»Sie konnten mich von Anfang an nicht leiden«, erwidere ich. Meine Stimme zittert vor Empörung. »Noch bevor Sie wussten, dass ich verflucht bin.«
Seymour scheint mir jedoch gar nicht zuzuhören. Seine ganze Aufmerksamkeit gilt Étienne.
»Ich bin wach, mein Freund.« Étienne wirft Seymour einen finsteren Blick zu. »Und deswegen erinnere ich mich auch noch genau daran, dass wir damals beschlossen haben, allen Verfluchten zu helfen. Nicht bloß denen, die uns in den Kram passen.«
»Natürlich.« Seymour schnaubt höhnisch. »Deine Motive in Bezug auf Mademoiselle Pommier sind lupenrein.« Er betrachtet mich mit dünnen, blutleeren Lippen. »Aber wenn du das wirklich durchziehen willst, Étienne. Wenn du uns, Isabel und alles, wofür wir jahrelang gearbeitet haben, in Gefahr bringen willst, nur, um dieses Weibsbild ins Bett zu bekommen, dann hoffe ich wirklich, dass sie es wert ist.« Dunkel fügt er hinzu: »Oder war.« Er schüttelt noch einmal verständnislos den Kopf, dann wendet er sich ab und geht zur Tür.
Ich will ihm etwas nachrufen, irgendeine Beleidigung (auch wenn mir unter Zeitdruck nichts Passendes einfällt), doch Étienne hält mich zurück. »Warte«, sagt er. »Ich kläre das mit ihm.«
»Vielleicht sollte ich ebenfalls gehen«, entgegne ich und drücke mich aus dem Sessel.
Étienne umfasst mein Handgelenk. »Betty ... nein. Warte. Lass uns reden.«
»Worüber denn? Dass du mich ins Bett bekommen willst?«
»Ich-«
»Das kannst du haben!« Ich mache mich von ihm los, springe aus dem Sessel und beginne damit, mein Nachthemd aufzuknöpfen.
»Betty ... nein, warte.«
»Wenn das alles ist«, fahre ich fort. Vor Wut, Erschöpfung und gekränktem Stolz stehe ich mehr als eine ganze Schrittlänge neben mir. Aber das ist mir egal. »Kein Problem.« Ich zerre an den Knöpfen. »Bringen wir's hinter uns.«
»Betty ...« Étienne wirkt regelrecht hilflos. »Jetzt hör schon auf damit.«
Ich halte mit den Fingern am nächsten Knopf inne. »Wirklich?«
Étienne zögert einen winzigen Moment zu lange.
»War ja klar«, schnaube ich.
»Nein, nein, nein. Hör auf. Hör auf. Ich meine es ernst.«
Étienne fasst nach meinen Händen, aber ich weiche ihm aus und mache drei Schritte zurück, bis ich mit dem Rücken gegen die offenstehende Tür pralle. »Wieso soll ich aufhören? Wenn dein Verlangen, mich ins Bett zu bekommen, alles ist, was dich davon abhält, dich und deine Freunde zu retten, dann will ich dir nicht im Weg stehen.« Ich sehe mich suchend um. »Wo ist das nächste Bett? Oder machen wir's gleich hier?«
»Betty ...« Étienne lächelt verunsichert und hebt die Hände, als wollte er einen wild gewordenen Bullen beruhigen. »Alles klar. Ich habe es verstanden.«
»Wirklich? Weil ich verstehe so langsam gar nichts mehr.« Ich lasse die Hände sinken und ziehe mir das halb aufgeknöpfte Nachthemd um den Körper. »Weshalb bin ich hier? Willst du mir an die Wäsche oder mich von meinem Fluch erlösen? Und wenn ich eine Gefahr für euch bin, warum setzt du mich dann nicht vor die Tür?«
Ein gequälter Ausdruck tritt auf Étiennes Gesicht. »Weil du dann wieder ganz alleine wärst. Außerdem besteht die Gefahr, dass dieser Faucon dich tötet, wenn er dich findet.«
»Aber doch besser mich als alle deine Freunde, oder?« Ich lache. Tränen brennen in meinen Augenwinkeln. Ich bin schon wieder gefährlich nah am Rand der Hysterie. »Ich meine ... seien wir mal ehrlich: Wir beide kennen uns doch kaum. Und ich will wirklich nicht dafür verantwortlich sein, wenn der Capitaine euch alle ermordet. Also ...« An dieser Stelle atme ich tief durch und straffe die Schultern. »... solltest du mich besser gehen lassen.«
Étienne mustert mich stirnrunzelnd. Dann lässt er die Hände sinken und kommt auf mich zu. Diesmal weiche ich nicht vor ihm zurück. Er kommt mir so nahe, dass wir uns beinahe berühren. Ich muss zugeben, dass er ganz schön einschüchternd wirkt, aber ich lasse mich nicht so einfach beeindrucken. Zornig sehe ich zu Étienne hoch. Die kastanienbraunen, leicht gewellten Haare fallen ihm unordentlich ins Gesicht und umspielen seine markanten Wangenknochen. Seine Miene wirkt entschlossen. Mit seiner breiten Nase, dem groben Kinn und den kohlschwarzen Augen erinnert er mich an eine Joumin-Gottheit. An diese fremdartigen Geschöpfe, die Joumin-Händler auf ihre billigen Tabakdosen und Horoskoprollen drucken. Halb Mensch und halb Tiger, mit gestähltem Oberkörper und Flammen-Tätowierungen auf Brust und Armen. Ich weiß auch nicht, warum ich ausgerechnet jetzt daran denken muss.
Étienne streckt die Hände nach meinem Dekolleté aus. Ich will ihn abwehren, aber er drückt meine Arme zur Seite und fängt an, mein Nachthemd wieder zuzuknöpfen. Die Art, wie er das macht, lässt mich wünschen, er würde es nicht machen. Unbewusst halte ich den Atem an.
Als er fertig ist, legt er die Hände um mein Gesicht und sieht mir fest in die Augen. »Ich werde dich nicht gehen lassen.«
Die Wut in mir erlischt. Ich kann förmlich fühlen, wie ich innerlich zusammensacke, als wäre ich bis zu diesem Moment nur von Zorn, Unsicherheit und Verzweiflung aufrechtgehalten worden.
»Es stimmt«, fährt Étienne fort. »Ich will dir an die Wäsche.« Er lächelt schelmisch und vergräbt die Finger in meinen Haaren. »Aber du hast mich abgewiesen. Mehrfach.«
»Ich ... ich ... der Fluch«, murmele ich verlegen. »Ich konnte nicht, weil ...«
Étienne schüttelt den Kopf. »Schon gut. Ich verstehe das. Und jetzt, da wir beide die Wahrheit übereinander wissen, änderst du deine Meinung vielleicht noch einmal. Aber falls nicht ...« Er zuckt mit den Schultern. »Auch gut.«
Ich bemühe mich, ihm zu folgen, aber ich kann nur an unseren Kuss gestern Abend denken. Wie lange habe ich mich danach gesehnt, jemandem die Wahrheit über mich sagen zu können? Mich nicht nur körperlich mit ihm verbunden zu fühlen, sondern auch seelisch? Ist das meine Chance?
»Ich bin schon groß, Betty«, ergänzt Étienne schmunzelnd. »Und du bist nun wirklich nicht die erste Frau, die mich zurückweist.«
Unwillkürlich muss ich lächeln.
»Vielleicht hat Seymour Recht. Vielleicht sind meine Motive in Bezug auf uns nicht ganz lupenrein, aber – wie ich dir schon am Ver Luisant gesagt habe: Ich bin ein Ehrenmann. Ich werde alles tun, um dir zu helfen. Und wenn die vergangene Nacht unsere letzte gemeinsame Nacht gewesen ist, dann werde ich das akzeptieren.«
Er studiert mein Gesicht, als würde er darin nach Antworten auf unausgesprochene Fragen suchen. Ich habe keine Ahnung, ob er sie findet. Und ich habe nicht die Geduld, ihn weiter zappeln zu lassen. Wieso auch? Ich habe Étienne von Anfang an gemocht. Das Einzige, was mich davon abgehalten hat, ihm eine Chance zu geben, war mein Fluch – und meine Unfähigkeit, darüber zu sprechen oder mich einem anderen Menschen zu öffnen. Doch so will ich nicht mehr sein. Wenn Étienne alles riskiert, um mir zu helfen, will ich auch etwas riskieren.
Tausend Dinge könnten mir Sorgen machen ... Julien Faucon, der Mord an Narcisse, Étiennes Elfen-Tochter, Seymours Vorbehalte, der nahende Taifun, die Maschine aus Narcisse' Traum ... doch ich schiebe sie alle beiseite, ziehe Étienne am Hemdkragen zu mir herunter und küsse ihn fest auf den Mund. Anders als gestern überspringen wir diesmal das ungeschickte Herumknutschen und vertiefen uns sofort in einen Kuss, der mir den Atem raubt. Ein Schauer wandert meine Wirbelsäule hinauf und in meinem Unterleib erwacht ein sehnsüchtiges Kribbeln. Meine Hände wandern über Étiennes Brust bis hinab zu seinem Hosenbund.
Étienne lacht gegen meine Lippen. »Gut ... damit hab ich jetzt nicht unbedingt gerechnet.« Er nimmt meine Hände und hält sie fest.
»Was?«, beschwere ich mich. »Nicht der richtige Zeitpunkt?«
»So kann man es wohl sagen.« Étienne löst sich von mir und deutet mit einem Kopfnicken zur Tür, die zum Studierzimmer führt. Das Klavierspiel ist verstummt. Étiennes Lippen formen »Isabel«.
Ich nicke zustimmend. Auf Zuschauer kann ich wirklich verzichten, selbst wenn es sich nicht um Elfen handelt.
»Lass mich dir stattdessen das Haus zeigen«, schlägt Étienne vor. »Du brauchst noch ein Zimmer. Und etwas zum Anziehen.«
»Brauche ich das?«
Wir tauschen Blicke und grinsen verschwörerisch.
»Vorerst«, sagt Étienne und zieht mich zur Tür.
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