27) Kalte Asche

Als ich kurz darauf mit Seymour ins Romarin-Anwesen zurückkehre, finden wir Étienne und Adeline im Herrensalon. Étienne sitzt in einem der großen Polstersessel, die zum Kamin hin ausgerichtet sind. Adeline steht im Durchgang zum Studierzimmer, an das sich – wie ich aus dem Augenwinkel erkennen kann – eine geräumige Bibliothek anschließt. Sie hat sich einen flachen Hut im Westragoner Stil aufgesetzt und eine robuste Wildlederjacke übergeworfen und sieht aus, als wäre sie auf dem Sprung. Aus einem der angrenzenden Zimmer erklingt aggressive Klaviermusik. Vermutlich Isabel, die ihrem Ärger musikalisch Ausdruck verleiht.

»Was hast du jetzt vor?«, fragt Seymour.

Adeline zupft an ihren Handschuhen herum. »Ich werde versuchen, mehr über Julien Faucon herauszufinden.«

»Wenn er derjenige ist, der Jagd auf unsereins macht, könntest du damit ein ziemliches Risiko eingehen.«

»Wenn er derjenige ist, der Jagd auf unsereins macht und wenn es stimmt, was Mademoiselle Pommier über seine Augen gesagt hat, sind wir alle einem ziemlichen Risiko ausgesetzt«, kontert Adeline.

»Was ... was hat es denn mit seinen Augen auf sich?«, frage ich vorsichtig.

Niemand antwortet mir.

Étienne, der bis dahin stumm vor sich hingestarrt hat, lässt den Hinterkopf gegen die Stuhllehne sinken und schließt die Augen. Die folgenden Worte scheinen ihm nur schwer über die Lippen zu kommen. »Adeline ... wann startet das letzte Luftschiff zum Festland?«

»Der Luftverkehr wurde bereits eingestellt«, antwortet Adeline mit Grabesstimme.

»Eingestellt?«, wiederhole ich. »Wieso?«

»Der Taifun.«

»Taifun? Aber ... die Sonne ...«, stammele ich mit Blick auf den strahlend blauen Himmel und den ruhigen, träge gegen die Küste brandenden Ozean.

»Die Ruhe vor dem Sturm«, murmelt Étienne. »Gestern Abend war wohl nur ein Vorgeschmack auf das, was uns in den nächsten Tagen erwartet.«

»Es ist Herbst.« Seymour faltet die Hände auf dem Rücken und zuckt mit den Schultern. »Sturmsaison.«

Étienne schenkt mir ein freudloses Lächeln. »Wie auch immer ... erst einmal kommen wir hier nicht weg«

Mein Herz drückt gegen den engen Käfig aus angstbedingten Verkrampfungen, den ich unbewusst darum errichtet habe. Inmitten des ganzen Chaos ist Étienne mein einziger Lichtblick. In den letzten Tagen war er immer da, wenn ich Unterstützung brauchte. Ich glaube, nur wegen ihm bin ich noch zu einem klaren Gedanken fähig. Nur wegen ihm kann ich die Verzweiflung, die mit eiskalten Spinnenfingern nach mir tastet, noch auf Abstand halten. Vermutlich bilde ich mir das bloß ein, aber ich muss mich an irgendetwas klammern, um nicht den Verstand zu verlieren. Und Étienne nimmt es mir bestimmt nicht übel, wenn ich mich an ihn klammere (ganz im Gegenteil, schätze ich).

»Wir müssen uns auf den Sturm vorbereiten«, sagt Adeline und richtet den Pelzkragen ihrer Jacke. »Im wörtlichen und im übertragenen Sinne. Gut möglich, dass wir Faucon schon bald wiedersehen werden, und dann sollten wir auf alles gefasst sein.«

Mit diesen Worten wendet sie sich zum Gehen.

»Pass auf dich auf«, brummt Seymour. Es klingt widerwillig. Als wäre diese Bemerkung nicht Teil seines normalen Sprachschatzes.

Adeline lacht heiser, hebt die Hand zum Abschiedsgruß und spaziert durch das Studierzimmer und die Bibliothek davon.

Étienne seufzt, stützt die Ellenbogen auf die Armlehnen des Sessels und legt die Fingerkuppen aneinander. Die Geste hat etwas von einem Schachspieler, der über seinen nächsten Zug nachgrübelt. Dabei hätte ich Étienne wirklich nicht für jemanden gehalten, der viel Zeit auf Denksportaufgaben verwendet. »Wenn Faucon wirklich ein Elf ist ...«

»Was?«, entfährt es mir.

»Davon müssen wir wohl ausgehen«, erwidert Seymour und schlendert langsam zum Fenster hinüber.

»Was?«, frage ich noch einmal. Étienne streckt die Hand nach mir aus, aber ich ignoriere es. »Faucon ist ein Elf?«

»Du hast seine Augen doch selbst gesehen«, antwortet Étienne.

»Aber ich dachte ... ich dachte, das wäre bloß ...« Mir fällt wieder ein, was ich am Morgen bei Isabel beobachtet habe. »Bedeutet das, Isabel ist eine Elfe?«

Seymour verdreht die Augen, als könnte er nicht fassen, dass ich diesen Umstand erst jetzt begreife.

»Aber Elfen haben doch spitze Ohren, oder?«, frage ich hoffnungsvoll.

Étienne nickt.

»Das ist der Grund, aus dem wir annehmen, dass Faucon kein reinblütiger Elf sein kann«, erklärt Seymour. Seine Stimme übertönt kaum das Dröhnen in meinem Schädel. »Sonst wären seine Ohren bestimmt schon irgendjemandem aufgefallen.«

»Das kann nicht euer Ernst sein«, murmele ich.

Étienne wiederholt seine auffordernde Geste.

Ich ignoriere seine ausgestreckte Hand und setze mich in einen der anderen Sessel. Mir ist kalt. Fröstelnd verschränke ich die Finger ineinander und klemme sie mir zwischen die Knie. »Wie kann das sein? Ich dachte, Isabel ist deine Tochter ...«

»Das ist sie auch«, erwidert Étienne und beugt sich vor, um nach dem Schürhaken zu tasten. »Und meine Schwester.« Er rührt mit dem Haken in der kalten Asche. »Und meine Tante.« Die Asche knistert wie uraltes Pergament. »Und meine Großtante. Und-« Er verstummt und lässt den Haken sinken. Nach einigen Sekunden des Schweigens fährt er fort: »Mein Urgroßvater hat Isabel damals aus dem Krieg mitgebracht. Angeblich hat er sie gefunden. Ein einsames Elfenbaby. Ihre Eltern sind vermutlich bei irgendeiner Schlacht ums Leben gekommen.«

Ich kann nicht fassen, was ich da höre. Und irgendwie kann ich auch nicht fassen, dass ich Mitleid mit einer Elfin habe.

»Seitdem lebt sie bei meiner Familie. Mein Großvater und mein Vater haben sie vor den Menschen versteckt, doch ...« Étienne seufzt und betrachtet die rußgeschwärzte Spitze des Schürhakens. »Inzwischen ist sie zu alt, um sie im Keller einzusperren.«

»Aber sie ist gefährlich«, hauche ich, während das Klavierspiel im Nebenzimmer immer lauter und drängender wird.

»Ach, Unsinn«, brummt Étienne. »Sie ist ein Kind.«

»Ein Kind mit magischen Fähigkeiten.«

»Das macht sie nicht gefährlich.« Étienne stellt den Schürhaken zurück in die Halterung. »Eher das Gegenteil ist der Fall.«

»Wie meinst du das?«

Étienne sieht mich an. Seine Augen sind ernst. »Sie ist vielleicht die Einzige, die uns von unseren Flüchen erlösen kann.«

Mir entweicht ein hohes Lachen. »Ja ... klar.«

»Was haben wir für eine Wahl?«, entgegnet Étienne. »Oder willst du auf ewig mit dem Zwang leben, andere Menschen drücken zu müssen?«

»Natürlich nicht. Aber ...« Ich kann mir ein abfälliges Schnauben nicht verkneifen. »... warum sollte sie uns heilen wollen?«

»Wieso sollte sie das nicht wollen?«, erwidert Seymour, der noch immer am Fenster steht und auf die Bucht hinabsieht.

»Na, weil sie eine Elfe ist.«

»Und Elfen sind alle böse?«, hält Seymour dagegen. »Dieses Weltbild sagt so einiges über Sie, Mademoiselle Pommier.«

»Ich habe nicht vergessen, was die Ellyrier unserem Land und unseren Vorfahren angetan haben.«

»Die Elfen haben den Krieg angefangen und wir haben ihn beendet. Ist dies das Ausmaß Ihres Verständnisses der historischen Begebenheiten? Falls ja, verzeihen Sie mir, wenn ich Sie nicht nach ihrer Meinung frage.«

»Und ich habe Sie nicht nach Ihrer Meinung gefragt!«

»Ist es nicht an der Zeit, das alles hinter uns zu lassen?«, fragt Étienne.

»Nein!«

»Und wieso nicht, Betty?«

Ich fühle mich in die Zange genommen und wie ein Schmetterling mit einer Nadel an ein Korkbrett gepinnt. Aber ich kann nicht zurück. Ich kann nicht. Die Elfen haben mich zu dem Ungeheuer gemacht, das ich bin. Die Elfen sind die Bösen. Denn wenn sie es nicht sind ...

»Betty ...«, sagt Étienne und rutscht auf seinem Sessel näher an mich heran. Ein warmes Lächeln tritt auf seine Lippen, die so perfekt sind, dass ich sie berühren möchte. »Elisabeth ...«

Ich schüttele nur den Kopf. Wenn Étienne denkt, er kann mich mit seinem wundervollen Kussmund um den Finger wickeln, dann hat er sich geirrt.

»Der Krieg ist fast ein Jahrhundert her und – auch wenn du das nicht hören willst – damals wurden auf beiden Seiten Fehler begangen. Beide Seiten haben tausende von tapferen Männern und Frauen verloren.« Er streckt die Hand nach mir aus und legt sie besänftigend auf mein Knie. »Denkst du nicht, dass wir so langsam nach vorne sehen sollten?«

Ich gebe mir zwei Atemzüge, um mich zu beruhigen. »Du vergisst da etwas«, informiere ich Étienne, der mich abwartend mustert. Auch wenn ich zugeben muss, dass seine Hand auf meinem Knie ihren angedachten Effekt nicht verfehlt, will ich mich nicht entspannen. »Elfen leben sehr lange. Das ist doch so, oder?«

Étienne hält meinem anklagenden Blick stand. »Ja, das ist so.«

»Und das bedeutet, von den Elfen, die uns damals angegriffen haben, sind immer noch viele am Leben. Soll ich wirklich glauben, dass sie ihre Meinung geändert haben? Dass sie uns jetzt nicht mehr vernichten wollen?«

»Hast du mal in Betracht gezogen, dass sie uns nie vernichten wollten?«

Ich pruste. »Klar ... also ist alles, was wir in der Schule gelernt haben, gelogen?«

»Nicht gelogen«, erwidert Seymour. »Sondern Kriegspropaganda.« Er wirft einen Blick über seine Schulter und zieht spöttisch die Augenbrauen hoch. »Sie werden doch nicht etwa so naiv sein, zu glauben, dass unsere Regierung davon nicht Gebrauch machen würde.«

»Vielleicht bin ich naiv, aber Sie sind genauso naiv, wenn Sie denken, die Elfen würden uns jemals in Frieden leben lassen.«

»Betty ...« Étienne drückt mein Knie, damit ich ihn ansehe. »Du hast doch selbst gesagt, Narcisse hätte Hinweise darauf gefunden, dass die Elfen nicht Schuld an unseren Flüchen sind.«

»Vielleicht hat er sich geirrt«, halte ich dagegen, auch wenn mir bewusst ist, dass meine Argumentation auf wackeligen Füßen steht. Ich habe gesehen, wovon Narcisse geträumt hat. Diese unheimliche Maschine. Die Zerstörung, die sie angerichtet hat. Und die Menschen, die sie bedient haben. Menschen. Keine Elfen. Doch vielleicht war das wirklich nur ein Traum. Nur eine realitätsferne Metapher. Meine Erfahrung als Schlafheilerin sagt mir, dass es nicht so ist. Die Maschine – oder etwas in der Art – existiert. Ich weiß nicht, ob Narcisse sie mit eigenen Augen gesehen hat. Aber er muss auf jeden Fall detaillierte Informationen darüber gehabt haben.


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