25) Teezeit

Nachdem ich mich an einer Porzellanschüssel gewaschen und mich ein wenig zurechtgemacht habe, halte ich kurz inne, um die hellblauen Wandfliesen im Badezimmer zu bewundern. Sie sind schon ein bisschen eingestaubt und hier und da gesprungen, aber trotzdem hübsch anzusehen. Dem ganzen Raum ist anzumerken, dass er schon einmal bessere Zeiten gesehen hat. Außerdem fehlt ihm eine weibliche Note. Ich frage mich, ob Étienne für die Einrichtung zuständig ist. Ihm traue ich zu, dass er alles verkommen lässt. Und Adeline ist ihm bestimmt auch keine Hilfe, was den Haushalt angeht. Irgendwie kann ich mir nicht vorstellen, dass sie einen Putzlappen oder Kochlöffel schwingen würde (außer, um einem gemeinen Verbrecher oder aufmüpfigen Gendarmen den Hintern zu versohlen).

Während ich so dastehe und nachdenke, kann ich die Leitungen in den Wänden gluckern und gurgeln hören. Irgendwo über mir knarren Treppenstufen. Die beruhigenden Geräusche eines Hauses, das lebendig zu sein scheint.

Ich atme tief durch und spreche mir selbst Mut zu, dann verlasse ich das Badezimmer und steige eine schmale Treppe hinunter, bis ich einen holzvertäfelten Flur erreiche. Gedämpfte Stimmen und das Klirren von Porzellan dringen durch eine Tür rechts von mir.

Mein Herz schlägt schneller. Normalerweise bin ich nicht nervös, wenn ich neue Leute kennenlerne. Das gehört zu meinem Beruf. Doch jetzt – nach meinem Auftritt gestern Abend – fühle ich mich, als würde ich wilden Tieren zum Fraß vorgeworfen. Étiennes Freunde müssen mich für ein hysterisches Weibsbild halten, das seine Gefühle nicht im Griff hat. Und es stimmt schon, ich neige gelegentlich zu einem gewissen Übermaß an Emotionalität, aber die Sache mit Narcisse hat mich zurecht vollkommen aus der Bahn geworfen.

Vorsichtig fasse ich nach der Türklinke und drücke sie herunter. Die Tür schwingt nach innen.

Dahinter erwartet mich ein mittelgroßes Esszimmer mit einem glänzenden Parkettboden und einer bunt bemalten Tapete. Im Zentrum des Zimmers steht ein ovaler, nachlässig gedeckter Tisch, an dem fünf Personen sitzen. Wobei Sitzen in Étiennes Fall eine Beschönigung ist. Er lümmelt auf einem Stuhl mit gepolsterter Rückenlehne und stopft sich mit einer krummen Gabel Kirschkuchen in den Mund, während seine Tochter von der Seite auf ihn einredet und dabei wild mit den Armen gestikuliert.

Neben den beiden sind noch Seymour, Adeline und Mae anwesend. Während Mae bedächtig an einer filigranen Teetasse nippt und Seymour mit verknitterter Miene in einem dicken Notizbuch blättert, widmet Adeline sich der Tageszeitung.

Als Mae mich bemerkt, lässt sie die Tasse sinken. Ein missbilligender Ausdruck tritt auf ihr Gesicht. Sie ist beneidenswert hübsch, auf eine elegante und kultivierte Art und Weise, mit der ich niemals konkurrieren könnte. Ihr kupferrotes Haar ist im Nacken zu einem perfekt arrangierten Knoten geschlungen und ihr Seidenkaftan sieht aus, als wäre er ihr direkt auf den Leib geschneidert worden. Ich habe keine Ahnung, wie sie es schafft, so makellos auszusehen.

»Ah, Betty«, sagt Étienne, steht auf und wischt sich mit einer beiläufigen Handbewegung ein paar Kuchenkrümel von der Hose. »Komm ruhig rein.«

Zögernd trete ich ein.

»Was macht dein Arm?«, fragt Étienne.

Ich lege die Hand über den Verband an meinem Arm. Irgendwie habe ich die Verletzung über Nacht ganz vergessen.

Étienne wartet nicht auf meine Antwort, sondern schlägt mit der Gabel gegen sein Glas. »Hört mal kurz her. Die meisten von euch haben sie ja schon kennengelernt, aber ich möchte sie euch trotzdem noch einmal ganz offiziell vorstellen.« Er deutet auf mich, als wäre er ein Autor, der einem gelangweilten Publikum die Heldin seines neusten Bühnenstücks präsentieren will. »Das, meine Freunde«, erklärt er in einem melodramatischen Tonfall, »ist Betty.«

Die Reaktionen auf seine Ankündigung fallen eher verhalten aus. Adeline nickt mir über den Rand ihrer Zeitung hinweg zu. Seymour sieht dagegen nicht einmal auf, sondern blättert weiter in seinem Büchlein. Mae wirkt, als würde sie am liebsten die Flucht ergreifen.

Die Einzige, die sich über mein Erscheinen zu freuen scheinen, ist Isabel. Sie setzt sich aufrecht hin, faltet die Arme auf der Tischplatte und schenkt mir ein freundliches Lächeln. Die hellbraunen Haare fallen ihr offen über die Schultern und verdecken dabei ihr rechtes Auge. Sie trägt einen olivgrünen Pullover und einen karamellfarbenen Faltenrock und sieht darin ausgesprochen niedlich aus. Unwillkürlich frage ich mich, wie ihre Mutter ausgesehen haben muss – und was aus ihr geworden ist.

Étienne mustert seine Tischgäste stirnrunzelnd. »Ihr könntet ruhig ein bisschen netter zu Betty sein.«

»Schon in Ordnung«, sage ich schnell und überspiele mein Unwohlsein mit einem erzwungenen Lächeln.

»Setz dich doch.« Étienne bietet mir den Stuhl neben sich an. Durch die Fenster dahinter kann ich den Ozean sehen. Dunkelblau und scheinbar endlos. Möwen kreisen über der Wasseroberfläche. »Kaffee? Tee?«, fragt Étienne.

Ich setze mich und lasse meinen Blick über den Tisch schweifen. Porzellan steht in kleinen Grüppchen herum. Eine Teekanne, ein leeres Zuckerdöschen, eine Schale mit dunklen Trauben, zwei Marmeladentöpfchen, ein Teller mit Brot und ein weiterer Teller mit verschiedenen Kuchenresten und gefüllten Teigröllchen, die schon etwas matschig aussehen.

»Tee ist ... Tee ist gut«, sage ich schließlich.

Während Étienne nach der Teekanne angelt und eine saubere Tasse sucht, betrachte ich die Tapete, die mit Motiven aus dem Inselleben verziert ist. Palmen, Blumen, Sandstrände, Segelboote und Papageien. Die Szenen wirkten wie aus einer anderen Zeit.

»Wie alt bist du eigentlich, Betty?«, fragt Isabel, die mir gegenüber sitzt. Ihre Augen sind ungewöhnlich groß und grün. Erneut frage ich mich, wie ihre Mutter aussehen muss und was aus ihr geworden ist. Ich vermute, dass sie gestorben ist, denn welche Mutter – außer meiner eigenen – würde ihr Kind einfach so im Stich lassen?

»Ich bin neunundzwanzig«, antworte ich. »Wieso?«

»Und warum bist du noch nicht verheiratet?«

Ich kann nicht verhindern, dass mir bei dieser Frage warm im Gesicht wird. Natürlich ist mir klar, dass die meisten Frauen in meinem Alter bereits verheiratet sind. Aber wegen des Fluchs bin ich nun einmal nicht wie die meisten Frauen in meinem Alter.

»Isabel«, ermahnt Étienne seine Tochter.

Isabel ignoriert ihn und lehnt sich weit über den Tisch. »Du bist sehr hübsch für einen Menschen. Bist du dir sicher, dass du nicht jemand Besseren findest als meinen Vater?« Sie senkt verschwörerisch die Stimme. »Er kann nämlich manchmal ein ziemlicher Ochse sein.«

»Isabel«, wiederholt Étienne, lauter diesmal. An mich gewandt, ergänzt er: »Entschuldige, Betty. Die kleine Göre ist komplett verzogen – und das ist nicht allein meine Schuld.« Er wirft seiner Tochter einen bösen Blick zu, den das Mädchen mit vor der Brust verschränkten Armen und vorgeschobener Unterlippe erwidert.

»Schon gut«, sage ich und kann mir ein Schmunzeln nicht verkneifen. Offenbar tanzt Isabel ihrem Vater auf der Nase herum. Wieso überrascht mich das nicht?

»Isabel ...«, seufzt Seymour. »Warum gehst du nicht raus und siehst nach Shira?«

Isabel rührt sich nicht.

Seymour sieht von seinem Büchlein auf. Seine eisblauen Augen funkeln drohend. »Jetzt.«

»Na schön!« Isabel rutscht vom Stuhl, stampft durch das Esszimmer in den Flur hinaus und knallt die Tür hinter sich.

Étienne schüttelt den Kopf und reicht mir die Teetasse. »Langsam trinken«, ermahnt er mich. »Das ist Menther Dünentee. Der ist ziemlich stark.«

Ich bedanke mich und klammere mich an die Tasse wie an einem Rettungsanker.

In diesem Moment klappt Seymour sein Büchlein zu und räuspert sich geräuschvoll. Sein blondes Haar ist streng gescheitelt und zur Seite gekämmt. Wie schon bei unserer ersten Begegnung ist er ordentlich gekleidet und verströmt die Kälte einer unbeheizten Berghütte. Er mustert mich prüfend. »Étienne hatte also Recht. Du leidest tatsächlich an einem Drudenfluch.«

Obwohl sein letzter Satz eher wie eine Feststellung als wie eine Frage klingt, nicke ich.

»Ich hab es euch doch gesagt«, brummt Étienne.

»Du hättest dich trotzdem an das verabredete Vorgehen halten sollen«, erwidert Seymour. »Aber nein ... du musstest ihr ja nachstellen wie ein liebestoller Stier.«

»Was soll ich sagen?« Étienne sieht aus, als hätte er einen spöttischen Spruch auf den Lippen, aber dann scheint es, als würde er es sich anders überlegen. Sein Lächeln verblasst. »Ich wollte einfach nicht, dass wir uns wieder aus den Augen verlieren. So viele Verfluchte gibt es nicht mehr und es werden immer weniger, also ...« Étienne atmet tief ein und setzt neu an. »Außerdem ist es ja nicht so, als ob ich ihr irgendwas über uns verraten hätte. Damit habe ich gewartet, bis Isabel meinen Verdacht bestätigt hat.« Sein Blick wandert von Seymour zu Adeline und Mae. »Und ihr habt sie gestern Abend alle gehört.«

»Aber wir sind bereits zu viele«, kontert Seymour. »Die Leute reden schon über uns – und Mademoiselle Pommiers Anwesenheit wird das nur noch schlimmer machen.«

»Ich werde Betty nicht wegschicken, nur, weil die Nachbarn über uns tratschen.«

»Du weißt genau, was ich meine«, hält Seymour dagegen. »Die Zeiten sind gefährlich geworden.«

»Und genau deswegen wird sie hierbleiben – wenn sie das möchte.«

»Ich will euch nicht in Gefahr bingen«, wende ich ein.

»Darum mach dir mal keine Gedanken«, erwidert Étienne hitzig.

Die ganze Unterhaltung ist mir furchtbar unangenehm. Peinlich berührt umfasse ich meine Teetasse. Dabei bleibt mein Blick an Adeline hängen, die neben mir sitzt und noch immer in der Tageszeitung blättert. Ihr schwarzes, von einzelnen Silbersträhnen durchzogenes Haar ist zu einer Bienenkorb-Frisur aufgesteckt und mit einer einzigen goldenen Spange geschmückt. Hochkonzentriert fliegen ihre blassen Augen über den Text.

Als sie bemerkt, dass ich sie ansehe, faltet sie die Zeitung zusammen und präsentiert mir die Titelseite. Dort steht:

Auftakt einer neuen Gewaltserie? Ehemaliger Professor und Elfensympathisant ermordet aufgefunden.

Vor Schreck entgleitet mir die Tasse. Sie landet auf dem Tisch und der Tee spritzt in alle Richtungen.


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