24) Der Morgen danach

Am nächsten Morgen erwache ich in einem beinahe euphorischen Zustand. Die Wolken des vergangenen Tages haben sich verzogen und helles Sonnenlicht fällt durch das Fenster an der Ostseite des Zimmers herein. Der Himmel ist strahlend blau.

Étienne liegt neben mir, die Decke weggestrampelt, die Arme ausgebreitet, und schnarcht. Sein Körper strahlt so viel Wärme aus wie ein loderndes Kaminfeuer.

Ich genieße noch einen Moment die friedliche Stimmung, dann setze ich mich auf, ziehe die Knie an und fahre mir mit gespreizten Fingern durch die Haare. Die schrecklichen Ereignisse von gestern kommen mir wie ein böser Traum vor, auch wenn ich nicht genau weiß, wie sich Albträume für den Träumer anfühlen.

Aus dem Augenwinkel mustere ich Étienne. Er sieht aus wie damals im Luftschiff: grobschlächtig, zerzaust, mit sinnlichen Lippen und einem zu breiten Hals. Als ich ihn zum ersten Mal so gesehen habe, hätte ich nie gedacht, dass ich ihn noch einmal so sehen würde. Aber Étienne Romarin ist ein Anblick, an den ich mich gewöhnen könnte. Er gefällt mir. Das kann ich nicht länger abstreiten. Und er ist bei mir geblieben – obwohl er weiß, was ich bin und was ich getan habe.

Bei diesem Gedanken wird mir prompt wieder mulmig zumute. Ich strecke die Hand aus und will Étienne wachrütteln, doch er reagiert nicht auf meine Bemühungen. »Étienne ...« Ich beuge mich über ihn und tätschele seine Wange. »Nun wach schon auf.«

Étienne brabbelt etwas Unverständliches.

»Das darf doch nicht wahr sein«, ächze ich, klettere über ihn und taste nach der Schüssel, die hinter ihm auf dem Nachttisch steht. Doch noch bevor ich ihm das Wasser ins Gesicht kippen kann, wacht er plötzlich auf.

»Betty ...«, murmelt er schlaftrunken, zieht eine Grimasse und reibt sich die Augen.

»Guten Morgen«, begrüße ich ihn sarkastisch. »Auch schon wach?«

»Wie spät ist es?«

»Ich habe keine Ahnung.«

Erst in diesem Moment scheint Étienne aufzugehen, dass wir zusammen im Bett liegen. Er hält inne und ein zufriedenes Lächeln breitet sich auf seinem Gesicht aus. »Und?«, will er wissen.

Ich ziehe die Augenbrauen hoch. »Was?«

»Wie war ich?«

»Du hast geschnarcht und vermutlich auch gesabbert.« Ich lege eine kurze, dramaturgische Pause ein, um Étiennes (kaum vorhandene) Reaktion zu beobachten, dann ergänze ich: »Aber ich bin noch am Leben und nicht im Schlaf erstochen worden.«

Étienne spitzt spöttisch die Lippen. »Ich habe dir doch gesagt, dass du hier in Sicherheit bist.« Er legt die warmen Hände auf meine Oberschenkel und lässt seinen Blick langsam über meinen Körper wandern, der in einer zerknitterten Cordhose und einem weißen Nachthemd steckt. »Wieso kommt mir diese Situation nur so vertraut vor?«

»Keine Ahnung«, lüge ich.

»War da nicht was ... auf unserem Flug nach Menthe?«

»Nein. Das war ganz anders.«

»Inwiefern?«

»Nun, zum einen ...«, antworte ich mit einem süffisanten Lächeln. »... hatte ich da weniger an.«

Étienne blinzelt, als hätte er einen Schlag auf den Kopf bekommen. »O ... kay«, sagt er gedehnt, löst die Hände von meinen Oberschenkeln und setzt sich aufrecht hin. »Jetzt bin ich wach.«

»Gut so«, erwidere ich und rutsche von ihm herunter. »Denn du schuldest mir eine Erklärung.«

Étienne hebt abwehrend die Hände. »Na gut. Ja. Ja, das tue ich.« Er mustert mich, als würde er versuchen, meine Gedanken zu lesen. Dabei scheint er auf der Innenseite seiner Wange herumzukauen. »Lass mich dir etwas vorschlagen.«

»Was?«

»Wir ziehen uns jetzt um, dann gehen wir runter und essen etwas. Und danach tauschen wir Informationen aus.« Étienne zeigt mit dem Finger abwechselnd auf sich selbst und auf mich. »Du erzählst uns von dem Vorfall mit Narcisse und wir erzählen dir von uns. Einverstanden?«

»Einverstanden«, erwidere ich. »Aber ich will alles wissen.«

Étienne präsentiert mir seine Handflächen, als wollte er mir zeigen, dass er nichts zu verbergen hat. »Kein Problem.«

Ich klettere aus dem Bett. Obwohl die Sonne noch immer zum Fenster hereinscheint, kann ich spüren, wie die Beklemmung von gestern erneut von mir Besitz ergreift. So gemein es klingen mag, aber Étienne Vorhaltungen zu machen, lenkt mich von diesen negativen Gefühlen ab. »Wieso hast du mir nicht gesagt, dass du von meinem Fluch weißt?«

Étienne seufzt. »Diese Frage ist nicht so einfach zu beantworten. Ich ... ich wollte mir eben erst ganz sicher sein. Dein Beruf und dein nächtliches Auftauchen in meiner Kabine haben mir zwar Hinweise gegeben, aber Adeline war der Meinung, es würde sich dabei nur um Indizien handeln. Außerdem ...« Er hält inne und fährt sich mit der Hand durch die Haare. Im Sonnenlicht glühen die einzelnen Strähnen wie Kastanien im Feuer. »Außerdem waren wir uns nicht sicher, ob wir dich darauf ansprechen sollten.«

»Weshalb?«, will ich wissen, während ich den Dreck betrachte, den meine schlammverkrusteten Schuhe im Bett hinterlassen haben. Meine Erinnerungen an die letzte Nacht sind vage und voll emotionaler Fallgruben. Nur ein falscher Schritt in die Vergangenheit und ich werde mich wieder in ein zitterndes, Rotz und Wasser heulendes Nervenbündel verwandeln.

»Weil es gefährlich ist, wenn sich viele von uns an einem Ort versammeln«, antwortet Étienne. »Die Leute tratschen jetzt schon über uns und wir wollten dich nicht in etwas hineinziehen, für das du nicht bereit bist.« Er schüttelt langsam den Kopf. »Ich kann verstehen, dass du deswegen wütend bist, aber wir konnten ja nicht wissen, dass du dich mit dem Corps anlegen würdest. Wir dachten, wir hätten noch etwas Zeit, um eine Entscheidung zu treffen.«

»Hast du mir deswegen den Hof gemacht?«

Étienne lächelt schief. »So nennst du das?«

»Wie würdest du es denn nennen?«

»Das spielt wohl keine Rolle.« Étienne kneift die Augen zusammen und massiert seine Nasenwurzel mit Daumen und Zeigefinger. »Aber wenn du es unbedingt wissen willst ... ich habe dir den Hof gemacht, weil du eine hübsche Frau mit tollen ... Glocken bist.«

Ich runzele die Stirn und sehe an mir herab. »Glocken?«

»Nun, ich bin in dieser Hinsicht sowas wie ein Connaisseur«, erklärt Étienne. »Ich genieße den Geschmack, auch wenn ich den Wein am Ende wieder ausspucken muss.«

»Du hast echt keine Manieren«, murmele ich, obwohl ich nicht verhindern kann, dass er mich mit seiner Ausdrucksweise zum Schmunzeln bringt. Ein Gast meiner Eltern hat mich mal ordinär genannt, weil ich über einen schmutzigen Witz gelacht habe – und ich befürchte so langsam, da könnte etwas dran sein.

»Wie auch immer«, fährt Étienne fort. »Wir haben uns besser kennengelernt und ich musste erkennen, dass ich nicht nur deine Glocken mag. Dein Fluch war da nur das Sahnehäubchen auf der Torte.«

Ich würde ihm gerne sagen, wie unangemessen ich diese Formulierung finde, aber ich weiß, was er meint. Es ist ein seltsam gutes Gefühl, nicht mehr alleine zu sein. Streng genommen, habe ich immer gewusst, dass es auch noch andere wie mich gibt, aber ich hatte nie den Mut, nach ihnen zu suchen. »Und was ...« Ich fahre mir mit der Zunge über die Lippen, die sich nach dem Geflenne gestern rau und geschwollen anfühlen. »Was ist dein Fluch?«

Étienne wuchtet sich aus dem Bett. »Hast du dir das noch nicht denken können?«

»Nun ... es kann kein Drudenfluch sein.«

»Richtig.« Étienne geht zum Fenster und wirft einen Blick hinaus. Das Morgenlicht nimmt seinem Gesicht die groben Kanten und enthüllt die darunter verborgenen Symmetrien.

Ich habe mich nie nach hübschen Männern verzehrt. Darüber, dass andere Frauen für Rémy Matisse schwärmen und sich an den Zeitungsständen versammeln, um sein Abbild auf der Titelseite der Tageszeitung anzuhimmeln, kann ich nur müde lächeln. Wenn man auf sich selbst gestellt ist und etwas zu verbergen hat, wenn man immer nur davonrennt und nirgendwo zuhause ist, lernt man andere Eigenschaften an einem Mann zu schätzen als ein hübsches Gesicht. Ich kann nicht in Worte fassen, was mich an Étienne anzieht. Vielleicht ist es die Tatsache, dass er ebenfalls etwas zu verbergen hat. Aber vielleicht ist es auch der Umstand, dass er etwas besitzt, das ich schon vor langer Zeit verloren habe und mir seitdem sehnlichst wünsche: ein Zuhause.

»Was ist?«, fragt Étienne.

Ich schlucke den Kloß in meinem Hals herunter. Das hereinfallende Licht kommt mir plötzlich kalt und gräulich vor. Als hätte sich eine Wolke vor die Sonne geschoben.

»Willst du nicht weiterraten?«

»Du wirst es mir schon irgendwann sagen«, erwidere ich mit einem knappen Lächeln und wechsle eilig das Thema: »Kann ich mich hier irgendwo waschen? Ich will nicht in diesem Aufzug zum Frühstück erscheinen.«

Étienne mustert mich unschlüssig. »Klar.« Er deutet zur Tür. »Das Bad ist gleich am Ende des Flurs. Aber wenn du heißes Wasser brauchst-«

»Nein, schon gut«, wehre ich ab. »Ich will mich nur ein bisschen frischmachen.«

Mit diesen Worten wende ich mich ab und husche zur Tür.

Kurz bevor ich auf den Flur entschwinden kann, hält Étienne mich jedoch noch einmal zurück. »Betty?«

Ich bleibe stehen und sehe mich nach ihm um. »Ja?«

»Du musst das jetzt nicht mehr machen.«

»Was?«

»Dich da alleine durchkämpfen.«

Ich weiche seinem Blick aus und ringe mit dem Kloß in meinem Hals. Meine Nase kribbelt, meine Augen brennen. Einige Herzschläge lang überlege ich, was ich ihm antworten könnte, doch dann wird mir klar, dass ich keine Worte habe. Alles, was ich sagen könnte, wäre entweder albern oder gelogen. Ich bin noch nicht bereit, vor Étienne die nicht-stofflichen Hüllen fallenzulassen. Deswegen lächle ich nur beklommen und husche den Flur hinunter.


Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top