23) Ein neues Zuhause
Ich bin überrumpelt, aber auch erleichtert, weil ich mich ganz auf die Berührung unserer Lippen konzentrieren kann. Angst und Unruhe weichen aus meinen Gedanken und aus meinem Körper, als würde Étienne diese Empfindungen einfach aus mir heraussaugen. Zurück bleiben nur eine schwache Benommenheit und ein erwartungsvolles Kribbeln, das sich bis in meinen Unterleib ausbreitet.
Wir küssen uns erst stürmisch, wie zwei Jugendliche, die von ihren Gefühlen übermannt werden und noch nicht so recht wissen, wie sie ihre Leidenschaft in die richtigen Bahnen lenken sollen, dann langsam und intensiv, als wollten wir jede Sekunde dieser flüchtigen Zweisamkeit auskosten. Seine Lippen sind so weich, wie ich sie mir vorgestellt habe, und er weiß genau, was er mit seiner Zunge machen muss. Wo er das wohl gelernt hat? Es ist mir egal. Ich will ihn jetzt. Seine Wärme, seine Sicherheit, jeden halb erstickten Atemzug, den er mir geben kann.
Doch dann holt uns ein lautes Klirren und Scheppern aus unserem gemeinsamen Rausch in die Realität zurück.
Étienne löst sich von mir und richtet sich auf. Gemächlich. Nicht, wie jemand, der etwas zu verbergen hat.
In der Tür steht ein hagerer Mann mit einem kunstvollen Oberlippenbart, zurückgekämmten, ölig glänzenden Haaren und einer Brille mit halbmondförmigen Gläsern. »Es ... es ...«, stottert er. »Ich ... gehe dann vielleicht besser ...«
»Nein, Theo«, sagt Étienne und winkt ihn herein. »Komm' schon.«
Während Theo die Schalen und Fläschchen, die er beim Eintreten fallengelassen hat, aufsammelt, rückt Étienne seine Decke zurecht. Für einen kurzen Moment bekomme ich einen Eindruck davon, was sich darunter verbirgt, und kann mir ein peinlich berührtes Lächeln nicht verkneifen. Wäre ich nicht so erschöpft, könnte ich mir durchaus vorstellen, meinen Gefühlen für Étienne endgültig nachzugeben. Und sei es nur, um für eine Nacht zu vergessen, was ich im Narcisse-Anwesen gesehen habe. Doch ich kann es nicht. Noch nicht.
»Ich ... ich ...« Theo kommt an mein Bett. Sein Gesicht ist gerötet. »Also das ... das ist mir wirklich schrecklich unangenehm.« Er stellt seine Utensilien auf dem Nachttisch ab und nestelt am obersten Knopf seiner auffällig gemusterten Satinweste herum.
»Kein Problem«, sagt Étienne lapidar. »Theo, das ist Elisabeth Pommier, eine Traumheilerin vom Festland. Betty, das ist Theodor Lepin, mein Bibliothekar und ein wandelndes Lexikon. Wenn du irgendetwas wissen willst, frag ihn einfach. Auch wenn du danach vermutlich mehr Fragen haben wirst, als vorher.«
Theo hält seine Brille fest und deutet einen Knicks an. »Mademoiselle Pommier, ich bin hocherfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen.«
Ich muss unwillkürlich lächeln. Theo hat etwas Drolliges an sich, das mich an einen Lehrer aus meiner Schulzeit erinnert (Ostragonische Geschichte, wenn ich mich nicht irre). »Die Freude ist ganz meinerseits, Monsieur Lepin«, erwidere ich und will mich aufsetzen, um ihm die Hand zu reichen, doch Étienne drückt mich sanft, aber bestimmt, zurück in die Kissen.
Im Türrahmen entdecke ich Mae Jibun, die uns aus den Schatten heraus beobachtet. Sie wirkt verunsichert und zupft ungeduldig an ihren Ohrringen.
»Theo wird sich jetzt um deine Verletzung kümmern«, sagt Étienne. »Und ich ziehe mal los und organisiere uns zwei Hübschen was zum Anziehen.«
»Was ist mit dem Capitaine?«, frage ich und kann nicht verhindern, dass meine Stimme zu einem tonlosen Wispern wird. Wenn ich nur an ihn denke, scheint das Blut in meinen Adern zu Eis zu gefrieren.
»Ich verspreche dir, dass er dir hier nichts antun kann«, antwortet Étienne.
Theo nickt zustimmend. »Adeline und Momo werden ihn nicht ins Haus lassen.«
»Momo?«
»Seymour.« Étienne steht auf und muss seine Decke mit beiden Händen festhalten, damit sie ihm nicht über die Hüfte rutscht. »Aber den Spitznamen hört er nicht gern, also benutz' ihn besser nicht, wenn er anwesend ist.«
Mit diesen Worten, einem Lächeln und der Beteuerung, dass er gleich wieder zurück sein würde, entschwindet Étienne zur Tür hinaus.
Mae läuft ihm hinterher, sodass Theo und ich alleine zurückbleiben.
»Wie viele Menschen wohnen denn in diesem Haus?«, will ich wissen.
»Nur Momo, Étienne, Adeline, Mae und ich.« Theo tränkt einen Stofflappen mit Wasser. »Und natürlich Isabel«, fügt er nachdenklich hinzu.
»Étiennes Tochter?«
Theo weicht mir aus. »Sowas in der Art«, murmelt er und widmet sich meinem Arm. »Das kann jetzt etwas unangenehm werden«, warnt er mich.
Während er die Wunde mit warmem Wasser auswäscht, desinfiziert und neu verbindet, lasse ich den Kopf in das raue, nach Weichmacher duftende Kissen sinken. Ganz automatisch schweifen meine Gedanken zurück zu den Ereignissen der vergangenen Stunden. Ich kann immer noch nicht fassen, dass das alles passiert ist. Wieso musste Narcisse sterben? Wegen dem, was er über die Elfenflüche herausgefunden hat? Oder haben ihn seine politischen Gegner aus dem Weg räumen lassen? Das Blaue-Distel-Bündnis? Die Eisenkreuzbewegung? Haben sie Julien Faucon bestochen, damit er dieses abscheuliche Verbrechen begeht?
Ich denke an Narcisse' Albtraum. Was hat er in Ellyrien gesehen? Was haben die Elfen ihm gesagt? Was war das für eine grauenhafte Maschine?
»Alles in Ordnung, Mademoiselle?«, fragt Theo.
Ich merke, dass ich zittere, aber ich kann nichts dagegen tun. »Ja«, flüstere ich und zwinge mich zu einem Lächeln. »Alles gut.«
In diesem Moment kehrt auch schon Étienne zurück. Er hat sich angezogen und trägt einen Stapel Kleidung auf dem Arm. »Gute Nachrichten, Betty. Der Capitaine ist so eben abgefahren. Wir vergewissern uns jetzt noch, dass er wirklich weg ist, und dann kannst du beruhigt schlafen.«
Ich lächle, auch wenn ich nicht wirklich glaube, dass Faucon so einfach aufgegeben hat.
Theo verabschiedet sich mit einer höflichen, aber etwas ungelenken Verbeugung.
Ich winke ihm nach.
»Was brauchst du sonst noch?«, fragt Étienne und legt die Kleidung neben mich aufs Bett. Der Regen klopft rhythmisch gegen die Fensterscheibe. In den Wänden brummt es. Vermutlich alte Gasleitungen. »Willst du noch etwas essen? Etwas trinken?«
»Nein, nein«, wehre ich ab.
Mir ist kalt. Ich schlage die Bettdecke zurück und schlüpfe in das Nachthemd, das Étienne mir geholt hat. Diesmal wendet er den Blick nicht ab. Fast rechne ich damit, dass er irgendeinen anzüglichen Scherz machen wird, aber dann setzt er sich erneut auf die Bettkante.
»Betty ...«, beginnt er, fährt sich mit der Hand über den Mund und scheint nach den richtigen Worten zu suchen.
»Was ist?«, frage ich. Mein Körper zittert noch immer. Ich muss den Kiefer anspannen, um nicht mit den Zähnen zu klappern.
»Wie soll ich das sagen?«, murmelt Étienne und scheint sich schließlich für die Geradeheraus-Variante zu entscheiden. »Hast du in dieser Nacht schon jemanden gedrückt?«
Hätte ich noch einen Boden unter den Füßen gehabt, wäre er mir in diesem Moment sicher weggezogen worden.
»Falls nicht, würde ich mich auch nochmal zur Verfügung stellen«, ergänzt Étienne. »Es war zwar nicht unbedingt ein Vergnügen, aber-«
»Woher weißt du, was ich bin?«
Étienne lächelt. »Der Fluch ist nicht, was du bist.«
»Aber wie kannst du von dem Fluch wissen?«
»Ich weiß davon, weil wir alle verflucht sind, Betty.«
»Alle ...?«
»Es gibt nicht mehr viele von uns, aber wir hatten das Glück, einander zu finden.« Étienne mustert mich, als wollte er meine Reaktion sehen. Doch in seinem Blick lese ich nicht nur Neugier, sondern auch liebevolle Zuneigung und ein schwelendes Verlangen. Wie unterschiedliche Brauntöne in einem rotierenden Wirbel um ein bodenloses, schwarzes Loch. »Ich habe dir doch gesagt, dass du hier in Sicherheit bist«, fügt er mit gesenkter Stimme hinzu. Dann streckt er die Hände aus und fängt an, mich zuzudecken und die Decke um meinen Körper herum festzustecken.
Ich fasse sein Handgelenk und halte es fest. »Bleib bei mir.«
Étienne zieht die Augenbrauen hoch. »Sicher?«
Nein, denke ich. Aber ich will auch nicht alleine sein. Nicht, solange Faucon noch da draußen ist. »Mir ist kalt«, murmele ich.
Étienne zögert. Ich kann spüren, dass er mich durchschaut. Er weiß, dass ich in dieser Nacht kein Auge zumachen werde, wenn ich immer wieder sehe und höre, wie Faucons Klinge auf Narcisse herabfährt.
Nach ein paar Sekunden scheint er zu einem Entschluss gekommen zu sein. Seine Ernsthaftigkeit weicht einem breiten Lächeln. »Na toll«, ächzt er und rollt mit den Augen. »Gib es doch zu ... du willst nur meine Selbstbeherrschung testen.« Er streift meine Hand ab und geht zur Tür, um die Gaslampen abzudrehen, sodass nur noch ein schmaler Streifen Licht durch den Türspalt hereinfällt. »Aber Pech für dich, denn ich bin ein Musterbeispiel an Charakterstärke und Disziplin.«
»Das ist gut«, seufze ich. »Weil ich bin es heute Abend nicht.«
»Dann werde ich mich wohl für uns beide beherrschen müssen.«
Étienne klettert zu mir ins Bett. Ich muss bis zur Wand rücken, damit wir beide Platz haben.
»Na los«, sagt Étienne und bietet mir seine Schulter an.
Ich kuschele mich an ihn und er legt den Arm um mich. Seine Wärme hüllt mich ein und mein Zittern verebbt. »Danke ...«, flüstere ich.
»Du wirst sehen, es wird alles wieder gut.«
»Nicht für Narcisse.«
Étienne legt die freie Hand an meine Wange und dreht meinen Kopf in seine Richtung. »Nein«, sagt er. »Aber ich bin trotzdem froh, dass du gekommen bist. So langsam hatte ich die Hoffnung schon aufgegeben.«
Ich schürze die Lippen. »Du wusstest von Anfang an, wer ich bin.«
»Nein«, widerspricht Étienne. »Gewusst habe ich es nicht, aber ich hatte zumindest eine vage Vermutung. Ich meine ... Traumheilerin?« Er schmunzelt und streicht mir eine Locke aus der Stirn. »Was ist das denn für ein Beruf?«
Ich bin zu müde, um mit ihm zu diskutieren. Deswegen sage ich nur: »Irgendwann wird man feststellen, wie mächtig Träume sind.«
»Gut möglich«, lenkt Étienne ein. »Im Moment bin ich einfach nur froh, dass wir dich gefunden haben und dass du zu uns gekommen bist. Alles andere ist unwichtig.« Er hebt den Kopf und gibt mir einen flüchtigen Kuss. Nur ein warmer Hauch auf meinen Lippen. »Und jetzt ruh dich aus. Morgen gibt es viel zu ...«
Das Ende des Satzes höre ich schon nicht mehr.
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