22) Saure Trauben
»Rein, rein, kommt rein, schnell«, flüstert sie und schiebt das Mädchen und mich zu der offen stehenden Terrassentür. »Und du ...« Sie scheint mit dem Stier zu reden.
Irritiert sehe ich mich um, doch der Bulle ist verschwunden. Hinter mir steht Étienne, regennass und splitterfasernackt.
»N'abend«, sagt er mit einem kurzen Kopfnicken und einem Lächeln, das mit jeder Sekunde, die ich ihn fassungslos anstarre, mehr zu einem Grinsen heranwächst.
Dann werde ich von Adeline de Cinc Estrellia an der Schulter gepackt und ins Innere des Anwesens geschoben.
»Da draußen stehen drei Angehörige des Corps«, bemerkt Seymour Bouleau, der auf einmal neben mir steht. »Die sind bestimmt nicht zum Plaudern gekommen. Was soll ich ihnen sage?«
»Halte sie einfach hin«, erwidert Adeline de Cinc Estrellia. »Ich komme gleich und rede mit ihnen.«
Seymour fährt auf dem Absatz herum und rauscht davon.
Vollkommen überfordert mit der Situation lasse ich meinen Blick schweifen. Mir wird bewusst, dass ich mich in dem Salon aus Étiennes Traum befinde.
»Betty?«
Hellblaue Polstermöbel, malvefarbene Tapeten, Bücherregale, Vitrinen und ein weißer Flügel.
»Betty?«
Sogar der Geruch nach Vanille und Essig ist genau so, wie ich es in Erinnerung habe.
»Betty?«, fragt Étienne zum dritten Mal.
Ich blinzele verwirrt, als mir bewusst wird, dass es sich dabei um meinen Namen handelt. »Ja?«
»Schön, dass du gekommen bist«, sagt Étienne.
In diesem Moment verlassen mich meine Kräfte. Meine Knie werden weich, meine Augen füllen sich mit Tränen und mir entweicht ein langgezogener Schluchzer. Ich lege eine Hand um meinen schmerzenden Arm und sinke gegen das nächstbeste Sofa.
Adeline de Cinc Estrellia hält mich fest, damit ich nicht auf dem Boden lande. »Étienne, mach dich zur Abwechslung mal nützlich und bring sie nach oben.« Sie schlägt ihm mit dem Handrücken gegen den muskulösen Oberarm. »Und zieh dir gefälligst etwas an!«
»Au«, macht Étienne.
Adeline wirft ihm einen drohenden Blick zu und zischt: »Jetzt.«
»Ich mach ja schon«, mault Étienne, nimmt eine Decke vom Sofa und wickelt sie sich um die Hüfte. Dann umfasst er meine Taille und zieht mich wieder auf die Beine. »Komm, Betty, lass uns gehen.«
»Es tut mir leid«, stammele ich. »Normalerweise bin ich nicht so ... so ...«
»Schon gut«, sagt Étienne. »Wir bringen dich jetzt erstmal nach oben und dann-«
»Nein, nein.« Ich wehre mich gegen seinen Griff, bis er innehält und ich wieder gegen das Sofa sinke. »Er hat ihn umgebracht«, schluchze ich. Tränen laufen mir über die Wangen. »Er hat ihn ... umgebracht!«
»Wer hat wen umgebracht?«, fragt Adeline de Cinc Estrellia.
Ich deute in die Richtung, in die Seymour verschwunden ist und in der ich die Haustür vermute. »Er ... der ... Captaine ...« Mir wird übel. Ich fasse mir an den Bauch und krümme mich vornüber. Im Kopf kann ich den Capitaine vor mir sehen. Wie er dem schlafenden Narcisse das Messer in die Brust gerammt hat. Das dumpfe Geräusch hallt mir noch immer in den Ohren. Das Reißen und Schaben der Klinge. Der Geruch von Blut steigt mir in die Nase. Ich muss würgen, doch weil ich seit Stunden nichts Festes mehr gegessen habe, spucke ich nur etwas Magensäure und Traubennektar auf den hübschen, cremeweißen Jouyan-Teppich. »Es ... es ... tut mir leid«, stammele ich erneut. »D-der schöne Teppich ...« Meine Wangen sind ganz heiß vor Scham. Der Geschmack von Säure mischt sich mit dem Salz meiner Tränen.
Adeline de Cinc Estrellia geht in die Hocke, um mir besser ins Gesicht sehen zu können. »Machen Sie sich um den Teppich keine Gedanken, Mademoiselle Pommier.« Sie fasst mich mit der behandschuhten Hand an der unverletzten Schulter. Eine Geste des Vertrauens, die ich von ihr nicht erwartet hätte. Genau wie den sanften, beinahe mütterlichen Tonfall. »Wer wurde umgebracht?«
Ich sehe ihr in die Augen und stoße auf echtes Mitgefühl, aber auch auf einen lodernden Sinn für Rechtschaffenheit und Gerechtigkeit. »Mein Auftraggeber«, flüstere ich. »Roland Narcisse.«
Adeline de Cinc Estrellia ist weder Überraschung noch Entsetzen anzumerken. »Sind Sie sich da ganz sicher?«, fragt sie ernst.
Ich nicke. »Ja ...« Meine Mundwinkel zucken, meine Unterlippe bebt. Alles um mich herum verschwindet hinter einem Tränenschleier. »Ja, ich bin mir ganz sicher.«
»Und Sie haben den Mord beobachtet?«
Ich schniefe und nicke noch vehementer.
Adeline tätschelt meine Schulter. »Gut. Ich kläre das mit-«
»Sagen Sie ihm nicht, dass ich hier bin!«, keuche ich. »Er hat auf mich geschossen. Er will mich umbringen. Seine Augen ... seine ... seine Augen waren rot und er hat ... er hat auf mich geschossen!« Ich merke, dass ich hysterisch werde, aber ich weiß mir einfach nicht mehr zu helfen.
»Schon gut, Betty«, sagt Étienne.
»Nichts ist gut«, fahre ich ihn an. »Er hat ihn einfach umgebracht! Mit einem Messer! Und ich konnte gar nichts machen! Er hat ihn erstochen! Und ich verstehe nicht ... ich weiß nicht ...«
Étienne umfasst mich von hinten mit den Armen. Ich will ihn abschütteln, aber er lässt mich nicht los. Sanft umfasst er meine Hände und faltet sie vor mir auf dem Bauch. Meine Brust hebt und senkt sich viel zu schnell. Mein Herz rast. Ich will laufen. Wegrennen. Um mich schlagen. Doch Étiennes Umarmung hält mich davon ab. Ich weiß, er wird mich nicht loslassen. Ganz egal, ob ich ihn anschreie, schlage oder trete. Sein Körper ist fest und warm. Er riecht nach Schweiß und Regen – und ein klein wenig nach nassem Tier.
»Beruhige dich, Betty«, flüstert er mir zu. »Tief atmen.« Ich kann seinen Atem am Hals spüren und versuche, mich seinem Rhythmus anzupassen. Mein Hals ist so fest zusammengeschnürt, dass ich den Kopf in den Nacken legen muss, um überhaupt noch Luft zu bekommen. »Du bist in Sicherheit«, fährt Étienne fort. »Du kannst dich entspannen.«
»Ich kann nicht ...«, hauche ich. Meine Haut kribbelt, als würden Millionen Ameisen auf mir herumkrabbeln. Étiennes Wärme färbt auf mich ab. Ich habe das Gefühl, in seinen Armen zu versinken.
»Lass einfach los, Betty.« Étienne zieht mich noch enger an sich. Ich spüre sein stoppeliges Kinn an meiner Wange. Seine Finger verschränken sich mit meinen. »Du weißt doch, wie das geht. Es ist wie bei einer Verwandlung. Entspannen. Muskel für Muskel.«
Ich atme gepresst ein und aus. Tatsächlich werde ich langsam ruhiger. Meine Glieder scheinen taub zu werden, meine Gedanken verschwimmen und ich spüre eine tiefe, alles durchdringende Erschöpfung, die sich langsam in mir ausbreitet.
»Bring sie nach oben«, höre ich Adeline de Cinc Estrellia sagen. »Ich kümmere mich um den Capitaine.«
Étienne scheint zu nicken. Er lockert seine Umarmung und schlingt stattdessen einen Arm um meine Kniekehlen. Mit einer schwungvollen Bewegung hebt er mich hoch. »Komm, Betty«, sagt er und wiegt mich spielerisch auf den Armen. »Ich zeig dir jetzt mal das Haus.«
Doch ich habe zu wenig Kraft, um die Augen offenzuhalten. Die Lider fallen mir zu und ich nehme von meiner Umgebung nur noch einzelne Schatten, Gerüche und Geräusche wahr. Das Brummen einer Maschine. Den Klang von Étiennes nackten Füßen auf Holz, Teppich und Fliesen. Den Geruch von Mottenkugeln, Bohnerwachs und Petroleum.
Schließlich erreichen wir unser Ziel und Étienne lässt mich in ein weiches, schon etwas durchgelegenes Bett sinken.
»Ist sie das?«, vernehme ich eine fremde Stimme. »Die Frau mit dem Drudenfluch?«
Étienne bejaht. »Kannst du kurz auf sie aufpassen, Mae? Sie ist verletzt. Ich brauche etwas Verbandszeug.«
»Nein, nein, besser nicht«, wehrt die Angesprochene ab. »Ich kann das Verbandszeug holen.«
Ich zwinge mich, die Augen zu öffnen, und sehe gerade noch, wie eine junge Joumin mit kupferroten Haaren zur Tür hinaus verschwindet. »War das ...?«
»Die kleine Mae?« Étienne schmunzelt, rückt die Decke um seine Hüfte zurecht und setzt sich auf die Bettkante. »Ganz recht.«
»Ist sie ...? Seid ihr ...?«
»Nein«, antwortet Étienne. »Wie schon gesagt ... wir sind kein Paar oder sowas. Sie ist bloß ...« Er seufzt und wirft einen Blick zum Fenster. Tropfen trommeln dumpf gegen die Scheibe. »Sie ist wie wir, Betty.«
Ich verstehe nicht, was er damit meint. Meine Gedanken sind träge und ich bin so unendlich müde. Eigentlich will ich nur schlafen und gleichzeitig will ich das auf keinen Fall – aus Angst, Julien Faucon könnte auftauchen und mich im Schlaf abstechen.
Étienne streckt die Hand nach mir aus und streicht mir mit dem Daumen über die Wange. »Wir reden morgen darüber, ja? Jetzt musst du erst einmal wieder zu Kräften kommen.« Seine Finger wandern zu meiner Schulter. »Ist es in Ordnung, wenn ich mir deinen Arm ansehe?«
Ich presse die Lippen aufeinander und nicke.
Étienne beugt sich über mich und hilft mir, mich aus der durchnässten Wolljacke zu schälen. Darunter trage ich ein einfaches Hemd, das ebenfalls vor Nässe trieft. Weil ich keine Lust habe, mich zu verkühlen, ziehe ich es mir über den Kopf.
»Oh, Betty«, ächzt Étienne, wendet den Blick ab und presst sich eine Hand aufs Herz. »Gib mir doch wenigstens eine Vorwarnung.«
»Sei nicht prüde«, murmele ich, ziehe mir die Bettdecke bis zum Hals und strecke den Arm aus. Der provisorische Verband hat sich mit Blut vollgesogen.
Étienne entfernt ihn und legt die Wunde frei. Sie hat die Form eines Kometen, der vom Himmel herabstürzt und dabei einen Feuerschweif hinter sich herzieht. Die Wundränder sind dunkel verfärbt. Alles ist voller Blut.
»Ich sag's wirklich nur ungern«, seufzt Étienne, nimmt meinen Arm und dreht ihn hin und her, um die Wunde aus verschiedenen Winkeln betrachten zu können. »Aber da wird eine Narbe bleiben.«
»Ich könnte tot sein«, erwidere ich.
Étienne lässt meinen Arm sinken und legt ihn neben mir auf der Bettdecke ab. Seine Miene wird ungewöhnlich ernst. »Aber das bist du nicht. Du bist ihm entkommen und hast es bis hierher geschafft.«
Meine Sicht verschwimmt, aber ich habe kaum noch Tränen in mir, die ich weinen könnte. »Ich wollte doch deine Tür sehen«, presse ich schluchzend heraus.
Der Ausdruck auf Étiennes grobem Gesicht wird weich. Seine Augen glänzen. Er scheint innerlich mit sich zu ringen, dann gibt er sich einen Ruck, beugt sich über mich und küsst mich auf den Mund.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top