21) Die schönste Tür
Ich fahre bis zur Endhaltestelle des Zuges. Dabei rufe ich mir ins Gedächtnis, was Étienne zu mir gesagt hat: Der Zug würde dich förmlich vor meiner Haustür absetzen. Wenn das stimmt, sollte ich keine Probleme haben, sein Haus zu finden.
Doch natürlich ist es nicht ganz so einfach.
Der Zug passiert die Chenilles und hält an einem einsamen Bahnsteig, der lediglich von einer einzelnen Laterne erleuchtet wird. Motten umschwirren das Licht. Das Gewitter brodelt in der Ferne. Der Wind ist kühl und trägt den Geruch von Salzwasser und Feuchtigkeit mit sich.
Ich bin der letzte Fahrgast. Unschlüssig mache ich ein paar Schritte über den Bahnsteig und lasse meinen Blick schweifen. Wegen der spärlichen Beleuchtung kann ich von meiner Umgebung nur vage Umrisse erkennen. Hohe Hecken, Zäune und verlassene Gebäude. Dahinter die hoch aufragenden Silhouetten von halb verfallenen Baracken und schiefen Schornsteinen.
Eine Treppe führt vom Bahnsteig auf eine Straße hinunter, die von Unkraut überwuchert wird. Zu beiden Seiten wachsen Olivenbäume und Felsenweiden. Dazwischen Palmen und blühende Sträucher.
Der Wind frischt auf und zerrt an meinen Haaren. Meine Wunde schmerzt. Ein dumpfer, pulsierender Schmerz, der an- und abschwillt und sich dabei immer weiter steigert. Ich beschließe, dass ich es mir nicht leisten kann, weiter zu zögern. Deshalb entscheide ich mich für eine Richtung und marschiere los.
Weit komme ich nicht. Die Straße endet an einem hohen Tor aus bunt angestrichenen Holzlatten. Kunstvolle, altertümlich anmutende Schnitzereien von gehörnten Fabelwesen krönen die Konstruktion. Es könnte sich um geflügelte Stiere handeln.
»Nein«, murmele ich. Nein, das kann nicht sein. Das wäre zu einfach. Oder doch? Étienne, der Rinderzüchter ...
Ich lehne mich an das Tor, das mit einem schweren Vorhängeschloss gesichert ist, und spähe zwischen den Holzlatten hindurch. Dahinter scheint eine flache Ebene zu liegen. Vielleicht eine Weide. Ein schlammiger Weg führt hindurch. Ich kann Reifenspuren entdecken. Von einer Voiturette oder einem Fuhrwerk?
Als hätten meine Gedanken das nächste Ereignis heraufbeschworen, kann ich auf einmal Motoren hören. Fahrzeuge nähern sich dem Bahnsteig.
Ohne zu zögern, springe ich ins Gebüsch und suche mir ein Versteck hinter den blühenden Sträuchern, die im Wind rauschen und einen süßen Duft verströmen. Mein Herz schlägt schneller, aber ich bin nicht mehr halb so aufgelöst wie bei meiner Flucht aus dem Narcisse-Anwesen. Ich habe den Teil von mir, der in Panik ausbrechen und kopflos davonrennen will, wieder besser unter Kontrolle.
Aus meinem Versteck heraus beobachte ich, wie zwei Voiturettes vor dem Tor halten. Ihr pechschwarzer Lack glänzt feucht im Schein des Wetterleuchtens, sodass ich ihre kastenförmigen Umrisse gut erkennen kann. Aus dem vorderen Wagen springen zwei Uniformierte der Kriminalpolizei. Sie ziehen sich ihre Schirmmützen ins Gesicht und huschen durch den einsetzenden Nieselregen zum Tor. Erst sehen sie sich suchend um, dann rütteln sie an den Holzlatten und begutachten das Schloss. Alles ohne Erfolg. Einer der beiden Männer – es handelt sich um den Hageren – läuft zu der hinteren Voiturette und beugt sich hinein, um mit jemandem zu reden, der im Schatten des Verdecks nicht zu erkennen ist. Anschließend nickt er dem Schnauzbart zu und die beiden schwingen sich wieder hinter das Steuer ihres Wagens. Nach kurzem Werkeln im Fußraum geben sie Gas. Die Voiturette schießt los und bricht mit einem lauten Splittern und Krachen durch das Tor. Fassungslos sehe ich zu, wie sich jetzt auch die zweite Voiturette in Bewegung setzt und durch das klaffende Loch, das der erste Wagen hinterlassen hat, auf die dahinterliegende Wiese holpert.
Ich bin entsetzt. Offenbar hat die Menther Kriminalpolizei keinerlei Respekt vor dem Besitz anderer Menschen. Andererseits ... ich habe gerade beobachtet, wie der Capitaine einen unschuldigenden Menschen im Schlaf ermordet hat. Vielleicht denkt er, dass es jetzt auch nicht mehr schlimmer kommen kann. Denn, wenn ich den Mund aufmache, wenn ich der Öffentlichkeit erzähle, was ich gesehen habe ... mich überläuft ein kalter Schauer. Ich habe keine Zweifel daran, dass Julien Faucon mich umbringen will. Und wer soll ihn aufhalten?
Langsam wage ich mich aus meinem Versteck und sehe den beiden Voiturettes nach. Sind sie auf dem Weg zu Étienne? Faucons Handlanger haben mich mit ihm zusammen gesehen. Als ich in den Zug gesprungen bin, müssen sie ganz einfach eins und eins zusammengezählt haben. Der Gedanke, dass ich Étienne in Gefahr gebracht habe, schnürt mir den Brustkorb zusammen. Doch jetzt ist es zu spät, um etwas daran zu ändern.
Ich klettere über die kaputten Holzlatten und trete auf die Weide hinaus. Der Nieselregen wird stärker. Ich wickele mich enger in meine Wolljacke und laufe los. Dabei folge ich den Reifenspuren der Voiturettes, die sich in den schlammigen Boden gegraben haben. Der Wind peitscht durch das halbhohe Gras und raubt mir immer wieder die Luft zum Atmen. Donnergrollen rumpelt über den Himmel. Ich kann spüren, dass es gleich wirklich ungemütlich werden wird. So schnell ich kann, haste ich weiter. Die Ebene neigt sich dem Meeresspiegel entgegen und ich vermeine, in der Ferne den Ozean rauschen hören zu können. Hin und wieder treffe ich auf verfallene Zäune, die keinem Zweck mehr zu dienen scheinen.
Was hat Étienne noch gleich gesagt? Sein Vater hätte eine Rinderfarm besessen? Vielleicht sind das die Überreste seiner Ambitionen. Überbleibsel einer vergangenen Zeit. Wie die Fabrikruinen, die ich am Bahnsteig zurückgelassen habe.
Unwillkürlich muss ich an meine Eltern denken. An ihre kleine Kneipe. Daran, wie ich es genossen habe, über dem Schankraum im Bett zu liegen und dem Lärm der Gäste zu lauschen. Ihrem Singen und Grölen, Streiten und Fluchen. In diesen Momenten habe ich mich immer besonders geborgen gefühlt.
Keine Ahnung, warum ich ausgerechnet jetzt daran zurückdenken muss. Vielleicht, weil ich erschöpft bin und mir nichts sehnlicher wünsche, als wieder zuhause zu sein. Ich hätte nie gedacht, dass es mal so kommen würde. Doch meine Wunde schmerzt immer stärker. Ich kann spüren, wie das Blut meinen improvisierten Verband durchtränkt. Und dann beginnt es auch noch heftig zu regnen. Die Tropfen prasseln wie Hagel auf mich herab. Donnerschläge lassen die Erde erzittern und mir wird bewusst, dass ich mich in einer äußerst delikaten Situation befinde. Wenn ich nicht aufpasse, werde ich noch vom Blitz getroffen. Der Gedanke fährt mir in die Beine. Ungeachtet meiner Schmerzen renne ich los. Der feuchte Erdboden schmatzt bei jedem Schritt. Nasse Grashalme umstreifen meine Knöchel.
Nach ein paar Minuten kann ich in der Ferne verschwommene Lichter erkennen. Ein Haus? Tatsächlich! Ein mehrstöckiges Anwesen, das von einem verwilderten Garten umgeben ist. Die Kronen von Palmen und Pinien wiegen sich im Sturm. Das Rauschen des Ozeans mischt sich mit dem Grollen und Sausen des Gewitters. Im Widerschein eines Blitzes kann ich die beiden Voiturettes erkennen, die vor dem Eingang des Gebäudes gehalten haben. Der Schnauzbärtige und sein hagerer Kumpan nähern sich der Haustür, dicht gefolgt von Julien Faucon. Ich will mir gar nicht vorstellen, was er Étienne antun wird.
Im nächsten Moment entdecke ich eine Bewegung, die mich innehalten lässt. Etwas kommt auf mich zu. Etwas Großes, Dunkles. Es umrundet den Garten des Anwesens und rast mit wirbelnden Hufen in meine Richtung.
Das Herz rutscht mir in den Magen. Ich mache kehrt und renne davon. Das Tier – oder sollte ich besser Untier sagen? – nimmt meine Verfolgung auf. Ich kann es hinter mir schnaufen und stampfen hören.
Und dann passiert es! Ich bleibe im Schlamm stecken, verliere das Gleichgewicht und stürze mit einem heiseren Aufschrei auf Hände und Knie.
Das Untier holt mich ein. Ich werfe mich herum. Warum, weiß ich nicht. Vielleicht, weil ich es ansehen will, wenn es mich über den Haufen walzt. Doch das passiert nicht. Das Untier wird plötzlich langsamer, trabt aus und bleibt vor mir stehen.
Es handelt sich um einen riesigen Stier mit dunklem Fell und mächtigen, vorwärts gebogenen Hörnern. Er schnauft und scharrt mit den Vorderhufen im Schlamm. Dampf steigt von seinen Nüstern auf und seine schwarzen Augen scheinen mich direkt anzusehen, als wüsste er, wer ich bin.
Obwohl ich vom Land komme, weiß ich nicht, wie ich mich in dieser Situation verhalten soll. Ich fühle mich wie erstarrt. Der Regen durchnässt meine Haare, meine Kleidung, läuft mir über das Gesicht und tropft mir in die Augen.
Der Bulle peitscht mit dem Schwanz, als wollte er Fliegen verscheuchen. Dann machte er eine Kopfbewegung in Richtung des Anwesens und schnaubt. Als wollte er mich dazu auffordern, ihm zu folgen. Seine Augen fixieren mich und er wiederholt die Geste. Spinne ich?
»Stóri!«
Die Stimme weht über die Wiese. Sie klingt gepresst, als würde die Sprecherin sich nicht trauen, laut zu rufen.
»Stóri?«
Der Stier macht einen halben Schritt zur Seite, sodass ich das Kind sehen kann, das sich uns durch den Sturm nähert. Es handelt sich um das Mädchen, das Étienne am Lufthafen in Empfang genommen hat. Ich schätze sie auf sechs oder sieben Jahre. Das honigbraune Haar klebt ihr feucht am Kopf. Ein karierter Schal windet sich um ihren Hals und in einer Hand trägt sie eine Laterne, die jedoch gerade so viel Licht spendet, dass ich ihr Gesicht erkennen kann. Es ist blass, mit einer winzigen Nase, runden Augen und einem Grübchen am Kinn. Unschlüssig sieht sie mich an. Dann streckt sie die freie Hand aus und streicht damit über die Flanke des Bullen, als wollte sie ihn beruhigen. Das Tier gibt einen brummenden Laut von sich.
»Was ...?« Ich verschlucke mich fast an dem Kloß in meinem Hals und gerate ins Husten. »Was ... geht hier vor?«, keuche ich schließlich.
Der Stier kommt langsam auf mich zu und fängt an, mich zu umrunden. Ich verrenke mir den Hals, um ihn im Auge zu behalten. Sein Atem bläst mir heiß in den Nacken. Dann stupst er meinen verletzten Arm an. Vor Schmerz entgleisen mir die Gesichtszüge.
»Du bist verletzt«, sagt das Mädchen mit einer sanften, glockenhellen Stimme. Sie lässt die Laterne sinken und späht über ihre Schulter zum Anwesen zurück, wo Julien Faucon und seine Handlanger noch immer vor der Haustür herumstehen und offenbar auf Einlass warten. »Wir müssen uns beeilen.«
»Sie dürfen mich nicht sehen«, presse ich heraus, während ich mich aufzurappeln versuche. Der Stier drückt mir die Schnauze in den Rücken, als wollte er mich stützen.
Das Mädchen nickt verständig. »Komm mit.«
Mit diesen Worten wendet sie sich ab und steuert den Garten an. Ich hefte mich an ihre Fersen. Der Bulle trottet neben mir her, bis wir die ersten Bäume erreichen. Dort werden wir bereits von Adeline de Cinc Estrellia erwartet.
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