2) Fisch und Beeren
Später am Abend kommen alle Reisegäste im Speisesaal zusammen. Eigentlich habe ich geplant, in der Lounge zu bleiben und mir den Sonnenuntergang anzusehen, aber das Wetter macht mir einen Strich durch die Rechnung. Der Himmel hat sich zugezogen, es stürmt und regnet. Das Luftschiff tanzt auf den Windböen wie auf den Wellen eines gläsernen Ozeans.
Also gehe ich in meine Kabine, lege ein Abendkleid aus nachtblauer Seide und dazu eine Perlenkette und Ohrringe an, stecke mir die Haare hoch und begebe mich anschließend in den Speisesaal. Dort spielt ein kleines Streichorchester.
Der ovale Raum besitzt hochwertige holzvertäfelte Wände und eine mit Fresken geschmückte Decke. Außerdem wird er von elektrischen Glühlampen erhellt, was in vielen Städten Ostragons in den letzten Jahren ganz normal geworden ist. Trotzdem gibt es einige Passagiere, die sich bei den Lampen versammeln und die Glaskolben und Glühdrähte bestaunen.
Der Gelehrte mit dem Filzhut nimmt die neugierigen Blicke zum Anlass, um über Gase und Metalle zu fachsimpeln.
Zugegeben, davon habe ich nie etwas verstanden. Ich bin ein durch und durch unpraktischer Mensch. Für Handarbeiten fehlt mir jegliches Feingefühl und in der Küche lasse ich sogar Wasser anbrennen. Als Hausfrau bin ich völlig unbrauchbar, aber ich kenne mich gut mit Menschen aus. Ich habe ein Gespür für ihre Träume und Ängste. Dieses Talent nutze ich, um mich über Wasser zu halten. Ohne einen Ehemann oder eine Familie muss ich für mich selbst sorgen. Wäre ich nicht verflucht, hätte ich mich wohl längst irgendwo niedergelassen. Vielleicht hätte ich sogar geheiratet. Den einen oder anderen Interessenten gibt es und auch ich bin einer Hochzeit nicht grundsätzlich abgeneigt, doch wenn man verflucht ist, muss man in Bewegung bleiben. Man darf nicht zu lange an einem Ort verweilen. Und man darf sich niemals jemandem anvertrauen. Das habe ich auf die harte Weise gelernt.
Bei der Erinnerung muss ich frösteln.
Mein Blick schweift zu der breiten Fensterfront, hinter der sich die Wolken zu turmhohen Gebilden verdichtet haben. Immer wieder zucken Blitze über den Himmel, dicht gefolgt von lauten Donnerschlägen. Sturmböen zerren am gasgefüllten Auftriebskörper des Luftschiffs und lassen die darunter befestigte Passagiergondel mehrfach heftig schwanken. Die Triebwerke brummen und schnaufen. Wahrscheinlich steht uns eine unruhige Nacht bevor. Zum Glück habe ich einen widerstandsfähigen Magen und werde nicht leicht luftkrank.
Nachdem ich mich umgesehen habe, nehme ich an einem der freien Tische Platz und begutachte die Speisekarte. Es gibt zwei unterschiedliche Menüs. Eines soll der Tournesoler Küche Tribut zollen und die Passagiere auf ihr Reiseziel einstimmen. Das andere ist konservative ostragoner Hausmannskost. Natürlich entscheide ich mich für die exotische Variante, die geschickt frischen Fisch und süße Beeren miteinander kombiniert.
Bevor ich jedoch dazu komme, einen Steward auf mich aufmerksam zu machen, erscheint Étienne Romarin bei mir am Tisch und fläzt sich auf einen der freien Stühle. Obwohl er inzwischen ausgeschlafen zu sein scheint und sich ordentlich angezogen hat, umweht ihn noch immer ein Hauch von Weinbrand.
»Guten Abend. Darf ich mich setzen?«, fragt er.
»Sie sitzen ja bereits«, erwidere ich.
Étienne verzieht das Gesicht. Vielleicht habe ich einen Nerv getroffen. »Ich dachte, Sie wollen vielleicht nicht alleine essen.«
»Wie kommen Sie denn darauf?«
»Sie sehen ein bisschen einsam aus, wenn ich ehrlich sein soll.« Étienne winkt dem Blonden, der in der Tür zum Speisesaal steht und nach ihm Ausschau zu halten scheint. »Mein Name ist Étienne Romarin und das hier-«
Der Blonde setzt sich zu uns an den Tisch und schenkt mir ein missmutiges Stirnrunzeln, das ich mit einem aufgesetzten Lächeln quittiere.
»-ist mein Freund, Buchhalter und Leibwächter Seymour Bouleau.«
Ich falte die Hände vor mir auf der weißen Tischdecke. Buchhalter. Wie ich vermutet habe. »Und was sind Sie, Monsieur Romarin? Abgesehen von einem Entführer, meine ich?«
Étienne stöhnt. »Ich habe die kleine Mae nicht entführt. Sie ist zu mir gekommen.« Er reibt sich mit den Händen über das Gesicht. Mit seinem dunklen Teint und den fast schwarzen Augen ähnelt er den Joumin. Vielleicht ist er ein Mischling, ein Shimin. Außerdem fällt mir auf, dass seine Fingerknöchel von Schwielen geziert werden, die von Straßenkämpfen stammen könnten. Möglicherweise habe ich mich mit meiner Einschätzung geirrt und er ist kein verarmter Künstler. Sein Körperbau ist jedenfalls eher kräftig, wie bei einem Schmied oder Rinderzüchter (auch wenn ich nicht weiß, wieso man vom Rinderzüchten breite Schultern und muskulöse Oberarme bekommt, schließlich machen die Tiere die ganze Arbeit).
»Was ist mit Ihnen?«, fragt Étienne und lässt die Hände wieder sinken. »Sie haben sich noch gar nicht vorgestellt.«
Ich richte mich ein Stück auf. »Mein Name ist Elisabeth Pommier, aber meine Freunde nennen mich Betty.« Oder sie würden es, wenn ich Freunde hätte.
»Elisabeth«, wiederholt Étienne, als könnte er die einzelnen Buchstaben auf der Zunge schmecken. »Und Sie reisen nach Tournesol, um sich die Stadt und die Insel anzusehen?«
»Man hat mich eingeladen«, erwidere ich ehrlich. Vielleicht kann ich die Gelegenheit nutzen, um etwas mehr über meinen Auftraggeber zu erfahren. »Ein gewisser Roland Narcisse wünscht meine Dienste.«
Étiennes Augenbrauen wandern fast bis zum Haaransatz hinauf. »Ach, tatsächlich?«
Er mustert mich eingehend, als hätte ich ihn durch meine Worte dazu eingeladen. Aber es ist mir nicht übermäßig unangenehm. Als alleinstehende Frau, die gerne herumreist und viel mit Menschen zu tun hat, ist man ständig mehr oder weniger aufdringlichen Blicken ausgesetzt. Und ich muss Étienne zugutehalten, dass er dabei keine Miene verzieht, sich nicht mit der Zunge über die Lippen leckt oder einen Kussmund macht. Beides habe ich schon erlebt und ich kann nicht sagen, dass ich es besonders schätzen würde. Mir ist klar, dass ich einen wohlgerundeten Körper habe, der vielen Männern gefällt, auch wenn es mir lieber wäre, dürr und flachbrüstig zu sein. Schon allein, weil meine Figur keine engen Kleider oder süßen Naschereien verzeiht (und ich liebe Naschereien wirklich über alles, besonders die kleinen Nougatpralinen aus Bellemont).
Noch bevor Étienne meinen Anblick kommentieren kann, tritt ein Steward an unseren Tisch und stellt drei Gläser mit sprudelndem Schaumwein vor uns ab. Seymour will das Getränk ablehnen, aber Étienne greift zu, bevor der Steward das Glas wieder mitnehmen kann. Er und Seymour tauschen Blicke. Der Buchhalter wirkt verärgert, sagt aber nichts.
Schweigend warten wir, bis der Steward weitergezogen ist, dann nimmt Étienne den Gesprächsfaden wieder auf. »Sie kennen Roland Narcisse?«
Ich drehe mein Glas zwischen den Fingern. »Nicht persönlich. Ich wurde ihm von einem Freund empfohlen.«
»Hm ...«, murmelt Étienne und reibt sich das stoppelige Kinn. »Ich hätte nicht gedacht, dass Narcisse der Typ dafür ist. Ich meine, in seinem Alter ... aber ich schätze, gewisse Dienstleistungen werden immer gebraucht.«
Ich rolle genervt mit den Augen. Dabei ist dieses Missverständnis zum Teil meine eigene Schuld. Ich muss meine Formulierungen wirklich besser überdenken und dabei berücksichtigen, dass arbeitende Frauen nur Zugang zu einer Handvoll verschiedener Berufe haben. »Was auch immer Sie sich ausmalen, so ist es nicht.«
Étienne kneift die Augen zu Schlitzen zusammen. »Dann sind Sie keine-«
»Prostituierte?«, falle ich ihm ins Wort.
»Ich wollte Gouvernante sagen«, beteuert Étienne. »Tut mir leid«, schiebt er hinterher. »Es war nicht meine Absicht, Sie zu beleidigen.«
»Ich bin nicht beleidigt«, lüge ich. Wenn ich nachts umherstreife, um mir ein Opfer zu suchen, begegne ich oft allen Arten von Nachtschwärmerinnen und kann nichts Schlechtes über sie sagen, aber Gouvernanten sind mir unheimlich. »Sie scheinen Roland Narcisse zu kennen«, wechsle ich das Thema.
Étienne zuckt mit den Schultern. »Wer kennt Narcisse nicht?«
Ich betrachte das Glas vor mir auf dem Tisch. Die blassgelbe Flüssigkeit darin bildet konzentrische Kreise. Unspürbare Vibrationen. Vermutlich vom Antrieb des Luftschiffs. »Was können Sie mir über Narcisse sagen?«
»Er ist ein ehemaliger Professor, der in die Politik gewechselt ist.«
»Professor für was?«
»Geschichte«, brummt Seymour Bouleau. »Eine echte Koryphäe auf seinem Gebiet.« Er wirft mir einen geringschätzigen Blick zu. Seine Augen haben die Farbe von Gletscherseen. »Ich kann mir nicht vorstellen, was für Dienste Sie einem angesehenen Gelehrten wie ihm anbieten könnten.«
Étienne schüttelt missbilligend den Kopf. »Hören Sie nicht auf ihn. Mein Freund hatte keine gute Kinderstube.«
Aber natürlich kann ich diese verbale Attacke nicht einfach ignorieren. Ich habe schließlich auch meinen Stolz. »Sogar angesehene Gelehrte können gesundheitliche Probleme bekommen.«
Seymour schnaubt. »Dann sind Sie Ärztin?«
»So etwas in der Art«, antworte ich ausweichend.
»Wie praktisch«, sagt Étienne und deutet auf den Kratzer an seiner Wange. »Denken Sie, da wird eine Narbe bleiben?«
»Vermutlich nicht. Aber wenn Sie keine Narben wollen, sollten Sie sich nicht prügeln.«
Étienne grinst in sich hinein und leert Seymours Weinglas in einem einzigen Zug.
»Wo haben Sie studiert?«, will sein Buchhalter wissen.
»Ich habe überhaupt nicht studiert«, antworte ich und kann Seymour ansehen, was er davon hält. Seine Mimik ist nicht gerade subtil.
»Dann sind Sie eher sowas wie eine Wunderheilerin?«
»Es gibt Bereiche des menschlichen Erlebens, in die sich die moderne Medizin noch nicht vorgewagt hat.«
Seymour verzieht spöttisch die Lippen. »Wirklich? Welche?«
»Träume«, schlage ich vor.
Étienne wirft mir einen fragenden Blick zu. »Und wie funktioniert das?«
»Haben Sie schon einmal einen wirklich schlimmen Albtraum gehabt oder einen ständig wiederkehrenden Traum, der sie gequält hat?« Auch wenn ich keine studierte Gelehrte bin, kann ich der Versuchung, über mein Fachgebiet zu sprechen, nur schwer widerstehen. »Wissen Sie, Monsieur Romarin, Träume sind keine kryptischen Botschaften der Götter, keine Visionen oder Prophezeiungen, aber sie können körperliche und emotionale Zustände ausdrücken. Das bedeutet, aus Träumen lassen sich Rückschlüsse auf Krankheiten und Gefühle ziehen, die einen Menschen belasten, ohne dass er oder sie es bewusst wahrnimmt. Wenn man die Träume eines Menschen kennt und darin lesen kann – so wie ich – dann kann man den Wurzeln vieler Probleme auf die Spur kommen.«
»Sie können in Träumen lesen?«, fragt Étienne, sichtlich beeindruckt.
Ich fühle mich geschmeichelt. »Es ist keine exakte Wissenschaft, aber ich habe ein gutes Gespür und konnte schon vielen Menschen helfen.«
»Gespür«, grunzt Seymour als wäre daran etwas Verwerfliches. Ich kenne Männer wie ihn, die glauben, Gefühle wären eine weibliche Erfindung.
Étienne zupft an seiner Unterlippe herum. Er ist ein grober Klotz von einem Kerl, aber er hat einen wirklich schönen Mund. Weich und sinnlich, mit einem elegant geschwungenen Oberlippenbogen. »Das heißt, wenn ich einen Albtraum habe, kann ich mich an Sie wenden?«
»Haben Sie Albträume?«, frage ich und nippe, ohne ihn aus den Augen zu lassen, an meinem Getränk.
Étienne weicht meinem Blick aus. »Hat das nicht jeder ab und zu?«
Ich stelle mein Glas wieder zurück auf den Tisch. »Ab und zu ist das sicher ganz normal, aber spätestens, wenn Sie darunter leiden oder andere Probleme dazukommen – zum Beispiel Schlafmangel, Unkonzentriertheit, Appetitlosigkeit oder Angstattacken – sollten Sie sich an jemanden wenden, der Ihnen helfen kann.«
Für einen kurzen Moment habe ich den Eindruck, Étienne will mir etwas sagen. Es scheint ihm förmlich auf der Zunge zu brennen. Aber dann flüchtet sich in ein verschwörerisches Lächeln. »Und wie erreiche ich die schöne Traumleserin mit den kornblumenblauen Augen?«
Ich ignoriere seine Schmeichelei. »Derzeit plane ich, zwei Wochen auf Menthe zu bleiben. Aber wenn Sie mich kontaktieren wollen, müssen Sie sich an Roland Narcisse wenden. Er hat meine Anreise und meine Unterkunft arrangiert.«
Kaum habe ich diese Worte ausgesprochen, geht ein Ruck durch das Luftschiff. Gläser und Porzellan setzen sich in Bewegung und poltern zu Boden. Es klirrt und scheppert. Die Menschen taumeln durcheinander, das Orchester verstummt und die Lichter flackern. Das dumpfe Röhren der Triebwerke lässt Tische und Wände erzittern.
Während um uns herum Panik ausbricht und die anderen Passagiere entweder flüchten oder in Schreckstarre verharren, tauschen Seymour, Étienne und ich amüsierte Blicke. Anscheinend sind wir das Fliegen gewohnt oder fürchten den Tod weniger als gut für uns wäre.
»Elisabeth ...« Irgendwie ist es Étienne gelungen, unsere Getränke zu retten. Er reicht mir mein noch halbvolles Glas und prostet mir zu.
»Betty«, sage ich und erwidere die Geste.
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