19) Im Dunkel der Nacht
Während ich noch um Fassung ringe, öffnet sich die Tür zu Narcisse' Schlafzimmer. Mein erster Gedanke ist, dass es sich um einen Bediensteten handeln muss, der etwas gehört hat.
Instinktiv ziehe ich die Beine an und presse mir die Hände auf den Mund, um meine Atemgeräusche zu dämpfen.
Schritte nähern sich. Jemand hat das Schlafzimmer betreten.
Von meiner Position aus kann ich die Person nicht sehen, aber ich vermute anhand des Klangs der Schritte, dass es sich um einen Mann handelt. Er nähert sich dem Bett.
Ich hoffe, dass er bloß nachsehen will, ob bei Narcisse alles in Ordnung ist, doch dann umrundet er das Bett und geht zum Fenster. Seine Silhouette hebt sich scharf umrissen gegen den orangefarbenen Schein der Straßenlaternen ab – und ich kann sehen, mit wem ich es zu tun habe: der Capitaine.
Ein Teil von mir will erleichtert aufatmen. Ein anderer Teil von mir weiß es besser und bringt mich dazu, das Atmen einzustellen.
Wie erstarrt sitze ich zwischen Kommode und Schrank und kann nur daran denken, was passieren wird, wenn Julien Faucon mich entdeckt. Wird er mich für eine von den Contres halten und mich verhaften? Oder wird er mich gleich an Ort und Stelle abknallen? Ich würde es ihm zutrauen. Er hat etwas an sich, das eine uralte Furcht in mir weckt. Es hat mit seinem sicheren Gang zu tun und mit der Art, wie sein Haar liegt. Jede einzelne Strähne an ihrem Platz. Geradezu unheimlich.
Ist das albern?
Ich weiß es nicht und ich habe keine Zeit, um darüber nachzudenken. Meine Lunge brennt, mein Herz rast und mein Magen hebt sich unangenehm. Wenn Faucon nicht gleich wieder geht, werde ich ersticken. Doch er steht nur da, vollkommen still, und sieht in die Nacht hinaus. Die schwarze Uniform unterstreicht das Gewöhnliche seiner Erscheinung. Das Gewöhnliche, das ihn auf seltsame Weise außergewöhnlich macht.
Doch dann – ganz plötzlich, als hätte er von irgendwoher ein geheimes Signal erhalten – geht er zu Narcisse und zieht etwas aus seiner Jackentasche, das ich im Halbdunkeln nicht gut erkennen kann.
Danach geht alles ganz schnell.
Faucon hebt die Hand. Der Gegenstand blitzt im Mondlicht silbrig auf. Die Hand schnellt wie ein Fallbeil herab und der Gegenstand bohrt sich mit einem dumpfen Laut in die Brust meines Auftraggebers. Ein Ruck geht durch Narcisse' Körper. Ich höre ein Geräusch, das klingt, als würde er keuchend nach Luft schnappen. Sein Oberkörper bäumt sich auf, seine Beine zucken unter der Bettdecke, dann sinkt er wieder zurück und liegt still.
Ich atme schnaufend in meine hohle Hand. Schweiß tritt mir aus allen Poren. Hat der Capitaine gerade ... Narcisse umgebracht?
Faucon verändert seinen Griff um das Messer, das er Narcisse in die Brust gerammt hat. Doch anstatt es herauszuziehen, führt er es vom Herzen in Richtung Bauchnabel, als wollte er einen Fisch filetieren. Dabei muss er sich offenbar ordentlich anstrengen. Jedenfalls packt er das Messer mit beiden Händen und nutzt seinen ganzen Körper, um Druck aufzubauen.
Die Klinge zerteilt Narcisse' Kleidung, schneidet durch sein Fleisch und schabt gut hörbar über seine Knochen. Der metallische Geruch von Blut breitet sich aus und ich kann sehen, wie sich die Bettdecke dunkel färbt.
Tränen des Entsetzens steigen mir in die Augen und mir entweicht ein angsterfülltes Wimmern.
Sofort hält Faucon inne.
Ich kneife die Augen zusammen und beiße mir in die Handinnenfläche, spüre jedoch keinen Schmerz. Alles, was ich spüre, sind die heißen Tränen, die mir über die Wangen laufen, und das unregelmäßige Hämmern meines Herzens, das meinen ganzen Brustkorb vibrieren lässt.
Schritte nähern sich. Faucon kommt auf mich zu. Ich rechne damit, dass er mich ebenfalls abstechen wird. Doch zunächst geschieht nichts.
Langsam öffne ich die Augen – und stelle mit leichter Verwunderung fest, dass ich gar keine Augen mehr habe. Ebenso wenig wie einen Körper. Ich bin nur noch eine Handvoll Staub, die direkt vor Julien Faucon in der Luft tanzt. Der Capitaine kann mich nicht sehen. Und trotzdem starrt er in die Ecke zwischen Kommode und Schrank, als wüsste er, dass ich dort bin. Als könnte er es riechen. Vielleicht tut er das sogar. Seine Nase zuckt und in seinen Augen spiegelt sich etwas Rotes. Es sieht fast so aus, als wäre der Elfmond darin gefangen.
Ich muss hier raus. Aus diesem Zimmer. Weg von Faucon und Narcisse. Ich muss Hilfe holen. Ich muss die Gendarmerie informieren. Ich muss–
»Mademoiselle Pommier?«
Faucons Stimme hallt in meinen Ohren. Ich bin geliefert. Er wird mich umbringen.
»Ich weiß, dass Sie da sind«, sagt Faucon und fasst nach der Schusswaffe an seinem Gürtel. Das Messer steckt noch immer in Narcisse' Brust. »Sie können sich nicht ewig in dieser Gestalt verstecken.«
Da hat er allerdings Recht. Meine Kräfte schwinden bereits. Ich spüre es. Ein Gefühl der Erschöpfung erfasst mich. Ein Ziehen und Drücken. Wie Muskelschmerzen ohne Muskeln.
Es gibt nur einen einzigen Ausweg aus meiner Situation: das geöffnete Fenster.
Anders als echter Staub kann ich mich in meiner Staub-Gestalt aktiv fortbewegen. Nicht besonders weit und nicht besonders lange, aber es ist, als wäre mein Körper irgendwie noch da, auch wenn er nicht mehr zu sehen ist. Ich muss einfach die Teile meines Geistes mobilisieren, die für meine Muskeln zuständig sind. Und wenn ich es bis zum Fenster schaffe ...
Noch bevor Faucon die Waffe ziehen kann, werfe ich mich nach vorne und schwebe auf ihn zu. Faucon flucht in einer Sprache, die ich nicht verstehe. Ein Schuss fällt. Der Knall erzeugt eine Druckwelle, die mich zurückschleudert. Ich werde von einem Windzug erfasst und in die Luft gewirbelt. Die Strömung drückt mich Richtung Tür und durch den geöffneten Türspalt in den Flur hinaus.
Dort kann ich die Verwandlung nicht mehr aufrechterhalten. Keuchend und schwitzend nehme ich wieder meine richtige Gestalt an. Ein scharfer Schmerz zieht durch meinen Oberarm. Ich denke, irgendetwas muss mich gestochen haben, doch dann sehe ich das Blut, das den Ärmel meiner Jacke tränkt. Offenbar hat Faucon mich getroffen.
In diesem Moment wird mir bewusst, dass ich noch nicht in Sicherheit bin.
Die Tür zu Narcisse' Zimmer fliegt auf und ich renne los, zur Treppe. Ein weiterer Schuss fällt und lässt eine der Wandlampen über meinem Kopf zerplatzen. Ich beschleunige meine Schritte und springe die Stufen hinunter. Der Atem brennt mir in die Lunge. Ich kann Geräusche hören. Schritte über mir, Stimmen weiter hinten im Haus. Türen knallen. Ein dritter Schuss. Teile der Marmorwand platzen ab, Splitter regnen auf mich herab. Ich renne weiter, erreiche die Eingangshalle und stürze zur Tür.
Bitte, sei offen, sei offen, flehe ich in Gedanken – und wie durch ein Wunder ist die Tür offen. Ich springe in die kalte Nacht hinaus und haste zur Straße. Geschafft, geschafft, geschafft, denke ich. Und direkt danach: Er wird mich trotzdem kriegen. So ist es immer. Sie kriegen einen immer.
Doch Faucon scheint meine Verfolgung aufgegeben zu haben. Jedenfalls kann ich ihn nicht mehr hören. Und es fallen auch keine Schüsse mehr. Trotzdem renne ich weiter. Ich renne so lange, bis ich keine Luft mehr bekomme und meine Beine unter mir nachgeben. Hustend stolpere ich über die Straße und flüchte mich in einen Hauseingang. Ich zittere am ganzen Körper. Und nicht nur mein Körper zittert. Auch meine Seele. Alles zittert. Ich kann mich nicht erinnern, schon einmal eine solche Angst gehabt zu haben. Mühsam versuche ich, meine Gedanken zu sortieren, aber ich schaffe es einfach nicht. Ich will einfach nur weg. Weg von dieser Insel. Zurück nach Hause. Wo auch immer das ist. Mit Tränen in den Augen schleppe ich mich weiter. Mein Brustkorb schmerzt, mein Ärmel ist von Blut durchtränkt und ich habe das Gefühl, bei jedem Atemzug rasiermesserscharfe Glasscherben einzuatmen.
Ich weiß nicht, wie, aber irgendwie schaffe ich es bis zurück zum Hotel. Dort ignoriere ich den Nachtportier, der sich nach meinem Befinden erkundigt, durchquere schnurstraks die Lobby und steige die Treppen zu meinem Zimmer hinauf.
Nachdem ich die Tür hinter mir abgeschlossen und mich mehrfach versichert habe, dass sie auch wirklich verriegelt ist, gehe ich zum Fenster und ziehe die Vorhänge zu. Dann setze ich mich im Dunkeln auf die Bettkante und starre ins Leere. In der Ferne grollt das heraufziehende Unwetter. Ich fühle mich wie benebelt.
Was ist passiert? Was hat Faucon getan? Hat er Narcisse wirklich getötet? Ich will es nicht glauben. Es ist zu schrecklich. Narcisse darf nicht tot sein. Das hat er nicht verdient. Bei diesem Gedanken schießen mir erneut die Tränen in die Augen. Ich verstehe es einfach nicht. Wieso hat Faucon das getan? Er war doch zu Narcisse' Schutz abgestellt!
Mein Arm schmerzt und ich gehe ins Badezimmer, wo ich mich aus meiner Wolljacke schäle, um die Wunde begutachten zu können. Sie ist nicht besonders tief. Vermutlich bloß ein Streifschuss. Ich drehe das Wasser auf, befeuchte ein Handtuch und mache mich daran, die Wunde auszuwaschen. Anschließend wickele ich einen Seidenschal um meinen Arm und knote ihn fest. Dabei fällt mein Blick in den Spiegel über dem Waschbecken. Mein Gesicht kommt mir fremd vor, blass und hohlwangig, mit blutleeren Lippen und einem fiebrigen Blick. Wie unter Hypnose fahre ich mir mit der Hand über die Stirn und an der Nase entlang bis zum Mund. Da an meinen Fingern noch etwas Blut klebt, hinterlasse ich dabei einen dünnen, roten Strich. Der Anblick erinnert mich an Faucon. An das Rot in seinen Augen.
Alle Kraft scheint mich zu verlassen und ich muss mich mit beiden Händen auf den Waschtisch stützen, um nicht den Halt zu verlieren. Im Hintergrund kann ich es an meine Tür klopfen hören. »Mademoiselle Pommier!«
Ich antworte nicht.
»Mademoiselle Pommier. Es tut mir leid, Sie zu dieser späten Stunde stören zu müssen, aber unten im Foyer sind zwei Herren von der Kriminalpolizei, die Sie sprechen wollen.«
Das Blut rauscht mir in den Ohren und irgendwo im Nebel meiner Gedanken wird mir klar, wieso Faucon mich nicht weiter verfolgt hat. Er musste es gar nicht.
Erneut überfällt mich die Angst. Mit zittrigen Fingern fasse ich nach meiner Nagelfeile. Sie ist der einzige Gegenstand in meinem Besitz, der einer Waffe auch nur nahe kommt. Aber ich weiß, das wird mich nicht retten. Ich muss das Hotel verlassen und aus der Stadt fliehen.
Nur ... wohin? Zu dieser späten Stunde starten keine Luftschiffe mehr und ich kenne mich in Tournesol überhaupt nicht aus. Mir ist bewusst, dass ich nicht klar denken kann und vielleicht fällt mir deswegen nur ein einziger Ort ein, zu dem ich gehen könnte, aber ...
»Mademoiselle Pommier«, drängt der Hotelangestellte von draußen. »Es tut mir leid, aber ich werde die Tür jetzt öffnen.«
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top