17) Faim de Loup
Das Ver Luisant ist ein Tanzlokal, das vornehmlich von Einheimischen frequentiert wird. Die Nachfahren der ursprünglichen Siedler sind ein lebenslustiges Völkchen, das gerne trinkt, tanzt und lacht. Deswegen kommen sie wohl auch ins Ver Luisant, denn hier werden diese drei Bedürfnisse alle zugleich befriedigt. Die Getränke sind hochprozentig, die Musik ein Ohrenschmaus und dazu gibt es auch noch einen Komiker, der zu jeder vollen Stunde die Bühne betritt und ein paar anzügliche Gedichte aufsagt oder lustige Geschichten erzählt.
Ich lasse mich von der guten Laune der anderen Gäste anstecken, trinke, tanze und lache. Obwohl ich Étienne ein weiteres Mal zurückgewiesen habe, beweist er Größe und leistet mir Gesellschaft. Er lässt es sich auch nicht nehmen, für meine Getränke zu bezahlen, auch wenn das nicht nötig gewesen wäre.
Nach einer Weile bin ich ein bisschen beschwipst und albere mit ihm auf der Tanzfläche herum. Dabei grölen wir den Refrain von Faim de Loup, einem lustigen und ziemlich anstößigen Ostragoner Volkslied. Doch als die beschwingte Musik einem langsameren Stück weicht, taumele ich zum Rand der Tanzfläche. Ich bin verschwitzt und die dicken Haare kleben mir feucht an Stirn und Nacken.
»Was ist los?«, fragt Étienne atemlos.
Ich weiche einem Pärchen aus, das sich zum Klang der Musik über die Tanzfläche schiebt, und gebe ihm mit einem Handzeichen zu verstehen, dass ich frische Luft schnappen muss. Anschließend verlasse ich den Gastraum durch einen der Nebeneingänge.
Das Ver Luisant ist zu allen Seiten von einer hölzernen Veranda umgeben. Es herrscht Ebbe. Träge rollen die Wellen über den steinigen Strand, der sich einige Meter unter dem Tanzlokal erstreckt. Ein kühler, salzig schmeckender Wind streicht durch das raue Dünengras und raschelt in den Palmengewächsen entlang des Küstenstreifens. Die Sonne versinkt bereits hinter dem Horizont und am rasch dunkler werdenden Himmel erscheinen die ersten Sterne.
Erschöpft lehne ich mich über das Geländer und streiche mir die Haare aus dem Gesicht. Dabei fällt mir auf, dass ich meinen Hut verloren habe. Beim Gedanken, dass ich diesen dummen Hut schon den ganzen Tag mit mir herumschleppe, nur, um ihn dann doch noch zu verlieren, muss ich schmunzeln. Der Alkohol dämpft meine Trauer über den Verlust. Ich fühle mich wohlig warm und angenehm losgelöst von den Ereignissen des Tages. Roland Narcisse ... Elfenflüche ... der Ellyrische Krieg ... welche Rolle spielt das schon? Ich bin hier, mit beiden Beinen fest auf dem Boden (auch wenn es sich gerade nicht so anfühlt), und egal, was in der Vergangenheit passiert ist, daran ändert sich nichts.
Mein Blick wandert zum Himmel hinauf, wo sich bereits die fahlen Umrisse des Mondes abzeichnen. Sein böser Zwilling, der blutrote Elfmond, lauert in seinem Schatten. Er zeigt sich nur in ein paar Nächten des Monats. Es heißt, unter seinem Einfluss wäre die Magie der Elfen besonders stark. Und tatsächlich ist mein Drang, andere Menschen zu drücken, in Elfmondnächten deutlich ausgeprägter. Gleichzeitig gehen mir aber auch Verwandlungen leichter von der Hand.
»Tolle Aussicht, oder?«, bemerkt Étienne und lehnt sich neben mir an das Geländer. Als das Holz daraufhin ein morsches Ächzen von sich gibt, richtet er sich rasch wieder auf. In den Händen hält er zwei Gläser mit einem süßen, sirupartigen und ziemlich hochprozentigem Gebräu, das die Einheimischen Traubennektar nennen. Zuvorkommend, wie es seine Art ist, bietet er mir eines davon an, aber ich lehne schweren Herzens ab. Ich habe schon genug getrunken. Noch ein Glas von diesem Teufelszeug und ich muss mir jemanden suchen, der mich nach Hause trägt. Und das würde ich in Anbetracht der Umstände lieber vermeiden.
Étienne nimmt meine Entscheidung mit einem Schulterzucken zur Kenntnis und leert das für mich bestimmte Glas in einem Zug. Trotz der rauen Mengen alkoholischer Getränke, die er in sich hineinschüttet, wirkt er überhaupt nicht betrunken. Nicht einmal angeheitert. Vermutlich hat er sich diese Toleranz mühsam antrainiert.
»Du sagst es«, seufze ich. »Eine wunderschöne Aussicht.«
Bei diesen Worten wende ich mich wieder dem Ozean zu. Das schwindende Licht taucht das Meer in ein mystisches Farbenspiel aus Goldgelb und Feuerrot. Der kühle Wind trocknet den Schweiß auf meiner Haut und lässt mich sanft erschaudern.
»Wusstest du, dass da unten ein berüchtigter Schiffsfriedhof liegt?«, bemerkt Étienne, stellt das leere Glas auf dem Handlauf des Geländers ab und dreht das zweite Glas in den Händen. Seine Miene bekommt einen melancholischen Anstrich. Auf seiner Stirn glitzern einzelne Schweißtropfen und das verschwitzte Hemd klebt ihm wie eine zweite Haut am Körper, sodass ich die ansprechenden Formen darunter erkennen kann.
»Nein«, antworte ich etwas verspätet.
Étienne deutet aufs Meer hinaus. »Manchmal kann man die Masten der gesunkenen Schiffe aus dem Wasser ragen sehen.«
Ich kneife die Augen zusammen und betrachte die rotgoldenen Lichtreflexionen auf der Wasseroberfläche. Hier und da vermeine ich, ungewöhnliche Schatten ausmachen zu können. Vielleicht die Spitze eines Masttops? Aber vielleicht haben Étiennes Worte auch einfach nur meine Fantasie beflügelt. Dabei sind es nicht nur Étiennes Worte, die meine Fantasie beflügeln.
Unwillkürlich muss ich lächeln. Nein, ich bin noch nicht betrunken genug, um meine guten Vorsätze über den Haufen zu werfen. Und das wäre Étienne gegenüber auch mehr als unfair.
»Hallo, schöne Frau«, sagt jemand auf Westragonisch.
Ich spähe über meine Schulter. Hinter mir stehen ein Mann und eine Dame. Beide haben helle Haut und sind ausnehmend gut gekleidet. Er trägt einen cremefarbenen Leinenanzug und darunter eine taillierte Damastweste, sie ein leichtes Straßenkleid aus flatterhaftem Batiste mit großen Tupfen und eine elegante Kette aus eingeschobenen Perlen und Edelsteinen in Form von Mohnblumen. Unter ihrem Arm klemmt ein Sonnenschirm aus chinierter Seide.
»Der Herr belästigt Sie doch nicht etwa?«, fragt der Mann, der ein rundliches Gesicht mit einer großen Nase und einem kurzen, grau melierten Kinnbart besitzt.
Es dauert einen Moment, bis ich verstehe, dass er von Étienne redet. »Nein, nein«, sage ich schnell.
»Sicher?«, fragt mein Gegenüber spöttisch. »Monsieur Romarin hat den Ruf, ein Weiberheld zu sein.«
»Vielen Dank auch, Vernon«, brummt Étienne und nippt an seinem Getränk.
Die Frau an Vernons Seite streckt die Hand nach Étienne aus und fährt mit den Fingerspitzen über seinen Arm. Die Geste hat etwas ausgesprochen Vertrautes. »Ja«, schnurrt sie dabei. »Vor Monsieur Romarin sollte man sich in acht nehmen.«
Ich unterdrücke mit Mühe ein halb amüsiertes, halb peinlich-berührtes Grinsen.
Étienne zieht die Augenbrauen hoch. »Und was soll das heißen, Camille?«
Camille lächelt geziert. »Dass du den Ruf einer feinen Dame schneller ruinieren kannst, als die meisten Menschen Herzensbrecher sagen können.«
»Ich glaube nicht, dass ich in meinem Leben schon viele Herzen gebrochen habe.«
»Meines ganz bestimmt«, seufzt Camille melodramatisch und wickelt sich eine goldbraune Haarsträhne um den Finger. »Und vermutlich auch das der Frau, deren Tochter du groß ziehst.« Sie klimpert mit den Wimpern. »Willst du mir nicht verraten, wer sie ist? Alle würden das gerne wissen.«
Anstatt darauf einzugehen, richtet Étienne das Wort an mich: »Betty, das sind Monsieur Vernon Cerisier und seine Schwester Camille. Die beiden leiten eine Erziehungsanstalt für höhere Töchter.«
»Es ist mir eine Freude«, sage ich mit einem steifen Lächeln.
»Die Freude ist ganz meinerseits«, verkündet Vernon und erwidert mein Lächeln. Dabei nickt er und kneift wiederholt die Augen zusammen. Er hat die Aura eines Mannes, der sich bereits seit seiner Geburt in der besseren Gesellschaft bewegt. Damit unterscheidet er sich grundlegend von Étienne, der als Bastardsohn geboren wurde und das Auftreten eines Viehzüchters an den Tag legt, und von Narcisse, der durch harte Arbeit zu Reichtum und Wohlstand gekommen ist.
»Und wer sind Sie?«, fragt Camille und spielt mit der Perlenkette, die mehrfach um ihren schwanengleichen Hals gewickelt ist. Sie hat die gleiche Nase wie ihr Bruder, aber ihre hohen Wangenknochen, die vollen Lippen und ihre faszinierenden, opalblauen Augen machen diesen Schönheitsmakel wieder wett. »Doch nicht etwa die Mutter der kleinen Isabel, oder?«
»Nein«, wehre ich ab. »Mein Name ist Elisabeth Pommier.«
»Betty ist eine Schlafheilerin«, ergänzt Étienne.
»Tatsächlich?«, fragt Vernon, als wäre es vollkommen undenkbar, dass jemand wie ich einen ernsthaften Beruf ausübt.
Ich versuche, nicht allzu beleidigt zu sein.
Camille lächelt spöttisch. »So so, Schlafheilerin ...« Ihre Augen bekommen ein hinterhältiges Glitzern. »Und welche Techniken setzt sie ein, um deinen Schlaf zu heilen, Étienne?«
Drücken, denke ich, habe aber gerade noch so viel Kontrolle über meine Zunge, um diese Worte nicht laut auszusprechen.
Étienne presst die Lippen zusammen. »Es ist nicht, was du denkst, Camille.«
»Ich bin nicht wegen Étienne auf der Insel«, ergänze ich rasch.
»Roland Narcisse hat sie engagiert«, schiebt Étienne hinterher.
Vernon lacht auf. »Kein Wunder, dass Narcisse nicht gut schläft.«
»Die Contres sind völlig aus dem Häuschen«, haucht Camille übermäßig dramatisch. »Es heißt, es wäre nur noch eine Frage der Zeit, bis er mit einem Loch im Kopf endet.«
Bei dieser Vorstellung wird mir ganz mulmig zumute. Narcisse und ich mögen nicht einer Meinung sein, was die Elfen angeht, aber er ist ein netter Mann und ich wünsche ihm ganz sicher kein Loch im Kopf. Gleichzeitig muss ich zugeben, dass Camille nicht Unrecht hat. Schließlich sind es nicht nur die Contres, die es auf Narcisse abgesehen haben, sondern auch das Blaue-Distel-Bündnis. Wobei Narcisse vermutlich deutlich Schlimmeres als ein Kopfschuss bevorsteht, wenn er ihnen und ihren Verbündeten von der Eisenkreuzbewegung in die Hände fällt. Narcisse kann wohl nur hoffen, dass der Capitaine etwas von seinem Job versteht.
»Wann sehen wir dich denn mal wieder auf dem Maskenball, Étienne?«, wechselt Camille das Thema. »Leelee und Pauline können es kaum noch abwarten, dich wiederzusehen.«
Ein Zucken wandert über Étiennes Miene. Mir ist sofort klar, dass ihm dieses Thema mehr als unangenehm ist. »Ich dachte, du hättest gesagt, dass ich mich dort nicht mehr blicken lassen soll.«
Camille lacht gekünstelt und streicht erneut mit den Fingern über seinen Arm. »Ach das ... das war doch nur so im Affekt dahergesagt.« Sie lächelt unecht und zeigt dabei ihre kleinen, perlweißen Zähne. »Du bist uns jederzeit willkommen, Étienne.«
Étienne zieht seinen Arm zurück und erwidert ihr Lächeln. Vernon lächelt. Und ich lächle ebenfalls. Wir tauschen Blicke. Niemand weiß noch etwas zu sagen.
»Ich denke, wir sollten aufbrechen«, sagt Étienne, bevor die Situation noch unangenehmer werden kann. Er wirft einen kurzen, sorgenvollen Blick in den Himmel. »Immerhin muss ich Betty noch nach Hause bringen.«
»Ja, ja«, sage ich schnell. »Ich bin ... ganz erschöpft und ...« Ich zupfe an meiner Bluse herum. »... durchgeschwitzt. Es ist wohl besser, wenn wir aufbrechen.«
»Oh, das ist aber schade«, erwidert Camille durch zusammengebissene Zähne. Ihre Blicke sind jedoch reichlich frostig. Vermutlich glaubt sie mir nicht, dass meine Methoden zur Schlafheilung vollständig auf Geschlechtsverkehr (wenn auch nicht auf Körperkontakt) verzichten. In mir reift die Vermutung, dass sie es selbst auf Étienne abgesehen haben könnte. Aber vielleicht möchte sie ihn auch mit einer der höheren Töchter in ihrer Obhut verkuppeln, mit Leelee oder Pauline zum Beispiel. Étiennes Reaktion nach zu urteilen, ist er davon nicht gerade begeistert.
»Es war mir eine Freude, Sie kennenzulernen«, verkündet Vernon und deutet eine kurze Verneigung an.
Ich knickse wie eine Prinzessin.
»Gehen wir, Betty«, sagt Étienne, der es wohl kaum noch abwarten kann, Camille und Vernon loszuwerden. Er legt mir die Hand zwischen die Schulterblätter und schiebt mich mit sanftem Druck zur hölzernen Treppe, die an der Klippe hinaufführt. »Tut mir leid«, raunt er mir zu. »Wenn ich gewusst hätte, dass die beiden hier sein würden ...«
»Ach, nein«, beteuere ich. »Das war sehr lehrreich.«
Étienne runzelt fragend die Stirn. »Wie meinst du das?«
»Mir war nicht bewusst, dass du so ein Herzensbrecher bist.«
»Das ...? Ach ja, nun, das ... ist eigentlich ganz anders«, stammelt Étienne. Eine dunkle Schamesröte kriecht ihm aus dem Hemdkragen.
Ich kann mir nicht helfen, aber er ist schon niedlich, wenn ihm etwas unangenehm ist. »Jetzt bin ich erst recht neugierig.«
»Na schön«, seufzt Étienne. »Ich erzähle es dir auf der Heimfahrt.«
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