16) Ver Luisant

Wir kurven eine ganze Weile durch die Innenstadt von Tournesol. Dabei durchqueren wir auch das verrufene Bahnhofsviertel mit seinen frivolen Tanzrevues, anrüchigen Zeitschriftenläden, halbseidenen Geldverleihern und anderen zwielichtigen Etablissements. Bei Tag sieht es nicht besonders gefährlich aus, aber Étienne warnt mich davor, bei Nacht in diese Gegend zu kommen. Dann würde es hier von Zuhältern und Prostituierten nur so wimmeln.

Während wir durch Tournesol kriechen, steigen Fahrgäste ein und aus, doch niemand setzt sich zu uns. Alle halten mindestens ein paar Plätze Abstand. Manche aus Respekt, die meisten aus unverhohlener Feindseligkeit. Das Verhalten der Menschen hier ist ganz anders als im Luftschiff oder im Theater. Als ich Étienne darauf anspreche, erklärt er mir, dass es vor allem die besser gestellten Bewohner der Insel seien, die sich bei ihm einzuschmeicheln versuchten, auch wenn sie gleichzeitig hinter seinem Rücken über ihn tuscheln würden. »Mein Vater hat mit ihnen allen Geschäfte gemacht«, sagt er. »Halb Menthe schuldet ihm ... das heißt mir Geld. Und außerdem wollen sie, dass ich in ihre Unternehmen investiere. Also behandeln sie mich wie einen Freund, aber in Wirklichkeit sehen sie in mir nichts als einen Joumin-Bastard. Oder sogar einen Mörder.«

»Stimmt es denn?«, frage ich geradeheraus.

Étienne zieht die Brauen zusammen. »Was?«

»Dass du deinen Bruder getötet hast, um an das Vermögen deines Vaters zu kommen.«

Ein müdes Lächeln zupft an Étiennes Mundwinkeln. »Nein. Ich war nicht einmal in der Nähe, als es passiert ist. Aus diesem Grund bin ich auch nie offiziell beschuldigt oder gar angeklagt worden.« Er reibt die Hände aneinander. »Nein ... was mit Cédric passiert ist, war ein tragisches Unglück, nichts weiter.«

»Habt ihr euch nahe gestanden?«

Wieder verneint Étienne. »Wir kannten uns kaum. Cédric war einige Jahre älter als ich und hat bei unserem Vater im Herrenhaus gewohnt. Ich bin bei meiner Mutter in den Dienstbotenunterkünften aufgewachsen.« Zögerlich ergänzt er: »Cédric hat nie einen Hehl daraus gemacht, dass er mich nicht leiden kann. Immerhin bin ich aus einer illegitimen Affäre seines Vaters mit einem Joumin-Dienstmädchen hervorgegangen. Ich denke, dieser Betrug hat ihn mehr verletzt als seine Mutter.«

Ich glaube Étienne. Vielleicht ist es naiv, aber ich denke, wenn er wirklich jemanden getötet hätte, hätte mir sein Albtraum irgendeinen Hinweis darauf gegeben. Doch sein Bruder kam darin nicht einmal vor. Daraus schließe ich, dass sein Tod keine Spuren bei Étienne hinterlassen hat. Natürlich wäre es möglich, dass Étienne ein kaltblütiger Mörder ist, der ohne Reue tötet, aber so schätze ich ihn nicht ein. Und es muss ja auch einen Grund dafür geben, warum er nie angeklagt worden ist. Zumindest bedeutet es, dass damals keine zwingenden Beweise vorgelegen haben. Trotzdem macht es mich stutzig, dass sowohl Étienne Romarin als auch Adeline de Cinc Estrellia von den Bewohnern der Insel des Mordes bezichtigt werden. Nur ein Zufall oder steckt da mehr dahinter?

»Was ist mit dir? Hast du Geschwister?«, wechselt Étienne das Thema.

Ich nicke und bemühe mich um eine neutrale Miene. »Eine Schwester. Katharina.«

»Ihr habt beide westragonische Namen.«

Étienne ist nicht der Erste, der das bemerkt. Manchmal werde ich sogar für eine Westragonin gehalten, schon allein wegen der blonden Haare und blauen Augen, aber die Wahrheit ist deutlich weniger spannend. »Meine Mutter hat eine Schwäche für die westragonische Kultur. Besonders die Namen und die Küche haben es ihr angetan.«

»Küche?«

»Meine Eltern besitzen eine kleine Kneipe in einem ostragonischen Dorf, das auf keiner Karte zu finden ist. Und meine Mutter besteht darauf, für unsere Gäste zu kochen.«

Étienne spitzt spöttisch die Lippen. »Du bist ein Dorfkind.«

»Ja, ich bin ein Dorfkind«, bestätige ich augenrollend. »Das Dorfkind und der Rinderzüchter. Wir passen zusammen.«

»Das ist wahr.« Étienne lächelt, was feine Linien um seine Augen erblühen lässt. »Mein Vater hat früher eine große Rinderfarm besessen. Es war nicht sein Geschäft, aber er hatte Spaß daran. Und das Fleisch hat sich gut verkauft.«

»Was war denn das Geschäft deines Vaters?«

»Reich sein«, antwortet Étienne spöttisch. »Und anderen dazu verhelfen.«

»Und woher stammt sein Vermögen?«

»Aus dem Krieg. Mein Ururgroßvater hat sich damals dumm und dämlich verdient.«

»Womit?«

»Mit Waffen.« Étienne weicht meinem Blick aus. »Genau genommen, hat er im Keller herumexperimentiert und dabei das Knallpulver erfunden.« Er muss mir anmerken, dass ich zwischen diesen beiden Informationen keinen Zusammenhang herstellen kann, denn er ergänzt: »Knallsaueres Quecksilberoxyd. Ein Zündmechanismus für die Treibladung bei Schusswaffen.« Étienne kratzt sich am stoppeligen Kinn. »Daraus hat sich das Schlagschloss entwickelt, das während des Krieges zum Standard für alle Arten von Feuerwaffen geworden ist.«

Ich muss gestehen, ich habe nie darüber nachgedacht, dass einige Menschen tatsächlich vom Krieg profitiert haben könnten. Wenn ich an die seltenen Gespräche mit meinem Urgroßvater zurückdenke, an die wenigen Momente, in denen er wach genug war, um sich uns mitzuteilen, dann erinnere ich mich nur an seine grauenhaften Schilderungen des Schlachtfelds und der Kriegsgefangenschaft.

»Stehst du deiner Schwester nahe?«, will Étienne wissen.

Ich blinzele in die Sonne, die inzwischen durch die Fenster auf der anderen Seite des Wagens hereinfällt. »Nicht mehr.« Die Worte kommen mir nur schwer über die Lippen. »Meine Familie und ich ... wir haben uns irgendwie entfremdet.«

Das ist eine schöne Umschreibung für: Meine Eltern haben mich verstoßen und meine Schwester will mich nie wiedersehen. Alle drei wissen, dass ich verflucht bin, aber sie sehen es nicht als eine Krankheit, die behandelt werden sollte, sondern als eine Schande, die vor den Augen der Welt versteckt werden muss. Sie verstehen nicht, dass ich es nicht unter Kontrolle habe. Sie denken, ich würde es absichtlich tun, aus reinem Vergnügen oder weil ich ein böser Mensch bin. Anfangs habe ich das auch gedacht, aber dann habe ich beschlossen, dass es nicht meine Schuld ist. Dass es nicht meine Schuld sein kann. Schließlich war ich noch ein Kind, als das alles angefangen hat. Ich habe nie jemandem etwas Böses getan. Weder einem Menschen noch einem Elfen. Und trotzdem werde ich jede Nacht gequält.

»Es tut mir leid, das zu hören«, sagt Étienne. Nichts weiter. Normalerweise werde ich nach den Gründen für die Entfremdung gefragt, aber Étienne verzichtet darauf. Beinahe so als wüsste er, dass ich seine Fragen ohnehin nicht ehrlich beantworten könnte.

Eine Weile sitzen wir schweigend nebeneinander. Die Innenstadt bleibt hinter uns zurück. Wir erreichen die östlichen Randgebiete von Tournesol. Hier befinden sich viele hübsche Häuschen aus weißem oder rotbraunem Bruchstein mit dunklen Reetdächern, die bis zum Boden reichen und von violetten, gelben und blauen Blumen überwuchert werden. Viele der Häuser besitzen Vorgärten, in denen neben Mutterkraut und Binnenrosen auch Strandhafer, Federgras und Pfirsichpalmen wachsen.

Vielleicht liegt es daran, dass nun endlich die Aufregung des Vormittags von mir abfällt, aber bei diesem Anblick werde ich ein bisschen sentimental. Ich stelle mir vor, wie es wäre, in einem dieser Häuschen zu wohnen. Ein einfaches und bescheidenes Leben zu führen. Mit einem Ehemann und zwei oder drei Kindern. Auch wenn ich weiß, dass ein solches Leben für mich nicht erreichbar ist, und ich mir nicht einmal sicher bin, ob ich wirklich gerne so leben würde, kommen diese Bilder manchmal zu mir. Sie suchen mich heim, so wie ich es Nacht für Nacht mit meinen Opfern mache.

»Gleich müssen wir aussteigen«, bemerkt Étienne.

»Und was wollen wir hier?«

Étienne fasst nach einem der Haltegriffe, zieht sich auf die Beine und antwortet kryptisch: »Wir sind noch nicht am Ziel.«

Neugierig folge ich Étienne zum Ausstieg. Wir warten, bis die Bahn eine Kurve fährt und dabei ihr Tempo noch weiter drosselt, sodass wir bequem abspringen können. Eine frische Windböe fährt über uns hinweg und hätte mir beinahe den Hut vom Kopf geweht. Im letzten Moment kriege ich ihn zu fassen und drücke ihn mir auf die Haare.

»Wir müssen in diese Richtung.« Étienne deutet an den Häusern vorbei. Dahinter liegt flaches Land, das sich entlang der Steilklippen bis weit nach Osten erstreckt. In der Ferne kann ich weiße Häuser erkennen, die sich an einen bewaldeten Hang schmiegen. »Da hinten liegt Holting«, erklärt Étienne. »Eine ehemalige westragonische Aussteigerkolonie.«

»Und wo wohnst du?«, will ich wissen.

Étienne dreht sich halb im Kreis und zeigt nach Nordwesten. Dort erheben sich die Chenilles in den blaugrauen Nachmittagshimmel wie das Rückgrat eines ausgemergelten Straßenköters. »Mein Anwesen liegt auf der anderen Seite der Berge.«

»Wie weit ist das?«

»Auf einem Pferd ... etwa zwei Stunden. Mit einer Voiturette schafft man es in etwa der Hälfte der Zeit. Aber ich empfehle den Zug.«

»Es gibt einen Zug?«

»Ja. Er verbindet den Norden und den Süden der Insel miteinander.« Étienne zwinkert mir zu. »Der Zug würde dich förmlich vor meiner Haustür absetzen.«

»Was könnte ich schon vor deiner Haustür wollen?«, erwidere ich spöttisch.

Étienne windet sich. »Es ist eine sehr schöne Haustür«, sagt er dann. »Echtes Eichenholz. Ein paar Zentimeter dick. Mit altmyrischen Schnitzereien.«

»Wirklich?«

»Wirklich.«

Étienne streckt die Hand nach mir aus und ich ergreife sie, ohne groß darüber nachzudenken. Hier draußen sieht uns ohnehin niemand. Außerdem mag ich es, wie er sich anfühlt.

Unwillkürlich muss ich an unser nächtliches Intermezzo im Luftschiff denken. Ich weiß, es ist albern, aber ich kann seinen Oberkörper immer noch zwischen meinen Schenkeln spüren. In Gedanken mache ich mir eine Notiz: Niemals wieder – und das heißt wirklich niemals wieder – drücke ich einen Mann, den ich attraktiv finde. Ganz egal, wie neugierig ich auch bin.

Hand in Hand schlendern Étienne und ich die Straße hinunter, an den letzten Häusern vorbei und durch eine Wiese aus borstigem Dünengras, bis wir an ein großes, kunterbuntes Schild am Straßenrand kommen. Darauf steht in verschnörkelten Lettern: Ver Luisant.

Vor dem Schild bleibt Étienne stehen. »Hörst du das?«, fragt er und hebt den Zeigefinger.

Ich lausche in den Wind, der das Rauschen des Ozeans mit sich trägt. Obwohl kein starker Seegang herrscht, branden die Wellen rhythmisch gegen die Steilklippen. Doch dazwischen kann ich noch etwas anderes hören. Ein melodisches Klimpern. Beschwingt und fröhlich. Es erinnert mich an die Abende, an denen Ceravo, der Gueveser Cembalo-Spieler, in der Kneipe meiner Eltern gespielt hat. Da unsere Wohnung direkt über dem Gastraum lag, habe ich sein Geklimper oft bis spät in die Nacht durch die Bodendielen hören können. »Ist das Musik?«

Étienne lächelt. »Komm mit.«

Wir folgen einem schmalen Trampelpfad zum Rand der Steilklippen. Beim Näherkommen bemerke ich, dass die Klippen hier nicht so abrupt abfallen, wie ich zunächst gedacht habe. Stattdessen neigen sie sich beinahe sanft dem Ozean zu. Trittstufen aus Holz und ein Handlauf aus Schiffstauen führen zu einem steinigen, von Palmengewächsen eingerahmten Strand. Dort befindet sich eine Hütte, die vom Schein mehrerer Bambusfackeln hübsch in Szene gesetzt wird.

»Was ist das?«, will ich wissen.

»Das Ver Luisant«, antwortet Étienne. »Ein echter Geheimtipp.« Er mustert mich abschätzend. »Was denkst du?«

»Gefällt mir«, gebe ich zu.

»Du weinst auch gar nicht mehr.«

»Stimmt.« Ich wische mir die letzten Tränenspuren von den Wangen. Wenn ich ehrlich bin, habe ich Narcisse und die Sache mit den Elfenflüchen fast vergessen. Stattdessen machen mir andere Dinge Sorgen. »Étienne ...«

»Ja?«

»Wieso sind wir hier?«

Étienne schielt in die Tiefe. »Weil es hier schön ruhig ist?« Er scheint mir anzusehen, dass das nicht die Antwort ist, die ich erwartet habe. Unsere ineinander verschränkten Finger lösen sich voneinander und er stemmt die Hände in die Hüften, während sein Blick aufs Meer hinausgleitet, das sich von hier aus tintenblau bis zum Horizont erstreckt. »Ist doch bestimmt nicht das erste Mal, dass dir ein Mann Avancen macht.«

»Nein«, bestätige ich ohne Umschweife. »Machst du mir denn Avancen?«

»Ich dachte, das wäre offensichtlich«, antwortet Étienne. Es klingt ausweichend.

»Nun ... in gewisser Weise schon, aber ...« Ich weiß selbst nicht so genau, wie ich das sagen soll. »... wir kennen uns kaum und dieser ganze Aufwand für eine zufällige Bekanntschaft, das erscheint mir fast ein wenig ... ich meine, ich weiß deine Bemühungen zu schätzen, wirklich, und ich bin froh darüber, dass du heute für mich da gewesen bist, aber ich ...«

»Du bist bereits vergeben«, vervollständigt Étienne.

»Ja ... so in der Art.« In Gedanken schlage ich mir mit der flachen Hand gegen die Stirn. Ich hasse es, Männer zurückweisen zu müssen, aber am Schlimmsten ist es, wenn ich sie tatsächlich mag. Einem flüchtigen Abenteuer stünde ich zwar nicht vollkommen abgeneigt gegenüber, aber irgendwie habe ich das Gefühl, dass Étienne und ich schon einen Schritt weiter sind. Jedenfalls gehen meine Gefühle für ihn bereits über eine rein körperliche Anziehung hinaus und ich weiß einfach, dass es ein Fehler wäre, mich noch weiter auf ihn einzulassen. »Versteh mich nicht falsch, du bist wirklich ziemlich attraktiv für einen Rinderzüchter ...«

Étienne spitzt die Lippen und lässt die Augenbrauen tanzen. »Ach ja?«

Ich ignoriere es. »... und darüber hinaus auch eine zumindest bemüht amüsante Gesellschaft, aber ich ... ich bin einfach nicht das, was du suchst.«

Meine Worte scheinen Étienne zu amüsieren. Seine Augen funkeln belustigt.

»Es ist mir ernst«, setze ich nach.

»Ja, keine Sorge. Das habe ich verstanden.« Étienne bietet mir erneut seine Hand an. »Aber jetzt sind wir schon einmal hier.« Als könnte er meine Skepsis spüren, ergänzt er: »Ich bin vielleicht ein Joumin-Bastard, Betty, aber auch ein Ehrenmann. Keine Avancen mehr, versprochen.« Er hebt die Hand zum Schwur. »Aber vielleicht können wir den Tag ja als Freunde ausklingen lassen, bevor sich unsere Wege wieder trennen.«

Mein Blick wandert von seiner Hand zum Ver Luisant. Auf der Veranda der Hütte stehen zwei junge Frauen in wallenden Taftkleidern und flüstern miteinander. Dann kichern sie laut und verschwinden wieder im Innern des Lokals. Ich bin neugierig, was da unten vor sich geht. Dazu kommt, dass die Vorstellung, alleine ins Hotel zurückzukehren, mir nicht sonderlich behagt.

»Na schön«, seufze ich schicksalsergeben. »Aber keine Avancen mehr. Keine Hände da, wo sie nicht hingehören. Alles rein freundschaftlich.«

»Wie Bruder und Schwester«, bestätigt Étienne nickend.

Ich sage nichts, aber ich vermute, dass eine Schwester nicht dieses dumpfe Gefühl der Enttäuschung verspüren würde, das ich empfinde, wenn ich daran denke, dass Étienne seine Hände in Zukunft bei sich behalten wird. Aber was soll ich machen? Wenn wir zusammen wären, wie Mann und Frau, würde er zwangsläufig irgendwann herausfinden, was ich bin. Und ich weiß nur zu gut, was dann passieren wird. Er wird mich vertreiben. Vielleicht sogar Schlimmeres. So wie meine Eltern es getan haben. Noch einmal mache ich das nicht mit. Also zwinge ich mich zu einem gleichmütigen Lächeln und folge ihm in ein paar Schritten Abstand die Stufen zum Ver Luisant hinunter.

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