14) Ein Experiment
Wenig später sitze ich im Garten hinter dem Narcisse-Anwesen auf einer Bankschaukel und halte ein Glas Wasser in der einen und ein Glas Getreideschnaps in der anderen Hand. Ein warmer Wind streicht durch die kleine, von hohen Ligusterhecken eingefasste Laube. In meinen Augen brennen Tränen, aber ich kann nicht weinen. Ich kann gar nichts tun oder fühlen. Nur meine Gedanken sind unermüdlich am Werk, rattern und rumoren wie Zahnräder hinter meiner Stirn. Als wäre mein Kopf eine große Maschine, die etwas zu produzieren versucht. Erfolglos.
»Es tut mir wirklich sehr leid«, beteuert Narcisse zum wiederholten Mal, während er die weißen Blüten eines Hibiskus betrachtet. »Aber ich hatte Sie ja gewarnt ... manchmal weiß ich einfach nicht, wann es besser wäre, den Mund zu halten.«
»Es ist nicht Ihre Schuld«, höre ich mich murmeln. »Ich hatte eine lange Reise und bin an das Klima nicht gewöhnt.«
Narcisse blinzelt in die Sonnenstrahlen, die büschelweise durch die Heckenkronen hereinbrechen. »Vermutlich haben Sie Recht. Heute ist es ungewöhnlich warm für diese Jahreszeit. Muss an der Calido-Strömung liegen.« Mit einem Seufzer lässt er sich neben mich auf die Bank sinken, sodass wir leicht hin und her pendeln. »Denken Sie ...« Er knabbert auf seiner Unterlippe herum, eine eigenartig kindische Angewohnheit für einen Mann seines Alters. »... dieses politische Theater oder die Todesdrohungen haben etwas mit meinen Schlafproblemen zu tun?«
Ich zwinge mich zu ein wenig Professionalität. »Wissen Sie, wenn wir unter großer Anspannung stehen, selbst wenn wir diese Anspannung nicht bemerken, dann belastet das unseren Körper und unseren Geist. Manche Menschen bekommen einen Ausschlag oder Probleme mit der Verdauung. Bei anderen äußert sich die Belastung in Form von Albträumen.«
»Aber ich habe ja keine Albträume«, wehrt Narcisse ab.
»Keine, an die Sie sich erinnern«, halte ich dagegen. »Aber keine Sorge. Wir finden schon heraus, was Ihnen fehlt.«
»Und wie?«
Ich merke, dass ich wieder in mein altes Selbst zurückfinde. Die Worte kommen mir von ganz alleine über die Lippen. »Zunächst werden wir etwas ausprobieren. Ich möchte, dass Sie heute Abend früher zu Bett gehen.«
»Aber-«
»Wenn Sie wieder ohne Albträume, durchgeschwitzte Laken und Panikzustände schlafen möchten, dann rate ich Ihnen dringend, zu tun, was ich Ihnen sage.«
Meine Stimme klingt schon deutlich weniger zittrig als noch vor ein paar Minuten. Ich kann es schaffen, denke ich. Wenn ich die nächsten zehn Minuten überstehe, dann kann ich einfach weglaufen. Zurück nach Hause. Doch wo ist Zuhause? Wo ist dieser sichere Ort, an dem ich mich verkriechen und wieder ein kleines Kind sein kann?
Ich weiß es nicht.
»Es ist ein Experiment«, sage ich zu Narcisse. »Gehen Sie einfach ein oder zwei Stunden früher zu Bett. Sorgen Sie für Ruhe in Ihrem Schlafzimmer. Lüften Sie gründlich oder lassen Sie ein Fenster einen Spalt weit offen, damit frische Luft von draußen hereindringen kann.« Ich krame in meiner Handtasche. »Und dann will ich, dass Sie das hier-« Bei diesen Worten präsentiere ich ihm eine kleine Ampulle mit harmlosem und vollkommen wirkungsfreiem Kräuterwasser. »-vor dem Schlafen einnehmen.«
Narcisse nimmt die Ampulle und dreht sie auf Augenhöhe hin und her. »Was ist das?«
»Eine Kräutermischung nach altem Rezept«, antworte ich.
»Und was bewirkt das?«
»Entweder werden Sie danach besser schlafen oder es wird Ihre Albträume verstärken. Wie auch immer, danach werden wir schlauer sein.«
Narcisse schürzt die Lippen. Ich kann ihm ansehen, wie wenig ihm dieses Experiment behagt. »Mein Termin vor dem Oberhaus ist schon in ein paar Tagen. Wenn es soweit ist, muss ich in Bestform sein. Andernfalls ...«
»Keine Sorge«, versichere ich ihm. »Gleich morgen komme ich wieder zu Ihnen und dann besprechen wir das Ergebnis unseres Experiments. Und ich bin davon überzeugt, dass ich Ihnen dann schon Genaueres zum Grund für Ihre Schlafprobleme sagen kann.«
»Sind Sie bei Monsieur Tulpin genauso vorgegangen?«
»Ich gehe immer so vor.«
Narcisse birgt die Ampulle in seiner Faust. »Nun, dann mache ich, was Sie sagen, Mademoiselle Pommier.«
»Sehr gut.« Ich rutsche von der Bank, warte kurz, bis ich mir sicher bin, dass meine Beine mich tragen, und gehe dann zu einem kleinen Tischchen neben einer steinernen Vogeltränke, um meine Gläser abzustellen. »Dann überlasse ich Sie mal wieder Ihren wichtigen politischen Aufgaben.«
Ich kann es kaum noch erwarten, das Anwesen zu verlassen. Es juckt mir förmlich in den Beinen. Ein Teil von mir würde am liebsten einfach losrennen. Aber ich beherrsche mich, verabschiede mich von Narcisse, drücke noch einmal mein Bedauern über meinen Zusammenbruch aus und lasse mich anschließend von einem Hausangestellten zum Hinterausgang führen. Dort werde ich von einem Polizisten auf die Straße hinausgelassen. Zu meiner Überraschung steht bereits eine Droschke bereit, um mich zum Hotel zu bringen.
Die Fahrt vergeht in einem Rausch starker Gefühle, die sich in meiner Brust zu einem pulsierenden Knoten verdichtet haben. Ich bin wie ein Fass kurz vor dem Überquellen. Nervös knete ich meine Finger, fahre mir durch die Haare und straffe mehrfach meine Bluse, die mir jetzt viel zu eng vorkommt. Irgendwie muss ich mich zusammenreißen.
Durchhalten, sage ich mir immer wieder. Nur noch ein paar Meter. Wenn du erst im Hotel bist, dann kannst du explodieren oder zusammenbrechen, weinen, schreien, mit Dingen werfen oder was auch immer du tun willst, aber nicht jetzt. Noch nicht.
Kurz darauf spaziere ich mit gesenktem Kopf und rasendem Herzen ins Foyer des Hotels. Durch die hohen Sprossenfenster fällt strahlendes Sonnenlicht herein und malt sich überkreuzende Schattenlinien auf den weißen Marmor. Die gestreiften Polstersessel gegenüber der Rezeption sind verlassen – bis auf einen. Von der Person, die darin Platz genommen hat, kann ich im Vorbeihuschen nur den zerzausten, kastanienbraunen Haarschopf erkennen. Erst als ich schon fast bei der Treppe bin und eine bekannte Stimme vernehme, wird mir bewusst, mit wem ich es zu tun habe.
»Betty! Warte!«
Ich tue genau das Gegenteil und beschleunige meine Schritte, doch Étienne ist schneller und schneidet mir den Weg ab, noch bevor ich einen Fuß auf die erste Stufe setzen kann.
»Ich bin es!«, verkündet er feierlich, als würde er erwarten, dass ich mich über sein unerwartetes Erscheinen freue. Wäre ich nicht gerade so durch den Wind, würde ich das vielleicht sogar. Aber in diesem Moment will ich einfach nur auf mein Zimmer und alleine sein, damit ich ... was tun kann? Durchatmen. Nachdenken. Ich muss nachdenken. Über Elfenflüche. Und darüber, was Narcisse gesagt hat. Derzeit herrscht hinter meiner Stirn nur mühsam gebändigtes Chaos und irgendwie muss ich wieder Ordnung in dieses Durcheinander bringen.
Étiennes freudige Miene macht einem Ausdruck von Besorgnis Platz. »Ist alles in Ordnung?«
»Bestens«, antworte ich und zwänge mich an ihm vorbei die Treppe hinauf.
»Ich will dir wirklich nicht zu nahe treten, aber du wirkst nicht, als ob es dir bestens ginge.«
Darauf sage ich nichts. Mehr als einzelne Wörter würde ich sowieso nicht herausbekommen.
Étienne springt an mir vorbei und stellt sich mir erneut in den Weg. »Ist irgendetwas passiert? Sind die zwei von gestern Nacht wieder aufgetaucht?«
Ich schiebe den sichtlich verwirrten Étienne zur Seite und er lässt es sich gefallen. Dann setze ich meinen Weg fort.
»Also ... ist vielleicht ungünstig, aber ich dachte, ich könnte dich zum Essen einladen«, höre ich ihn sagen.
Wortlos steige ich die letzten Stufen hinauf und biege in den Gang ein, der zu meinem Zimmer führt. Dabei krame ich in meiner Handtasche nach dem Schlüssel.
»Dann ... vielleicht ein andermal?«, ruft Étienne mir nach.
Ich schließe meine Zimmertür auf, schlüpfe hindurch und schmeiße sie hinter mir zu. Sofort werde ich von meinen Gefühlen überkommen. Sie brechen über mir zusammen wie eine Lawine. Meine Knie geben nach. Ich rutsche an der Tür zu Boden, ziehe die Beine an und schlinge die Arme darum. Tränen treten mir aus den Augen.
Elfenflüche. Sie sind real. Natürlich habe ich das immer gewusst, aber es aus dem Mund eines Gelehrten zu hören, macht alles viel schlimmer. Und dann ... das Schlimmste überhaupt: Elfenflüche sind nicht das Werk der Elfen.
Wie kann das sein? Ist alles, was ich je zu wissen geglaubt habe, eine Lüge? Nein. Narcisse muss sich irren. Er muss sich irren. Es geht nicht anders. Die Elfen sind schuld an meinen Qualen. Sie haben mich verflucht. Sie haben mir diese Misere eingebrockt. Wegen ihnen hatte ich eine furchtbare Kindheit. Wegen ihnen habe ich meine Familie verloren. Wegen ihnen muss ich wie eine Vagabundin durch die Welt reisen, ohne jemals ein Zuhause zu finden. Das ist es, was ich glaube. Das ist es, was ich weiß. Und nichts wird mich je vom Gegenteil überzeugen können.
Doch ich spüre, dass die ersten Zweifel bereits gesät sind. Sie wuchern in mir ... in meinen Eingeweiden ... in meinem Verstand. Und egal, wie viel ich auch heule, ich kann sie nicht einfach aus mir herausweinen. Dieses Wissen hält mich jedoch nicht davon ab, es zu versuchen. Ich weine so heftig, dass es meinen Körper schüttelt und ich zwischen Schluchzern verzweifelt nach Luft schnappen muss, um nicht an meinen eigenen Tränen zu ersticken.
Als ich keine Kraft mehr habe und mein Weinen zu einem Wimmern wird, kann ich Étienne auf der anderen Seite der Tür hören. »Also ... das ist eine Reaktion, die ich wirklich nur selten erlebe, wenn ich eine Dame zum Essen einlade.«
Ich presse die Handballen auf meine Augen. Es ist mir furchtbar unangenehm, dass Étienne mich wie ein Robbenbaby heulen gehört hat. Andererseits ist es auch seltsam tröstlich zu wissen, dass ich nicht alleine bin.
»Ab und zu werde ich mit einer Handtasche geschlagen oder mit einem Stockschirm bedroht, aber geweint wird doch eher selten«, fährt Étienne fort. »Außer vor Freude natürlich.«
Unwillkürlich muss ich lachen, aber wegen meiner verstopften Nase klingt es eher wie ein Grunzen.
Daraufhin lacht auch Étienne. »Ich wusste nicht, dass du ein Tier da drinnen hast.«
Ich kralle die Finger in den Saum meines Kleides und kneife die Lippen zusammen, um mich von weiteren unfeinen Lautäußerungen abzuhalten.
»Was versteckst du noch in deinem Zimmer? Eine Kuh? Ein Schaf? Einen Jouyan-Tiger?«
»Gar nichts«, schluchze ich kläglich.
»Is' auch besser so. Mit Kühen hab' ich schlechte Erfahrungen gesammelt. Erst letzte Woche hat Shira mich getreten. Aber wen wundert's? Sie ist 'ne kleine Diva.« Während Étienne spricht, wechselt er in den bäuerlichsten Ostragon-Dialekt, den ich mir vorstellen kann.
»Aber ich dachte, du bist kein Rinderzüchter.«
»Ich hab' nie verneint, 'n Rinderzüchter zu sein.« Es raschelt und ich spüre, wie jemand auf der anderen Seite gegen die Tür sinkt. »Aber ich könnt's schon versteh'n, wenn 'ne feine Dame wie du nich' mit 'nem Roushmin geseh'n werden will ...«
»Das ist es nicht«, seufze ich. »Ich bin nur gerade ein bisschen unpässlich.«
»Und du bist dir ganz sicher, dass ein gutes Essen, ein großartiges Kürbisbier und ... na ja ... sagen wir mal ... bemühte Gesellschaft dein Problem nicht erträglicher machen könnten?«
»Kürbisbier?«
»Eine lokale Spezialität.«
»Ich denke nicht, dass ich viel herunterbekäme.«
»Du kannst mir beim Essen zusehen. Oder wir machen einfach einen Spaziergang. Runter zum Hafen. Ich zeige dir ein paar Orte, die nur Einheimische kennen. Dauert auch nicht lange. Und du kannst dabei weinen, wenn du möchtest.«
Ich schniefe langgezogen. Mein Kopf fühlt sich an wie mit Watte ausgestopft, meine Augen sind spürbar geschwollen und vermutlich auch gerötet. »Ich glaube, ich bin im Moment alles andere als präsentabel.«
Étienne zögert einige Sekunden. »Hilf mir mal eben«, sagt er dann. »Ist das dein Ernst oder nur deine höfliche Art, mir zu sagen, dass ich verschwinden soll? Ich bin wirklich schlecht im Auffangen subtiler Signale.«
»Es ist mein Ernst.«
»Gut.« Étienne klingt erleichtert. »Na ja, wir könnten dir eine Tüte über den Kopf stülpen, wenn du dich dann besser fühlst.«
Ich lachgrunze und presse mir rasch die Hand auf den Mund, um das Geräusch zu ersticken.
»Also ...« Es raschelt erneut und der Druck gegen die Tür verschwindet. Anscheinend ist Étienne aufgestanden. »... wenn du mit mir einen Spaziergang machen möchtest – mit oder ohne Tüte – findest du mich unten im Foyer. Aber wenn du mich zu lange warten lässt, werde ich dir vielleicht vor der Nase weggeschnappt. Vorhin war da eine äußerst attraktive Reisende aus Lierre, die mir sehr eindeutig zugezwinkert hat.«
Ich horche auf Étiennes sich entfernenden Schritte.
Als ich mir sicher bin, dass er nicht mehr in der Nähe ist, lehne ich den Hinterkopf gegen die Tür und atme konzentriert aus. Der Knoten in meiner Brust lockert sich etwas und ich bemerke, dass ich im Innern bereits eine Entscheidung getroffen habe.
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