12) Alter Plunder

Der Capitaine führt mich die Treppe in den ersten Stock hinauf. Dort biegen wir in einen holzvertäfelten Korridor ein, dessen Wände mit schweren, goldgerahmten Ölgemälden der Insel bedeckt sind. Während ich Faucon folge, hänge ich meinen eigenen Gedanken nach. Was ich soeben erfahren habe, ist so ziemlich das genaue Gegenteil einer guten Neuigkeit. Ich habe schon keine große Lust, mich mit den Contres anzulegen, aber mit der Eisenkreuzbewegung und den Freiheitskämpfern? Hoffentlich denken die nicht, dass ich mit Narcisse gemeinsame Sache mache. Am besten bemühe ich mich darum, diese Angelegenheit schnell zu einem Abschluss zu bringen, damit ich zur Troisan wieder auf dem Festland bin.

»Das ist ja unerhört!«, schallt es plötzlich durch den Korridor. Die Stimme gehört Narcisse. »Andrea, holen Sie mir Monsieur Palmier an den Fernsprecher!«

»Aber die Demoiselle sagt, dass sie Sie zurzeit nicht vermitteln kann. Président Palmier ist wohl gerade in einer wichtigen Besprechung«, ruft eine weibliche Stimme, die höchstwahrscheinlich Andrea gehört, zurück.

»Dann sagen Sie ihr, dass ich mich auch gerne an die Öffentlichkeit wenden kann – und das möchte Monsieur Palmier bestimmt nicht!«

Ich beschleunige meine Schritte und schließe zu Faucon auf. »Der Président Palmier?«

Der Capitaine nickt.

Président Palmier ist der amtierende ostragonische Präsident. Der Chef der Regierungsfraktion. Das Oberhaupt des Landes. Ich mache mir nichts aus Politik, aber natürlich weiß ich, wer derzeit an der Macht ist. Président Marc Louis Palmier. Niemand ist so oft im Radio zu hören wie er. Sie nennen ihn schon Président L'antenne oder Président Ragosonic (in Anlehnung an den bekanntesten ostragonischen Radiosender, auf dem im übrigen auch Paul Ispin zu hören ist).

Ich muss zugeben, mir war nicht klar, dass Narcisse über so gute Kontakte verfügt. Möglicherweise war es doch kein Fehler, seinen Auftrag anzunehmen. Wenn ich meine Sache gut mache, könnte er mich weitervermitteln und vielleicht kann ich mir dann auch irgendwann ein Ferienhaus im Perlen-Viertel von Tournesol leisten. Andererseits ist es gefährlich, Menschen zu drücken, die einander beruflich oder privat nahestehen. Für den Fall, dass sie miteinander sprechen, Erfahrungen austauschen und Rückschlüsse ziehen sollten.

Der Capitaine und ich folgen dem Korridor um eine Ecke. Dort kommen uns zwei Uniformierte entgegen.

Das Herz rutscht mir in die Magengrube. Vor mir stehen Schnauzbart und sein hagerer Kumpan. Ich bin so entsetzt, dass ich auf der Stelle zur Salzsäule erstarre und keinen Schritt mehr machen kann. Meine bis dahin gut verdrängten Erinnerungen an den gestrigen Ausflug ins Perlen-Viertel blubbern zurück an die Oberfläche. Mir wird abwechselnd heiß und kalt. Ich bin froh, dass ich mich nicht bewegen kann, sonst hätte ich mich vielleicht auf Schnauzbart gestürzt und ihn mit meiner Handtasche windelweich geprügelt. Die Vorstellung gefällt mir, auch wenn ich bezweifle, dass ich es wirklich tun könnte.

»Was machen Sie noch hier?«, fragt Faucon im gleichen tödlich ruhigen Tonfall wie Adeline de Cinc Estrellia gestern Abend. »Habe ich Ihnen nicht gesagt, dass Sie mit sofortiger Wirkung suspendiert sind?«

»Ja, Monsieur Faucon«, murmelt der Hagere mit hängenden Schultern.

Schnauzbart wirkt dagegen eher verärgert als resigniert. In seinen fiesen, kleinen Schweinsäuglein lese ich ein stummes Aufbegehren, aber er ist schlau genug, den Mund zu halten.

Im nächsten Moment entdeckt er mich und der Ausdruck in seinen Augen verändert sich. Kein Zweifel, er hat mich wiedererkannt.

Ich erwidere seinen Blick und stelle mir vor, wie ich ihm meine Handtasche links und rechts um die Ohren donnere.

»Nun gehen Sie schon«, schiebt Faucon drohend hinterher.

Schnauzbart wirft mir noch einen letzten Blick zu, in dem gleichermaßen Überraschung und Hass zu lesen sind, dann drückt er sich an uns vorbei und marschiert den Korridor hinunter. Der Hagere läuft ihm nach.

Kaum sind sie um die nächste Ecke, fällt die Starre von mir ab und ich kann wieder freier atmen.

Faucon wendet sich an mich. »Verzeihen Sie diese unschöne Szene.«

»Was ist denn vorgefallen?«, erkundige ich mich. »Hoffentlich nichts Ernstes.«

»Doch, ich fürchte schon«, erwidert der Capitaine. »Mir wurde gemeldet, dass es in der vergangenen Nacht zu einem bedauerlichen Zwischenfall gekommen ist. Anscheinend haben sich die beiden einer Dame gegenüber äußerst ungebührlich verhalten.«

»Nein«, säusele ich in gespielter Überraschung. »Gerade bei Polizisten sollte man doch davon ausgehen, dass sie stets im Sinne der Bevölkerung handeln.«

»Wie Recht Sie haben, aber leider gibt es auch in unserer Herde ab und zu schwarze Schafe.« Unheilvoll fügt Faucon hinzu: »Umso wichtiger ist es, sie kompromisslos auszumerzen.«

Mit diesen Worten setzt er sich wieder in Bewegung und ich hefte mich an seine Fersen.

Nach ein paar Schritten gelangen wir eine offene Tür, die in eine Art Büro führt. Hier sind die Wände hinter deckenhohen Regalen und alten Landkarten verborgen. In den Regalen stehen Atlanten, Bücher und diverse Relikte. Genau genommen ist es ein Sammelsurium an Dingen, die ich als alten Plunder bezeichnet hätte. Masken, Schnitzereien, Vasen, komisch geformte Steine und allerlei Kram, dessen Sinn und Zweck sich mir nicht sofort erschließt. Im Zentrum des Zimmers steht ein Schreibtisch, auf dem sich Bücher, Mappen und Briefe stapeln. Dazwischen steht auch ein Fernsprecher mit einer Wählscheibe und einer Sprechmuschel aus Messing. Diese Geräte findet man nur in sehr wohlhabenden Haushalten. Wenn ich mit jemandem telefonieren will, muss ich einen öffentlichen Fernsprecher aufsuchen. Davon gibt es in den meisten Städten nur eine Handvoll. Aber ich wüsste auch gar nicht, wen ich anrufen sollte. Freunde habe ich keine, nur ein paar Bekannte, zu denen ich ein loses Verhältnis pflege. Wegen meiner Reisen kann ich sie immer nur kurz besuchen. Das hält keine Freundschaft auf Dauer aus.

»Es tut mir wirklich sehr leid, Monsieur Narcisse«, sagt eine junge Frau, die soeben aus dem Nebenzimmer hereinkommt, über ihre Schulter. Sie trägt eine schmale Brille auf der Nase und einen Stapel Dokumente unter dem Arm. Dem Aufbau der Titelseite nach zu schließen, handelt es sich um Abschlussarbeiten. »Ich werde tun, was ich kann, um Président Palmier an den Apparat zu bekommen.«

Vor langer Zeit habe ich auch mal darüber nachgedacht, zur Universität zu gehen. Inzwischen könnte ich mir das sogar leisten, aber die Fächer, die mich interessieren, behandeln Frauen noch immer sehr stiefmütterlich. Beispielsweise ist uns zwar erlaubt, Medizin zu studieren, aber praktizieren dürfen wir es nicht. Jedenfalls nicht als Ärztinnen. Höchstens als Krankenschwestern. Aber dafür muss ich nicht studieren. Außerdem verdiene ich jetzt etwa das Dreifache einer gelernten Krankenschwester und werde deutlich seltener angespuckt.  

»Das ist doch einfach nicht zu glauben«, schallt es aus dem Nebenzimmer. »Palmier denkt, er kann mich über's Ohr hauen. Aber nicht mit mir. Ich habe meine Bedingungen. Ansonsten gehe ich mit meinen Informationen an die Öffentlichkeit. Das können Sie ihm ausrichten, sobald er wieder erreichbar ist.« Narcisse erscheint in der Durchgangstür. Er trägt ein gestreiftes Hemd, eine weite Hose und darüber einen dunkelroten Seidenkaftan mit Blumenmuster und goldenen Knotenstickereien. An seinen Füßen kann ich nach oben gebogene Schnabelschuhe erkennen. In dieser Aufmachung sieht er aus wie ein wohlhabender Joumin-Händler. »Ah, Mademoiselle Pommier ... ich habe Sie nicht so früh erwartet.«

»Ich kann auch später wiederkommen, wenn es Ihnen ungelegen ist.«

Narcisse winkt ab. »Nein, nein. Ich hatte nur gerade ...« Er lächelt, als hätte ich ihn bei einem Schuljungenstreich ertappt. »Na, wie auch immer, kommen Sie herein.«

Mit einer einladenden Geste lotst er mich ins Nebenzimmer, das ebenfalls mit hohen Regalen ausgestattet ist. Auf dem Boden liegt ein hochfloriger Teppich mit Rankenornamenten und die Decke ist mit dazu passenden Intarsien versehen. Genau wie im angrenzenden Zimmer sind auch hier überall dicke, in Leder eingebundene Folianten und Mitbringsel aus allen Teilen der Welt zu finden. Eine reich verzierte Jouyan-Laute hängt wie eine Trophäe an der Wand, direkt daneben ein elfisches Krummschwert in einer Scheide aus lackiertem Magnolienholz.

Die Waffe zieht meinen Blick wie magisch an. Eigentlich ist sie nichts Besonderes. Schwerter wie dieses findet man in jedem Heimatkundemuseum mit einer Abteilung für Ellyrische Kriegstrophäen, aber wenn ich mir vorstelle, dass diese Waffe tatsächlich mal in der Hand eines Elfen gelegen hat ... dass die Klinge mal mit menschlichem Blut getränkt gewesen ist ... vielleicht mit dem Blut meiner Vorfahren, dann würde ich mich am liebsten umdrehen und gehen.

»Ein Prachtstück, nicht wahr?«, fragt Narcisse, während er die Tür hinter sich schließt.

»Ja ... ja, zweifellos«, stammele ich.

»Ein Geschenk von Vaeril Faemenor. Seines Zeichens ein Fürst von Almasil. Er hat es mir persönlich überreicht«, erklärt Narcisse mit hörbarem Stolz.

»Sie waren in Ellyrien?«

Narcisse nickt. »Mit einer Sondergenehmigung des Präsidenten und der Erlaubnis des Arreth Kiringur.« Er macht eine wegwerfende Handbewegung. »Das ist so etwas wie das Ellyrische Oberhaus.«

»Und ...« Ich habe viele Fragen und keine Ahnung, wie ich sie formulieren soll.

Narcisse tritt hinter einen klobigen Schreibtisch aus dunklem Kirschholz und stützt sich mit den Fingerknöcheln auf die Tischplatte. Durch das Fenster hinter ihm fällt grelles Tageslicht herein und lässt seine Konturen scharfkantig hervortreten. »Fragen Sie ruhig: Wie sind die Elfen so?« Er schmunzelt beinahe väterlich. »Das ist es doch, was Sie wissen wollen.«

Ich nicke.

»Sie sind ein stolzes Volk«, antwortet Narcisse, löst die Fingerknöchel von der Tischplatte und sortiert ein paar Zettel, die vor ihm verstreut liegen. »Und Sie denken ganz anders als wir, weniger individualistisch, mehr wie ein Fischschwarm oder ein Ameisenvolk.« Er lässt von dem Papier ab und deutete einladend auf die beiden Stühle, die auf der anderen Seite des Schreibtischs stehen. »Aber deswegen sind Sie nicht hier, Mademoiselle Pommier, oder?«

»Nein«, krächze ich, räuspere mich und wiederhole: »Nein. Oder ... vielleicht.« Ich lasse mich auf den linken Stuhl sinken und platziere die Handtasche auf meinem Schoß. »Das kann man nie so genau wissen.«

Narcisse zieht die Vorhänge ein Stück zu und nimmt mir gegenüber Platz. Zuerst legt er die Hände auf die Armstützen und lehnt sich zurück, dann scheint er es sich anders zu überlegen, setzt sich auf und faltet die Unterarme auf dem Tisch. Er ist nervös. Das ist nicht ungewöhnlich. Schließlich hat er keine Ahnung, was auf ihn zukommt.

»Keine Sorge«, versuche ich ihn zu beruhigen. »Ich werde Ihnen bloß ein paar Fragen stellen.«

»Das ist es ja, was mich beunruhigt«, erwidert Narcisse.

»Meine Fragen?«

Narcisse zieht eine Grimasse. »Die Antworten, die ich Ihnen geben werde.« 



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