10) Derb geflucht, ist halb gewonnen
Mit einer zunehmenden Enge in der Brust beobachte ich, wie Adeline de Cinc Estrellia aus ihrem Fahrzeug steigt. Sie trägt noch dasselbe schwarze Kleid wie zuvor, dieselben schwarzen Lederhandschuhe und hohen Schnürstiefel. »Name und Dienstnummer«, sagt sie. Keine Frage, sondern ein Befehl. Ihre Tonfall ist schärfer als geschliffener Diamant.
Meine Peiniger scheinen vor Schreck zu erstarren. Keiner der beiden sagt ein Wort.
Mein Blick fällt auf Étienne Romarin, der in der Voiturette zurückgeblieben ist und mich mit einer einladenden Handbewegung dazu auffordert, ihm Gesellschaft zu leisten.
In diesem Moment wird mir bewusst, dass die Enge in meiner Brust daher rührt, dass ich seit Beginn des Übergriffs den Atem anhalte. Ich schnappe nach Luft, winde mich aus dem Griff des Hageren, renne zu Étienne und springe zu ihm auf die gepolsterte Sitzbank.
Hinter mir wiederholt Adeline de Cinc Estrellia ihren Befehl. »Name und Dienstnummer, ihr Eckenpisser.«
Diese Beleidigung habe ich noch nie gehört. Schon gar nicht aus dem Mund einer Dame. Andererseits ist Adeline die ehemalige Leiterin des Corps. Sie muss wissen, wie man mit diesen Rüpeln umgeht.
»Alles in Ordnung?«, erkundigt sich Étienne.
Ich wische mir die feuchten Haare aus dem Gesicht und nicke, auch wenn ich mich innerlich ganz zittrig fühle. Mein Herz flattert im Brustkorb herum wie ein hysterischer Vogel in einem zu kleinen Käfig. Und ich muss zu meiner Schande gestehen, dass ich das Gefühl habe, mir gleich in die Hose machen zu müssen. »Was ... was machst du hier?«
»Ich wurde zum Essen ausgeführt«, antwortet Étienne und hängt mir galant seinen Mantel um die Schultern, auch wenn es nicht unbedingt nötig gewesen wäre (die beiden Kerle haben mir schließlich nicht die Kleidung vom Leib gerissen), aber ich beschwere mich nicht. Der dunkle Wollstoff riecht angenehm nach Zigarrenrauch, Branntwein, Männerschweiß und einem Hauch Lavendel. Und – was noch viel besser ist – er ist vorgewärmt.
»Ganz in der Nähe gibt es einen ausgezeichneten Westragonen«, fährt Étienne fort. »Die machen einen delikaten Grünkohlauflauf. Und die Hackrouladen erst ...«
Bei diesen Worten meldet sich mein Magen zu Wort. Genau wie mein anderer Magen. Wenn ich nicht bald jemanden drücke, stehen mir Höllenqualen bevor.
A propos Höllenquallen. Adeline de Cinc Estrellia verpasst den beiden Rüpeln soeben eine verbale Abreibung. Sie würde die zwei bei ihrem Vorgesetzten melden. Aber nur, wenn sie sich jetzt kooperativ verhielten. Andernfalls könne man das Problem auch anders lösen. Es fallen Begriffe wie Belästigung einer Dame, Dienstversagen, Schande des gesamten Corps und unehrenhafte Entlassung.
»Vergiss die beiden«, sagt Étienne kopfschüttelnd. »Denen kann niemand mehr helfen.«
»Sie haben es verdient.«
»Da bin ich ganz deiner Meinung.« Étienne legt den Kopf schief und mustert mich von der Seite. Regentropfen trommeln auf das Faltverdeck der Voiturette und ich denke daran, wie seltsam es ist, dass das Schicksal uns erneut zusammengeführt hat.
Romantisch? Möglicherweise.
Verdächtig? Ganz bestimmt.
Aber vielleicht ist das auch nur meine Paranoia, die sich mal wieder zu Wort meldet.
Étienne scheint sich jedenfalls ganz ähnliche Fragen zu stellen. »Was ist mit dir?«, will er wissen. »Was machst du hier? Und vor allem ... in diesem Aufzug?«
»Männerkleidung ist eben bequem«, gebe ich zurück.
»Zweifelsohne«, erwidert Étienne. »Und ... ganz ehrlich ... du kannst es tragen, aber ...«
Mir wird klar, dass ich mir eine gute Ausrede einfallen lassen muss. Zum Glück ist es nicht das erste Mal, dass ich mich in einer solchen Situation befinde. In Sachen Halbwahrheiten macht mir so schnell niemand was vor. »Siehst du das Haus da vorne?« Bei diesen Worten deute ich zum Narcisse-Anwesen.
Étienne blinzelt in den Regen. Seine schwarzen Wimpern sind beneidenswert lang und dicht. Ich verstehe nicht, wieso einige der raubeinigsten Männer, die ich kenne, mit einer solchen Wimpernpracht gesegnet sind. Es erscheint mir fast ein wenig ungerecht. Vielleicht bin ich aber auch nur frustriert, weil ich mich jeden Morgen mit einer Mischung aus Vaseline, Asche und Kohlestaub abmühen muss.
»Das ist das Anwesen von Roland Narcisse.« Étienne runzelt die Stirn. »Lass mich raten: Er hat dich mit zu sich nach Hause genommen, ihr habt euch gestritten, er hat dir das Kleid abgenommen und dich stattdessen in diesen Dienstbotenfummel gesteckt?«
Ich bin fast ein wenig sprachlos. Die Geschichte klingt gar nicht so unglaubwürdig, auch wenn sie natürlich vollkommen an den Haaren herbeigezogen ist. »Nein«, protestiere ich. »Wieso hätten Narcisse und ich uns streiten sollen?«
Étienne zuckt mit den Schultern. »Keine Ahnung. Wegen deiner Pflichten als Gouvernante?«
»Zum zweiten Mal: Ich bin weder eine Gouvernante noch eine Prostituierte, sondern eine-«
»Eine Traumleserin, ich weiß.« Étiennes Augen funkeln spöttisch. Er genießt es, sich über mich lustig zu machen.
Ich atme tief durch. Dieser Kerl treibt mich noch in den Wahnsinn. Aber was habe ich erwartet? Ich hätte ihn verjagen sollen, als er sich zu mir an den Tisch gesetzt hat, aber stattdessen bin ich zu ihm ins Bett gekrabbelt. Was jetzt passiert, geschieht mir nur recht. »Ich bin hier, weil ich gerne weiß, wie meine Auftraggeber leben«, sage ich betont langsam. »Das hilft mir bei meiner Arbeit.«
»Mitten in der Nacht?«
»Sie sollen nicht wissen, dass ich mir einen Eindruck ihrer Lebensbedingungen verschaffe.«
Étienne schmunzelt. »Du hast Narcisse hinterherspioniert?«
Mir wird klar, dass ich aus dieser Angelegenheit nur herauskomme, wenn ich meinen Stolz herunterschlucke. »Ja ...«, ächze ich. »Ich habe ihm hinterherspioniert. Zufrieden? Können wir das Thema jetzt ruhen lassen?«
Bevor Étienne etwas erwidern kann, bekomme ich unerwartet Schützenhilfe von Adeline de Cinc Estrellia. Sie zwängt sich neben mich auf die Polsterbank, wodurch ich näher an Étienne heranrücken muss, und legt beide Hände um das Lenkrad. »Ich bedauere zutiefst, was Ihnen da gerade widerfahren ist, Frau Pommier«, sagt sie ohne mich anzusehen.
Die Worte kommen ihr offenbar nur schwer über die schmalen, blutleeren Lippen. Ihr knochiges Gesicht ist von der vornehmen Blässe adeliger Damen, die nur selten das Haus verlassen. Ich kenne viele Frauen mit diesem Hautton. Sie haben sehr oft Schlafprobleme. Der Grund dafür ist nicht selten eine zermürbende Langeweile und eine geradezu sträfliche Unterforderung. Daher habe ich viel Spaß daran, ihnen gehaltvolle Tätigkeiten zu verschreiben. Schluss mit Teekränzchen und seichter Unterhaltungsliteratur. Stattdessen gibt es körperliche Ertüchtigung, Abendkurse an der Universität, eine aufregende Reise, einen jüngeren Liebhaber oder die Beteiligung an einem gemeinnützigen Projekt.
Doch Adeline de Cinc Estrellia sieht nicht aus, als würde sie ihre Zeit mit Tee, Stickereien und Frauenromanen vertrödeln. Sie hat etwas Hartes an sich. Etwas Kaltes und Verbittertes. Dafür sprechen ihre hängenden Mundwinkel und die tiefen Furchen, die sich in ihr Gesicht gegraben haben. Bestimmt hat sie schon viele schlimme Dinge gesehen oder erlebt. Ihre Gesellschaft macht mich nervös. Neben ihr komme ich mir irgendwie töricht vor. Wie ein Landei in der Großstadt. Wie jemand, der nur so tut als ob, aber noch nicht viel vom Leben gesehen hat.
Ich erinnere mich wieder daran, was Narcisse über Adeline de Cinc Estrellia gesagt hat. Dass sie ihren Mann umgebracht habe. Doch ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Ist die Frau neben mir tatsächlich eine Mörderin?
»Danke«, sage ich. »Aber es ist ja nicht Ihre Schuld.«
Adeline wirft mir einen langen, schwer zu deutenden Blick zu. Habe ich einen Nerv getroffen? Gibt sie sich tatsächlich die Schuld an dem Vorfall? »Ich werde gleich morgen mit Faucon sprechen«, ergänzt sie, mehr an Étienne als an mich gewandt. »Er soll diese zwei Bohnenjockel aus dem Polizeidienst entfernen und in die Straßenreinigung versetzen.«
»Gute Idee«, sagt Étienne mit einem langsamen Nicken. »Sollen sie Scheiße fressen.« Er scheint sich daran zu erinnern, dass ich neben ihm sitze. »Verzeih meine Wortwahl.«
»Da gibt es nichts zu verzeihen«, erwidere ich. »Ich bin nicht empfindlich«, schiebe ich großspurig hinterher, auch wenn ich nur selten laut fluche und nur eine Handvoll Schimpfwörter kenne, die Adeline de Cinc Estrellia vermutlich alle als lauwarm oder handzahm abgetan hätte. Trotzdem fühle ich mich aus irgendeinem Grund genötigt, meinen Worten Taten folgen zu lassen. »Diese Schweine können von mir aus ... einen ganzen Haufen ... Scheiße fressen.«
Nachdem die Worte heraus sind, habe ich das drängende Gefühl, mir den Mund auswaschen zu müssen. Offenbar sieht man mir das auch an, denn Étienne und Adeline tauschen amüsierte Blicke.
»Mensch«, sagt Étienne mit gespieltem Enthusiasmus. »Das waren ja schon zwei Schimpfwörter in einem Satz. Und eines davon war sogar ein Fäkalwort. Das gibt die doppelte Punktzahl.«
Ich boxe ihn gegen den Oberarm. »Schluss jetzt damit. Ich möchte gerne zurück ins Hotel.«
Étienne lacht und reibt sich die Stelle, an der ich ihn erwischt habe. Dabei streift er unbeabsichtigt meinen Arm, was mir erneut ins Bewusstsein ruft, wie nah wir uns in diesem Moment sind. Fast so nah wie in der vergangenen Nacht. Nur, dass er sich nicht daran erinnern kann. »Was sagst du, Adeline? Haben wir Zeit für einen kurzen Abstecher?«
Adeline de Cinc Estrellia zieht an einem der Hebel im Fußraum der Voiturette und das Fahrzeug setzt sich in Bewegung. »Ich denke, das versteht sich von selbst.«
»Und unterwegs könntest du unserem Gast ein paar schöne Westragoner Schimpfworte beibringen? Was denkst du? Irgendwas Kerniges, wie Büchsenscheißer. Oder mein Favorit: Erzgalgenschwengel.« Er hebt in einer hilflosen Geste beide Hände. »Ich weiß nicht mal, was das bedeuten soll.«
»Das wundert mich gar nicht«, entgegnet Adeline in einem hochtrabenden Tonfall, während sie die Voiturette gekonnt hangabwärts steuert. »Von Schwengeln versteht man schließlich nur etwas, wenn man einen hat.«
Étienne reibt sich das Kinn und murmelt etwas von wegen: Das hat gesessen und kein Grund, gleich unter die Gürtellinie zu zielen.
Ich kann ein Lächeln nur schwer unterdrücken. Es ist seltsam, aber ich komme mir vor wie damals, als ich in der Kneipe meiner Eltern zum ersten Mal bei den Erwachsenen sitzen durfte. Auf jeden Fall genieße ich die kurze Fahrt mehr als ich gedacht hätte. Dem Geplänkel von Étienne und Adeline zuzuhören, hat etwas Befreiendes. Und als wir am Hotel ankommen, ist der Schatten, der sich durch den Übergriff der beiden Polizisten auf meine Seele gelegt hat, schon deutlich lichter geworden.
Ich bedanke mich bei Adeline für ihre Hilfe, bei Étienne für seinen Mantel und kehre auf mein Zimmer zurück. Wegen des halb geöffneten Fensters herrscht dort eine ziemlich unangenehme Kälte. Ich beschließe, noch schnell ein Bad zu nehmen, um die Erinnerung an die ungebetenen Hände auf meinem Körper abzuspülen, und bin dankbar dafür, dass in diesem Hotel auch nachts noch die Kessel geheizt werden.
Anschließend schleiche ich mich ins Nachbarzimmer und drücke einen jungen Dandy, der in einem weißen Herrenanzug schläft und in seinen Albträumen von leeren Kleiderschränken terrorisiert wird. Nachdem das erledigt ist, kann ich mich endlich ins Bett verkriechen und die Augen schließen, auch wenn ich nicht darauf hoffe, schnellen Schlaf zu finden.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top