1) Étienne Romarin

Als das Luftschiff seine Reiseflughöhe über dem Ellyrischen Ozean erreicht, habe ich mir bereits einen Fensterplatz in der Lounge gesichert. In den nächsten Stunden werde ich mich hier nicht wegbewegen. Ganz egal, was passiert. Obwohl es nicht meine erste Reise mit einem Luftschiff ist, will ich keine Sekunde des Fluges verpassen. Und vor allem will ich sehen, wie die Sonne im Meer versinkt. Auf der ganzen Welt gibt es keinen schöneren Anblick.

Während ich es mir in einem der weinroten Polstersessel gemütlich mache und mir von einem der Stewards eine Decke bringen lasse (an den Fenstern kann es manchmal ganz schön kühl werden), beobachte ich abwechselnd den Ozean, der sich unter mir in alle Himmelsrichtungen erstreckt, und die anderen Reisenden, die hinter mir aus dem Speisesaal in die Lounge strömen. Die meisten von ihnen stammen aus Ostragon, so wie ich. Ein paar Joumin kann ich auch entdecken. Mit ihrem dunklen Teint, den mandelförmigen Augen und der farbenfrohen Kleidung unterscheiden sie sich deutlich von den hellhäutigen und eher schlicht gekleideten Ragonen. Davon abgesehen, hält die Passagierliste keine Überraschungen parat. Außer mir sind hauptsächlich wohlhabende Bürger, Händler und Gelehrte an Bord.

Wie immer mache ich mir einen Spaß daraus, die Berufe der anderen Reisegäste zu erraten. Darin bin ich ziemlich gut. Der junge Mann mit dem Filzhut auf dem Kopf und dem Strickschal um den Hals? Eindeutig ein Gelehrter. Wenn ich die Verbrennungen an seiner Jacke richtig interpretiere, ein Chemiker auf Forschungsreise.

Neben ihm hat eine feine Dame Platz genommen, die vermutlich noch nie gearbeitet hat. Der schleifenförmige Anstecker an ihrem Dekolleté deutet darauf hin, dass sie sich für Frauenrechte engagiert. Ein Freizeitvergnügen, das sich nur Frauen leisten können, die nicht für ihren Lebensunterhalt arbeiten müssen.

Hinter den beiden, vor einem Raumteiler aus dunkelrotem Kirschholz, sitzen zwei Männer, die es mir etwas schwerer machen. Der Größere der beiden hat kurze, hellblonde Haare, einen langen Hals und wirkt irgendwie mürrisch. Als hätte er einen schlechten Geruch in der Nase. Er trägt einen schlichten, dunklen Gehrock und ein weißes Hemd, die von guter Qualität zu sein scheinen und weder Falten noch Flecken aufweisen. Seine Lederschuhe sind frisch poliert und glänzen wie neu. Er hat etwas von einem Buchhalter oder Juristen. Dazu passt, dass er in einem kleinen Büchlein blättert und sich immer wieder Notizen macht.

Sein Sitznachbar ist ein ganz anderer Typ Mann. Unordentliche, kastanienbraune Haare, ein grobes Gesicht mit einer breiten Nase und schmalen Augen, eine blutige Schramme an der rechten Wange und ein unrasiertes Kinn. Sein Hemd ist falsch zugeknöpft und voller Weinflecken (vielleicht sind es auch Blutflecken, aus der Entfernung ist das schwer zu sagen). Er hat sich weit zurückgelehnt, die Arme vor der Brust verschränkt und scheint zu schlafen. Vermutlich dauert es nicht mehr lange, bis er anfängt, zu schnarchen.

Unwillkürlich verspüre ich den Drang, ihn zu drücken.

Ich wende den Blick ab und ziehe die Wolldecke enger um meine Schultern. Es widert mich an, wenn ich diese Impulse empfinde. Schlimm genug, dass ich mir jede Nacht ein Opfer zum Drücken suchen muss, da will ich nicht auch noch tagsüber daran denken.

Um mich abzulenken, wende ich mich wieder dem Ozean zu. Der Anblick von Wasser beruhigt mich. Ich streife meine Riemchenschuhe ab, ziehe die Beine an den Körper, lege die Stirn gegen die kühle Glasscheibe und blende die Stimmen der anderen Reisegäste aus. Die Passagiergondel schwankt leicht im Wind, aber ich mache mir keine Sorgen, dass wir abstürzen könnten. Luftschiffe gelten als sehr sicher. Seit dem Krieg hat es keinen schweren Absturz mehr gegeben. Damals hat mein Urgroßvater für Ostragon gegen die Elfen aus Ellyrien gekämpft. Er wurde verwundet, gefangengenommen und später im Rahmen eines Gefangenenaustauschs wieder freigelassen. Doch den Preis für seine Taten bezahlen ich und die anderen Verfluchten. Dabei gibt es uns offiziell gar nicht. Offiziell ist der Krieg schon lange vorbei. Doch das ist eine Lüge.

Eine laute Stimme lässt mich aus meinen Gedanken aufschrecken. Mein Blick irrt durch die Lounge. Weil Wolken aufgezogen sind, hat sich eine unangenehme Düsternis über den Raum herabgesenkt und ich brauche einen Moment, um mich zu orientieren. Dann entdecke ich den Blonden, den ich für einen Buchhalter gehalten habe. Er hat sich aufgerichtet und steht nun Auge in Auge mit einem bärtigen Joumin, der wie ein Kaufmann gekleidet ist.

»Was erlauben Sie sich?«, zischt der Joumin mit einem deutlichen Akzent. Er muss den Kopf in den Nacken legen, um dem Blonden in die Augen sehen zu können. Mit ausgestrecktem Zeigefinger deutet er auf den Dunkelhaarigen, der immer noch fest zu schlafen scheint. »Ich will mit Étienne Romarin sprechen.«

Der Blonde hebt abwehrend die Hände. »Wie Sie sehen können, ist Monsieur Romarin gerade nicht zu sprechen.«

»Das wollen wir doch mal sehen«, entgegnet der Joumin und stürzt sich auf den Schlafenden. Anscheinend will er ihn nicht nur sprechen, sondern auch noch packen und kräftig schütteln.

Das gelingt ihm jedoch nicht, weil der Blonde zur Stelle ist, ihn abwehrt und zurückstößt.

Als der Joumin zum Gegenangriff ansetzt, greifen ein anderer Reisegast und ein Steward beherzt ein, packen ihn an den Armen und zerren ihn von Étienne Romarin weg.

»Dieser Mann ist ein Verbrecher! Er hat meine Tochter entführt!«, ruft der Joumin, während er sich nach Kräften dagegen wehrt, zur Tür befördert zu werden. »Mae Jibun! Fragen Sie ihn nach meiner kleinen Mae!«

Doch niemand tut ihm den Gefallen. Alle sehen nur aus weit aufgerissenen Augen zu, wie der besorgte Vater gegen seinen Willen aus der Lounge eskortiert wird. An der Tür nehmen ihn zwei bullige Kerle in Empfang, die mich an Matrosen erinnern. Danach verschwindet er irgendwo im Bauch des Luftschiffs.

Die feine Dame mit dem Schleifenanstecker lässt ihr Puderdöschen fallen und applaudiert. Wem, weiß ich nicht genau, aber nach kurzem Zögern schließen sich die anderen Reisegäste an.

Der Blonde ignoriert das Geklatsche, streicht seinen Gehrock glatt und nimmt wieder neben Étienne Romarin Platz, der genau in diesem Moment die Augen aufschlägt und sich verwundert umsieht. Anscheinend hat er tatsächlich geschlafen, auch wenn ich nicht verstehe, wie man an einem Ort mit so vielen Menschen schlafen kann.

Die Lösung dieses Rätsels lautet vermutlich: zu viel Alkohol.

Ein verlegener Ausdruck tritt auf Étiennes Gesicht und er wendet sich an seinen Sitznachbarn, wahrscheinlich, um zu erfahren, ob er im Schlaf irgendetwas angestellt hat. Die Erklärung des Blonden scheint ihn zu amüsieren. Er setzt sich aufrecht hin, lächelt entschuldigend und richtet das Wort an die anderen Reisegäste: »Tut mir leid, dass Sie Zeugen dieser äußerst unangenehmen Szene geworden sind.«

»Ach was, Monsieur Romarin, es war wundervoll aufregend«, flötet die Dame mit dem Anstecker.

Irgendwie werde ich das Gefühl nicht los, dass die meisten Anwesenden wissen, wer Étienne Romarin ist. Vielleicht ist er sowas wie eine lokale Berühmtheit. Wenn ich so darüber nachdenke, hat er etwas von einem Künstler. Vielleicht ein hochtalentierter, aber chronisch mittelloser Bildhauer, der dem Alkohol verfallen ist.

Étienne schlägt die Augen nieder und kratzt sich am Kinn. »Und was die kleine Mae angeht ...« Er zögert, scheint nach den richtigen Worten zu suchen und wendet sich dann erneut an sein erwartungsvolles Publikum: »Die kleine Mae ist dreiundzwanzig Jahre alt, ein Prachtweib und aus freien Stücken bei mir.« Mit einem breiten Grinsen und einem anzüglichen Zwinkern ergänzt er: »Wenn Sie verstehen, was ich meine.«

Zustimmendes Gelächter von den Männern, vornehmes Kichern bei den Damen.

Ich bin noch unentschlossen. Vermutlich, weil ich in den Albträumen, die ich meinen Opfern beschere, schon oft furchtbare Dinge gesehen habe. Daher weiß ich nur zu gut, dass sogar die freundlichsten Menschen hinter ihrem Lächeln grausame Geheimnisse verbergen können. Ist Étienne einer von diesen Menschen? Hat er Mae entführt oder ist das Ganze ein harmloses Missverständnis?

Während ich darüber nachdenke, bemerke ich, dass Étienne in meine Richtung sieht. Unsere Blicke treffen sich. Ich wende mich nicht ab. Wer auch immer Étienne Romarin ist, er kann ruhig wissen, dass ich keine Angst vor ihm habe. Hat man etwas zu verbergen, sieht man die Welt mit anderen Augen – und irgendwie habe ich den Eindruck, mein Gegenüber weiß genau, wie sich das anfühlt.

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