Kapitel 8

Fem hatte die nächsten zwei Tage so viel Spaß wie noch nie in ihrem Leben. Sie fuhr mit Rose, Grey, V und Painting nach Olympia wo sie wie ganz normale Mädchen alles taten, was sie schon immer mal tun wollte: Shoppen, Eis essen, Kaffee trinken, laut lachend alle Blicke auf sich ziehen.

Sie verbrachten den ganzen Tag in einer riesigen Mall und machten allerlei Unsinn, sie probierten peinliche, übergroße Hüte auf und machten Fotos mit lustigen Sonnenbrillen. Es war wie ein Traum und Fem hatte Angst, dass sie je aufwachen könnte.

Sie hatte sich in ihrem alten Leben immer gewünscht sie wäre eines der Mädchen aus den Filmen; hübsch, beliebt und reich. In langen, einsamen Nächten hatte sie sich ausgemalt wie es wäre so zu sein und es war immer fantastisch gewesen. Doch die Realität war noch viel besser.

Als die nette Frau ihr von Folster erzählte, hatte Fem Angst gehabt, sie dachte sie würde niemals akzeptiert werden, sie dachte es würde wieder wie in der Schule werden, wo sie nur runtergemacht wurde, doch es war eigentlich toll. Jedenfalls solange sie bei den anderen war.

Wenn sie allein irgendwo hin ging, kamen die Ängste wieder, das Gefühl hinter jeder Ecke könnte eine Gefahr lauern. Sie fragte sich, ob sie dieses Gefühl je wieder losbekommen würde, genauso wie die Angst vor Jungs.

Solange Paintings beruhigender Blick auf ihr lag oder V ihre Hand drückte fühlte sie sich stark und sicher, doch wenn sie einem Jungen allein über den Weg lief war sie wieder bei sich zuhause in Texas, wo sie ihre Zimmertür abschloss, wann immer sie hörte, dass ihr Vater heim kam. Sie bekam wie damals immer schwitzige Handflächen, ihr Herz hämmerte wie früher so laut, dass sie fürchtete ihr Gegenüber könnte es hören und in ihrem Kopf ging sie, wie in ihrem alten Zuhause, alle Fluchtwege durch. Und sie fand immer welche, eine offene Tür, ein Fenster, eine Aufseherin, doch aus ihrem Kopf gab es keinen Ausweg, die Angst blieb, egal wie oft sie floh.

Doch die nette Frau hatte ihr versprochen, dass alles besser werden würde, dass man ihr hier helfen würde und Fem glaubte ihr, Painting und die anderen waren der Beweis dafür, sie halfen ihr jeden Tag seit ihrer Ankunft. Doch vielleicht brauchte sie mehr. Deshalb war sie heute hier.

Sie saß auf einem kleinen Sofa, es war dunkelrot und gemütlich, wenn auch etwas durchgesessen, ihr gegenüber waren die Fenster, die raus auf das Gelände von Folster zeigten, auf der hellen Fensterbank standen einige Pflanzen, der Boden war mit grauem, kratzigen Teppich bedeckt, hinter sich hatte sie die Tür, sie war nicht wie die im Wohntrakt, sie war aus weißem Holz, die Klinke war silber. 

Die Psychologin hatte sie gefragt, wo sie lieber sitzen wollte, mit dem Gesicht zum Fenster oder zur Tür und sie hatte sich für das Fenster entschieden, denn so konnte sie die schönen Pflanzen betrachten, während sie versuchte nicht durchzudrehen.

Obwohl man sie extra an die einzige weibliche Therapeutin überwiesen hatte, die in Folster arbeitete, hatte sie Angst vor dem Termin, sie war noch nie bei einer richtigen Psychologin gewesen, nur bei der netten Frau.

„Also, Fem. Du hast schon einen Namen, das ist gut. Ich bin Dr. Williams, deine neue Therapeutin. Warst du schon einmal in psychologischer Betreuung?" Fem sah Dr. Williams an, sie war recht jung, vielleicht Mitte 30 und sehr hübsch. Sie hatte lange, hellbraune Haare und strahlend blaue Augen, die sie jetzt aufmerksam und freundlich ansahen. Fem schüttelte den Kopf, Dr. Williams lächelte. „Okay, dann haben wir beide jetzt das Vergnügen. Ich habe hier deine Akte, du bist erst seit einigen Tagen in Folster, richtig? Wie hast du dich bis jetzt so eingelebt? Hast du schon Freunde gefunden?"

Fem dachte an Painting und Rose und Grey und V und ihr Herz wurde warm, ihre Angst ging etwas zurück, sie nickte.

„Ja, Painting und ihre Freundinnen, sie sind sehr nett zu mir."

Dr. Williams lächelte erneut und notierte sich etwas auf dem Block auf ihren Knien.

„Sehr schön. Und wie kommst du mit deinen Zimmergenossinnen zurecht? Irgendwelche Schwierigkeiten?"

Da fiel ihr Diet Cherry Coke ein, wie sie gestern ins Zimmer geplatzt war, völlig verdreckt und mit einem irren Blick, sie schluckte schwer. „Naja ... Ich weiß nicht, ob das direkt ein Problem ist, aber da ist Diet Cherry Coke, sie ist ... Nicht ganz einfach."

Bei diesen Worten verdunkelte sich Dr. Williams' Blick etwas, ihr Lächeln wirkte auf einmal gezwungen. „Ja, Cherry ist ... Gewöhnungsbedürftig, ich weiß. Sollte es zu schlimm werden, kannst du mir gerne Bescheid geben, dann suchen wir dir ein neues Zimmer." Fem bekam einen Schock und schüttelte energisch den Kopf.

„Nein!"

Dr. Williams zog eine Augenbraue hoch, blieb aber stumm.

„Ich möchte das Zimmer auf keinen Fall wechseln, ich möchte bei Painting bleiben." Erklärte sie schnell und jetzt wurde das Lächeln der Therapeutin wieder echt, sie notierte sich wieder etwas.

„Es freut mich sehr zu hören, dass du so schnell Freundschaften geschlossen hast. Ich habe die Informationen vom Jugendamt in Dallas übermittelt bekommen, um mir schon einmal einen kleinen Überblick zu verschaffen, möchtest du mir vielleicht deine Version der Geschichte erzählen? Die Ämter sind manchmal etwas ungenau und zu den Akten kommen eher die Fakten, die emotionalen Hintergründe werden nicht wirklich berücksichtigt."

Wieder musste Fem stark schlucken, sie versuchte die aufkommende Panik zurück zu drängen, doch sie schien ihr ins Gesicht geschrieben zu sein, denn Dr. Williams hob beschwichtigend eine Hand. „Mach ganz in Ruhe, du musst auch nicht alles in einer Sitzung erzählen, wir arbeiten alles in kleinen Schritten auf, okay?"

„Okay." Entgegnete Fem etwas gepresst und versuchte ihre Atmung unter Kontrolle zu bekommen.

„Warum wurdest du ausgerechnet Fem genannt?" Fragte Dr. Williams, anscheinend in der Absicht Fem etwas abzulenken, dankbar nahm sie den Themenwechsel an.

„Weil ich erzählt habe, dass ich Männer nicht sehr leiden kann." Bei dem Gedanken an diese Unterhaltung mit Cherry wurde ihr schlagartig schlecht und das Gefühl auf dem Präsentierteller zu sitzen kam zurück.

„Warum denn das?" Fragte Dr. Williams zur Antwort und Fem atmete tief durch.

„Wegen meinem Vater, er hat ... Er hat mich nach dem Tod meiner Mutter geschlagen." Sie legte ihre Hände gefaltet in den Schoß, damit Dr. Williams nicht sehen konnte, wie sehr sie zitterte.

„Wann ist deine Mutter gestorben und woran, wenn ich das fragen darf?"

„Sie hatte Krebs. Ich war sieben." Fem erinnerte sich daran, wie ihr Vater mit ihr ins Krankenhaus gefahren war, um sich zu verabschieden. Sie war nicht oft dort gewesen, ihre Mutter hatte nicht gewollt, das sie sie so sah, doch zum Tschüss sagen hatte ihr Vater es erlaubt.

Der letzte Besuch war vor Monaten gewesen, als die Ärzte noch sagten, dass sie es schaffen würde, doch was Fem an jenem Tag in diesem Krankenhausbett sah, war nicht ihre Mutter gewesen, es war eine leere Hülle mit eingefallenen Wangen und toten Augen, die an tausenden von Geräten hing, die alle so unerträglich laut piepten. Fem hatte dennoch ihre Hand gehalten, so lange bis die Geräte aufhörten zu piepen. Sie hatte dort gesessen, zusammen mit ihrem weinenden Vater und hatte sie gehalten, bis man sie forttrug.

„Ist alles okay, Fem?" Fragte Dr. Williams und erst jetzt bemerkte Fem die Tränen, die sich ihren Weg über ihre Wangen gebahnt hatten, verlegen wischte sie sie weg und sah ihr Gegenüber an.

„Tut mir leid, ich musste nur grade an meine Mom denken, wie ich sie zum letzten Mal gesehen habe."

Dr. Williams sah sie traurig und betroffen an, Fem fragte sich, ob es echt war oder ob sie jeden ihrer Patienten so ansah.

„Magst du mir vielleicht von deiner Mom erzählen? Wie sie war?" Fem nickte kurz und dachte dann nach.

Die Jahre vor ihrem Tod waren verschwommen, doch an einige Dinge konnte sie sich noch sehr gut erinnern.

„Sie war toll," begann sie mit einem leichten, traurigem Lächeln auf den aufgeplatzten Lippen, „sie war immer gut drauf und hat mich zum Lachen gebracht, wenn ich einen Alptraum hatte. Ich bin dann immer ins Bett meiner Eltern gekrochen und habe mich an sie gekuschelt. Und dann hat sie immer den Arm um mich gelegt und mir eine Geschichte erzählt, bis ich eingeschlafen bin." Fem blinzelte weitere Tränen weg.

„Sie hat alle Feiertage geliebt, Weihnachten, Silvester, Thanksgiving ... Einfach alle. Sie ist immer durchs Haus gesprungen und hat gesungen und gelacht und alles dekoriert, wir hatten immer das schönste Haus in der Nachbarschaft. Und sie hat meinen Dad so glücklich gemacht. Er war schon Alkoholiker bevor sie sich kennenlernten, doch für sie hat er es geschafft aufzuhören, aber ... Aber für mich ... Für mich konnte er es nicht durchhalten. Nach ihrem Tod hat er sofort wieder zur Flasche gegriffen." Die Worte sprudelten plötzlich nur so aus Fem heraus und sie fühlte sich wie von Zauberhand leichter. Nie zuvor hatte sie diese Dinge laut ausgesprochen, nie.

„Bleib bei deiner Mutter, hast du noch mehr, was du mir von ihr erzählen kannst?" Fragte Dr. Williams sanft und Fem überlegte.

„Sie hat das Krankenhaus gehasst. Aber für mich hat sie so getan, als ob es toll ist. Immer wenn ich sie besuchen kam, sagte sie, dass es wie Urlaub sei und dass sie es richtig gut hat, aber dass sie sich auf Zuhause freue. Sie hat versteckt wie viel Angst sie hatte, damit ich mir keine Sorgen mache, doch ich glaube, dass sie von Anfang an wusste, dass sie nie wieder nach Hause kommt."

„Wie kommst du darauf?" Dr. Williams ließ ihren Kugelschreiber über das Papier sausen, Fem fragte sich, was sie sich wohl alles aufschrieb.

„Ich habe mal gesehen wie sie meinem Dad einen Brief gab, er hat ihn mit nach Hause genommen und am Tag ihres Todes lag er geöffnet auf dem Küchentisch. Sie hat sicherlich etwas für nach ihrem Tod aufgeschrieben, etwas was er tun soll, ich weiß nicht was. Aber als sie ihm den Brief gab, war sie erst seit kurzem im Krankenhaus gewesen, sie muss es also die ganze Zeit gewusst haben."

Fem seufzte auf, sie wünschte sie hätte den Brief genommen und gelesen, es war das letzte was nach ihrem Tod geblieben war und sie wusste nicht was drinnen stand.

„Meine Mom war eine tolle Mom, ich wünschte ich hätte mehr Zeit mit ihr gehabt, aber sie und mein Dad haben es mir irgendwann verboten ins Krankenhaus zu kommen, als es ihr schlechter ging, ich habe es damals nicht verstanden, aber als ich sie an ihrem letzten Tag nochmal sehen durfte, tat ich es endlich. Sie sah nicht mehr aus wie sie selbst und manchmal wünsche ich mir wirklich, ich wäre nicht gekommen. Dann hätte ich sie jetzt anders in Erinnerung."

Dr. Williams nickte voller Verständnis. „Das kann ich verstehen, aber es ist wichtig gewesen, zumindest für deine Mutter."

„Ich glaube nicht, dass sie überhaupt mitbekommen hat, dass ich da war." Erwiderte Fem etwas verbittert, doch Dr. Williams schüttelte den Kopf.

„Menschen auf dem Sterbebett bekommen mehr mit als wir uns vorstellen können, ich bin mir sicher, dass deine Mutter extrem glücklich war, dass du gekommen bist. Und ich finde es sehr mutig von dir, dass du zu ihr gegangen bist, wirklich." Darauf folgte ein aufmunterndes Lächeln, dass Fem jedoch nicht erwidern konnte, egal wie sehr sie es versuchte.

Sie stellte sich vor, wie ihre Mutter sie an jenem Tag wahrgenommen haben musste; verängstigt, müde, voller Trauer und schwach, ihr Herz zog sich schmerzhaft zusammen und ihre Atmung wurde wieder unregelmäßig.

„Woran denkst du gerade?" Kam auch schon die nächste Frage, doch Fem konnte nicht antworten, der Raum wurde immer kleiner, ein fürchterliches Stechen in der Brust ließ sie leise Wimmern, hatte sie einen Herzinfarkt? Sie fasste sich an die schmerzende Stelle, es wurde immer schwerer Luft zu holen, es war, als würde ihr jemand ein Seil um sie Brust schnüren und es immer fester ziehen. Ihre Gedanken begannen sich zu drehen, ihre Mutter im Krankenhaus, ihr Dad, allein mit einer Flasche Wodka in der Küche, ihr Dad, wie er sie die Treppe herunter stößt, ihr Dad, wie er sie im Arm hält und ihr sagt, es täte ihm alles so schrecklich leid.

Fem wurde schwarz vor Augen.

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