Kapitel 1

Das Zimmer war in vier Welten, die unterschiedlicher nicht sein könnten unterteilt. Direkt bei der Tür war das Reich der Blondine und schnell verstand sie, warum ihr Name Painting war. Der einfache Schreibtisch war brechend voll mit Farbtuben, Pinseln und Leinwänden, genauso wie der Boden rund um das Bett und die Wände, die von bunten Bildern bedeckt waren.

Daneben war das Bett einer gelangweilt aussehenden Brünette, sie sah nicht einmal auf um sie zu begrüßen, sondern tippte nur mit geschürzten Lippen auf ihrem Handy herum, ihre Haare waren zu einem lockeren Dutt hochgesteckt und ihre Nägel waren lackiert, obwohl es mitten in der Nacht war trug sie blutroten Lippenstift, keine Frage wer sie war. Red Lipsticks Teil war aufgeräumt und voll mit Fashionmagazinen und Postern von Jungs, auf ihrem Schreibtisch stapelte sich fein säuberlich sortiert Make Up. Sie schauderte, diese Art Mädchen hatte sie nie leiden können, das waren die gewesen, die sie in ihrer alten Schule in Dallas immer ausgelacht hatten, wenn sie sich in der Mädchenumkleide umzog.

Ihr Blick wanderte zum vorletzten Teil des Zimmers, auf der Fensterseite. Poster von irgendwelchen Bands und ungefähr tausend Polaroids bedeckten die steril weiße Wand, der Schreibtisch war ein einziges Chaos aus Zetteln, Büchern, leeren Dosen und Klamotten, der Boden sah nicht besser aus und das Mädchen auf dem Bett passte perfekt in dieses Bild. Sie hatte ebenfalls braune Haare, sie war klein und zierlich wie eine Elfe, doch in ihren wachsamen, grünen Augen die jeden ihrer Schritte verfolgten konnte sie das Chaos sehen, mit ihr war nicht gut Kirschen essen. Sie musste dann wohl Diet Cherry Coke sein.

Schließlich wandte sie sich dem letzten Teil zu, ebenfalls auf der Fensterseite und gegenüber der Tür. Sie hatte dieselbe spärliche Einrichtung wie die anderen; einen Schreibtisch, ein Bett und ein Schrank, alles in einem billigen hellbraun, die Matratze sah hart aus. „Ich hoffe es ist dir recht, dass du auf der Fensterseite bist." Hörte sie hinter sich Painting sagen und nickte mechanisch. Steif ging sie zum Bett und setzte sich darauf, es war bereits bezogen, die Bettwäsche war etwas kratzig und genauso weiß wie im Krankenhaus, dass behagte ihr überhaupt nicht. Ihr neues Zuhause sollte sich nicht anfühlen wie der Ort, an dem sie ihre Mutter verloren hatte. Sie zog die Beine an und starrte ausdruckslos auf den Linoleumboden. „Wenn du willst zeige ich dir morgen alles was du wissen musst, ich bin übrigens Painting und das sind ..." Sie kam nicht zum Ende. „Lass sie doch einfach in Ruhe, hast du dir ihr Gesicht mal angeschaut? Wetten die hört dich nicht mal? Sei einfach still, ich will jetzt schlafen, klar?" Red Lipstick hatte sie mit spitzer Zunge einfach unterbrochen und ihre Worten durchstachen ihr Herz wie Dolche, wenn es eines gab das sie jetzt noch gebraucht hatte um sich komplett unwillkommen zu fühlen war es das. Ohne ein weiteres Wort zu sagen wurde das Licht ausgeknipst und sie zog sich die Decke über den Kopf. Sie war hellwach und wäre am liebsten ins Bad gegangen um sich frisch zu machen, doch sie traute sich nicht, sich auch nur einen Zentimeter zu bewegen, auf keinen Fall wollte sie die Zicke wecken. Also lag sie da und guckte Löcher in die Luft, ihre Gedanken drehten sich um den morgigen Tag, was stand ihr wohl bevor? Würde sie weiterhin stumm bleiben und Abweisung von Red Lipstick und Diet Cherry Coke erfahren? Kurz ärgerte sie sich, dass sie Painting die kalte Schulter gezeigt hatte, es wäre gut eine Person zu haben die nett war, hoffentlich war sie jetzt nicht beleidigt und wollte ihr immer noch alles zeigen, denn aus dem Lageplan von Jeff wurde sie irgendwie nicht so ganz schlau. Nach ein paar Stunden in denen sie einfach dalag, schlief sie endlich ein und fiel in einen ruhelosen Schlaf.

Sie schlug die Augen auf, als jemand das Licht im Zimmer einschaltete, blinzelnd richtete sie sich auf und fühlte sich wie gerädert, ihre Kleider vom Vortag klebten schweißnass an ihr und ihr Kopf pochte unangenehm. „Oh gut, du bist wach." Painting sah sie quer durch den Raum mit schief gelegten Kopf an, sie trug ein übergroßes Shirt und pink karierte Shorts, ihre blonden Haare waren zerzaust und tiefe Ringe zierten ihr sonst wunderschönes Gesicht. Zu ihrem Glück wirkte Painting nicht so, als wäre sie sonderlich sauer auf sie, denn im nächsten Moment stand sie schon vor ihrem Bett und lächelte sie an. „Du siehst völlig fertig aus, die erste Nacht in einem fremden Bett ist nie schön, was?" Dankbar für die zweite Chance nickte sie zustimmend und versuchte ein Lächeln, wie gestern am Flughafen versagten ihre Gesichtsmuskeln und sie gab auf. Schnell stand sie auf, dann öffnete sie ihren Koffer und zog ein paar wenige Klamotten hervor. „Willst du mit ins Bad kommen? Wir haben noch ein bisschen Zeit bis zum Frühstück, du könntest noch schnell unter die Dusche springen, siehst aus als könntest du eine gebrauchen." Sie grinste schief. „Gern." Erwiderte sie und Painting klatsche begeistert in die Hände. „Du sprichst!" Sie war selbst überrascht, ihre Stimme klang zwar rau und etwas hilflos, aber sie sprach, das war ein Fortschritt. Painting hatte bereits ein Handtuch und Shampoo in der Hand, da fiel ihr ein, dass sie weder das eine noch das andere besaß und bekam wieder Panik, wo sollte sie bloß ein Handtuch herbekommen? Verlegen sah sie Painting an. „Ähm ..." Ihre Stimme versagte, doch Painting hatte offenbar ihren Blick auf dem Handtuch in ihrer Hand ruhen sehen und nickte schnell. „Kein Problem, du bekommst später noch Handtücher und alles, aber bis dahin kannst du eins von meinen haben und das Shampoo können wir uns ja schnell teilen, los geht's." Sie lächelte erneut aufmunternd und öffnete die Zimmertür. Verblüfft von der Freundlichkeit folgte sie ihr mit ihren frischen Klamotten im Arm. Im Bad war um diese Uhrzeit noch nicht sehr viel los, eine der ungefähr sechs Duschkabinen war besetzt, das heiße Wasser machte den Raum ganz dunstig und feucht-warm. Painting ging zielstrebig auf zwei Kabinen in der linken Ecke zu und reichte ihr ein Handtuch, dann verschwand sie in der Dusche und sie tat es ihr gleich. Nachdem sie die knarzende Tür hinter sich verriegelt hatte, zog sie sich das Shirt über den Kopf, es war ein befreiendes Gefühl es endlich los zu sein, lange hatte sie sich schon nicht mehr so eklig gefühlt. Schnell legte sie auch ihre restlichen Klamotten ab und schaltete das Wasser ein. Es war etwas zu heiß, doch das war ihr egal, es fühlte sich einfach fantastisch auf ihrer eiskalten, blassen Haut an, ihre letzte Dusche war Tage her, sofort war es ihr peinlich wie sie gestern vor ihre Mitbewohnerinnen getreten war, doch vor ihrem überstürzten Aufbrechen war kaum Zeit für irgendetwas gewesen.

Nach einiger Zeit tauchte eine Hand unter der Kante der Kabine auf und Painting schob ihr das Shampoo rüber, dankbar hob sie es auf. „Danke." Sie wusste nicht, ob Painting sie hören konnte, doch sie wollte es trotzdem sagen, es war zwar nur Shampoo, aber es fühlte sich so an, als ob sie ihr grade das Leben gerettet hätte. Gierig schäumte sie ihre kurzen Haare und den Rest ihres Körpers ein, erpicht darauf endlich wieder gut zu riechen und auszusehen wie ein Mensch. Sie hörte irgendwann wie die Tür neben ihr aufging und Painting durch das mittlerweile ansonsten leere Bad tappte, sie hatte gar nicht mitbekommen wie lange sie schon duschte. Schnell stellte sie das Wasser ab, sofort überzog eine dicke Gänsehaut ihren gesamten Körper, zitternd griff sie nach dem geliehenen Handtuch und trocknete sich ab, ihre frischen Klamotten waren schön warm und weich, sie war froh, dass sie sie mitgenommen hatte, vor ihrer Abreise wollte sie nämlich eigentlich nichts mitnehmen, doch die nette Frau hatte sie überredet nochmal zurückzugehen. Sie öffnete die Tür und klemmte sich ihre verschwitzten Sachen unter den Arm, zielstrebig ging sie auf die Waschbecken neben der Tür zu, es waren drei, Painting stand ganz außen und sie stellte sich an das unter dem Fenster, sodass eines zwischen ihnen war.

Die Spiegel waren beschlagen, sie wischte ihn mit dem Ärmel ihres dünnen Pullis ab und starrte in ihr Spiegelbild. Erst konnte sie gar nicht glauben, dass sie sich da grade selbst erblickte, sie sah schlimm aus. Ihre kurzen, schwarzen Haare standen vom trocken rubbeln in alle Richtungen ab, ihre Haut war ungesund blass und ihr rechtes Auge zierte ein tiefblauer Bluterguss. Sie hatte noch mehr blaue Flecken, dass wusste sie, sie spürte wie ihr ganzer Körper bei jeder Bewegung schmerzte, doch sie hatte es beim Duschen vermieden nach unten zu sehen, daher wusste sie nicht wo und wie schlimm sie waren. Doch ihrem Auge nach zu urteilen sehr schlimm.Ihre blassblauen Augen sahen sie traurig und müde an, sie war ein Schatten ihrer selbst und plötzlich wurde ihr bewusst wie kläglich sie aussah. Kein Wunder das Red Lipstick gestern bei ihrer Ankunft so abwertend war, sie selbst sah immerhin so aus, als wäre sie grade aus der Teen Vogue gesprungen, da musste ihr Anblick sie angeekelt haben.

„Also, New Girl, erzähl mir etwas über dich." Painting sah sie nicht an, sie war damit beschäftigt sich ihre Zähne zu putzen und nebenbei mit der freien Hand auf einem Pickel rumzudrücken. „Da gibt es eigentlich nichts zu erzählen." Erwiderte sie und kämmte ihre Haare mit den Fingern durch. Painting schüttelte den Kopf. „Es gibt immer etwas zu erzählen, komm schon." Sie reichte ihr eine pinke Haarbürste und lächelte verschwörerisch, wieder mal gerettet. „Ähm, also ich ... Ich komme aus Dallas."

„Texas ... Ganz anders als hier, nicht wahr? Krass viel Sonne und so, hab ich gehört. Siehst gar nicht aus, als würdest du aus einem Bundesstaat mit so viel Sonne kommen." Sie zuckte mit den Schultern, von der Sonne hatte sie nicht sonderlich viel mitbekommen. „Ich war nicht viel draußen." Sagte sie dann kurz zur Erklärung und hoffte, dass Painting nicht weiter nachfragte. „Ich komme aus New Orleans." Erzählte diese und spülte ihren Mund aus.

„Viele Hurrikans, hab ich gehört." Schloss sie an Paintings Aussage über Dallas an und sie lachte kurz auf. „Ja, das stimmt, ich hab aber keinen miterlebt, ich bin ziemlich früh hierhergekommen und hier musst du dich nur vor Bären, Regen und im Winter sehr viel Schnee fürchten." Sie nickte nachdenklich, sie wusste nicht sehr viel über Washington State, auf jeden Fall war das mit den Bären neu, aber sie hatte nicht vor im Wald spazieren zu gehen, also sollte das wohl kein Problem sein. „Ich dachte, dass Folster dichter an Seattle dran ist." Sagte sie schnell, um das Gespräch am Laufen zu halten. „Nein, wir sind hier im Niemandsland und Greentown hat nicht wirklich viel zu bieten, wenn du wirklich was machen willst, musst du hoch bist nach Olympia fahren, aber das ist auch nur ein bisschen dichter als Seattle."

„Dürfen wir überhaupt so weit weg?" Sie kam sich komisch vor, aber sie hatte irgendwie nicht damit gerechnet, dass es erlaubt war einfach mal nach Olympia oder Seattle zu fahren, Painting lachte. „Das hier ist kein Knast, natürlich dürfen wir in die Städte fahren, solange wir die Ausgangssperre einhalten. Ab 16 dürfen wir bis 0 Uhr draußen bleiben, also alles super." Sie wurde ein bisschen rot und folgte der Blondine wieder aus dem Bad hinaus. „Ich zeige dir jetzt alles wichtige, aber wenn du noch Fragen oder so hast, kannst du mich auch immer fragen." Sie zeigte den Gang runter.

„Also, am Ende ist ein Aufenthaltsraum dieses Stockwerks, er verbindet den Jungen- und Mädchentrakt, sodass alle Leute in unserer Altersklasse zusammen abhängen können. Da sind ein Fernseher, Sofas und ein Kühlschrank, aber vergiss nicht, deine Sachen zu beschriften, wie in einer WG. Außerdem ist da ein Postfach. Unser Betreuer ist Jeff, bei ihm kommt alle Post an, die für uns ist und er sortiert sie dann in das Regal ein, es ist nach Zimmern gegliedert. Eigentlich alles ganz einfach. Wir haben drei Stockwerke, für drei Altersklassen, das Erdgeschoss ist für die 10 bis 13 Jahre alten, der erste für die 14- bis 15-jährigen und dann kommen wir im zweiten Stock, alles ab 16 aufwärts, alle unter 10 sind in einem extra Gebäude. Jedes Stockwerk hat ein eigenes Bad und einen Aufenthaltsraum, wie wir halt. Essen gibt es zu festen Zeiten, aber die stehen alle mit auf dem Lageplan, den du bekommen hast. Im Hauptgebäude sind die Büros und Zimmer der Betreuer, wenn du also was brauchst, gehst du einfach zu Jeffs Büro, er kümmert sich auch darum, wenn wir Zeugnisse oder Klausuren unterschreiben lassen müssen. Außerdem gibt es dort einen Computer- und großen Aufenthaltsraum für alle. Dort steht auch eine Tischtennisplatte und sowas alles. Und dann gibt es etwas abseits noch das Therapiegebäude, du hast in der Woche eine Gruppentherapie und eine Einzeltherapiestunde, müsste alles auf deinen Unterlagen stehen. Bei der Gruppentherapie wirst du mit Leuten zusammen gesteckt, die ähnliches wie du durchmachen. Ja, das war jetzt eigentlich das Wichtigste, alles klar soweit?" Painting hatte kaum Pausen zum Atmen eingelegt, wie ein Wasserfall hatte sie sie zu getextet bis sie vor den Türen des Gebäudes mit der Küche standen. Sie hatte gar nicht richtig wahrgenommen, dass sie die ganze Zeit gelaufen waren. Schnell nickte sie.

„Ja, alles klar." Painting lächelte zufrieden und stieß die Türen schwungvoll auf. Drinnen herrschte bereits reges Treiben, man hörte Tellergeklapper und gemurmelte Gespräche, es kam ihr ein bisschen wie in einer Schulkantine vor, alles an Folster wirkte ein bisschen wie in der Schule. An der Stirnseite des beachtlich großen Raumes war ein Buffet aufgebaut, rundliche Frauen mit Haarnetzen und weißen Schürzen schmissen mit grimmigen Gesichtern Brötchen auf Teller und füllten die Milch auf. Painting lotste sie gekonnt durch das Labyrinth aus Tischen und Teenagern zum Buffet, dort drückte sie ihr ein Tablett in die Hand und ging den langen Tischen ab. Sie tat es ihr gleich und ließ sich ein Brötchen geben, schnappte sich dann ein bisschen Käse und Wurst und am Schluss noch ein Glas Orangensaft, alles war hübsch angerichtet, viel hübscher als man es einem Heim zugeschrieben hätte. Sie folgte Painting schließlich zu einem Tisch mit zwei Mädchen, die beide etwas deprimiert in ihrem Essen rumstocherten.

„Hey Leute!" Sagte Painting fröhlich, als wäre heute der beste Tag ihres Lebens, langsam war sie sich sicher, dass ihre neue Mitbewohnerin einfach immer so war. „Hey P." Ein durchschnittlich aussehendes Mädchen mit strähnigem, braunem Haar sah kurz auf und würdigte sie keines Blickes. „Das ist New Girl, sie ist gestern angekommen." Stellte Painting sie vor und jetzt sahen die beiden Mädchen sie doch an, die Brünette hatte müde Augen und wirkte irgendwie so, als wäre sie mit dem Kopf ganz woanders, aber nicht auf die gute, verträumte Art, sondern eher so die Weise, als wäre sie gedanklich grade an einem sehr traurigen Ort. Das Mädchen ihr gegenüber sah ein wenig glücklicher aus, sie hatte schwarzes, langes Haar und eine runde Brille mit Drahtgestell, sie sah asiatisch aus. „Das sind V und Grey Tear, sie wohnen auch auf unserem Stockwerk."„Hey." Sagte sie und bekam tatsächlich ein zaghaftes Lächeln zu Stande.

„Ich kann nicht glauben, dass ich mich in den Ferien langweile, ich mein was ist los mit mir? Wenn ich in die Schule muss, finde ich's scheiße, aber wenn ich's nicht muss auch." Sagte das asiatische Mädchen, das wohle V war, genervt. Sie war überrascht, in Texas hatten sie grade keine Ferien, ihr war gar nicht bewusst gewesen, dass die Ferien überall in den USA unterschiedlich waren, aber wenn sie so darüber nachdachte, ergab das eigentlich Sinn. „Also, ähm, V und Grey sind meine Freundinnen, meine einzigen, mit Rose zusammen, aber mit ihnen lässt es sich aushalten." Erklärte Painting und schmierte etwas Butter auf ihr Vollkornbrötchen, ihre Freundinnen wirkten nicht grade angetan von ihr, sie fühlte sich unwohl. „Woher kommst du, New Girl." Fragte V plötzlich, sie sah sie aufgeweckt an, ganz so als hätte sie erst jetzt bemerkt, dass sie überhaupt da war.

„Dallas in Texas und du?" Es kam ihr surreal vor mit diesen Mädchen ein Gespräch zu führen, vor nicht mal 24 Stunden war sie noch in Texas gewesen und jetzt saß sie hier und tat so, als hätte alles vor ihrer Ankunft in Seattle nie stattgefunden. „Seattle, ich hatte keinen weiten Weg." Antwortete V und lächelte schief, sie trug einen grauen Pullover, der irgendwie zu groß für sie wirkte, ihre Haare waren etwas wirr, die Brille war ihr tief auf die Stupsnase gerutscht. Sie schnitt ihr Brötchen auf und legte den Käse auf die untere Seite. „Was habt ihr heute noch so vor?" Fragte Painting in die Runde und Grey zuckte gelangweilt die Schultern. „Wie gesagt, ich langweile mich und tue nichts, bis die Schule nächste Woche wieder anfängt, du?" V nahm einen Schluck Wasser und sah Painting über den Rand ihrer Brille an. „Ich dachte ich führe New Girl ein bisschen in das Leben hier ein, wollt ihr mitkommen?" Sie klopfte sich die Krümel von ihrem Shirt, sie sah sie fragend an. „Es sei denn, du willst mich loswerden, dann bin ich weg." Schnell schüttelte sie den Kopf, bevor sie jemanden der so nett zu ihr war wegschickte, würde sie eher aus dem Fenster springen.

„Nein, nein das klingt gut. Danke dass du dir die Mühe machst." „Kein Ding, sonst ist hier ja auch nichts los ... Oh guckt mal wer da kommt." Die Blicke der vier Mädchen glitten durch den Raum zum Eingang. Ein verdammt großer Junge mit weißblonden Haaren betrat den Speisesaal und scannte die Tische mit einem eiskalten Blick. „Gestatten? Das ist Ice Cube, offiziell der heißeste Junge in Folster und ein Arschloch und Säufer." Sagte V hinter ihr und lächelte ihn verträumt an, Painting verdrehte die Augen. „V steht auf ihn, dabei ist er ein genauso großer Nichtsnutz wie alle anderen hier." Sie widmete sich wieder ihrem Frühstück, während V und Grey den Jungen weiter mit Blicken verschlungen. Sie beobachtete, wie er locker durch die Tische lief und sich dann an einen vollbesetzten Tisch mit Jungs setzte, die ihn alle lautstark begrüßten, Handschläge wurden verteilt und Witze gerissen, über die natürlich alle lauthals lachten, er war der Anführer dieser Truppe, das war sofort klar.

„Und die nächste." Sagte Grey und wieder gingen alle Blicke zur Tür. Diesmal betrat Diet Cherry Coke den Saal, sie war blass und eindeutig nicht auf der Höhe. Sie trug eine viel zu große Armeejacke und ihre Haare steckten in einem unordentlichen Dutt. Sie sah direkt zu dem Tisch an dem Ice Cube sich niedergelassen hatte und ihre Augen wurden zu Schlitzen. „Oh oh, er hat sich an ihren Tisch gesetzt und keiner ihrer Kumpel ist hier um sie rauszuschlagen." Kommentierte V und lachte leise und etwas gehässig auf, sie hatte das Gefühl, dass Diet Cherry Coke nicht sonderlich beliebt an diesem Tisch war. Das elfenartige Mädchen setzte plötzlich ein breites Lächeln auf und kam direkt auf den Tisch von Painting und ihr zu, kurzerhand setzte sie sich ihr gegenüber und nahm wie selbstverständlich die zweite Hälfte von Paintings Brötchen.

„Na ihr?" War ihre Begrüßung, ihre Stimme war genauso wie sie sich die Stimme des Teufels vorstellte; honigsüß und bedrohlich, aus dem Augenwinkel sah sie, wie V und Grey sich genervte Blicke zuwarfen. „Sitzt du nicht normalerweise woanders?" Fragte V dann in einem neutralen Tonfall, doch Diet Cherry Coke winkte ab. „Ich kann es mir doch nicht entgehen lassen, die Neue kennenzulernen, nicht wahr?" Ihr etwas einschüchternder Blick glitt zu ihr und sofort hatte sie das Gefühl, Cherry würde all ihre Geheimnisse kennen, sie schluckte nervös. „Ich bin Diet Cherry Coke, kurz Cherry, du hast, nehme ich an, noch keinen Namen, richtig?" Sie streckte ihr ihre langfingrige, schmale Hand entgegen, die sie halbherzig nahm. „Ja, das stimmt." War ihre Antwort, sie sah Cherry misstrauisch an, was konnte sie wollen? „Entschuldige meinen Auftritt gestern Abend, ich hatte einen Mordsschädel von der Party, konnte keinen klaren Gedanken fassen, wenn du weißt was ich meine." Sie hatte einen Plauderton aufgelegt, doch ihr war nicht nach plaudern zu mute, sie wollte, dass Cherry verschwand.

„Wieso bist du hier?" Sie sah Cherry entsetzt an. Es war klar, dass diese Frage irgendwann kommen würde, aber sie hatte nicht damit gerechnet, dass sie so früh kam, schon gar nicht von einer Person wie Cherry. Alle schienen die Luft anzuhalten und sahen zwischen ihr und Cherry hin und her, Painting brach das Schweigen. „Ich denke, dass sie diese Frage nicht beantworten muss, wenn sie noch nicht bereit dazu ist." Cherry lachte auf und verdrehte ihre hübschen Augen. „Oh bitte, wann ist man je dazu bereit?" Painting warf ihr einen düsteren Blick zu, der jedoch ohne weiteres an ihr abprallte.

„Wieso bist du denn hier?" Erwiderte sie dann und sah Cherry herausfordernd an. Sie lächelte auf eine merkwürdige Art und Weise, ein bisschen so wie ein Wolf lächeln würde bevor er ein Schaf riss, einfach gruselig. „Mein Dad ist ein Sektenführer, der über 10 Menschen umgebracht hat, unter anderem meine Mom, er sitzt im Gefängnis, deshalb bin ich hier, New Girl. Jetzt du." Sie sagte das so leicht daher, als ob sie grade über das Wetter sprachen, ihr lief ein Schauer über den Rücken, dieses Mädchen war absolut merkwürdig und furchteinflößend.

„Häusliche Gewalt." Brachte sie zwischen zusammen gebissenen Zähnen hervor und Cherry nickte nachdenklich. „Das hört man hier oft." Es störte sie gewaltig, dass Cherry ihre Situation runterspielte und so tat, als wäre es komplett normal. „Dein Dad oder deine Mom?" Am liebsten hätte sie die Frage ignoriert, am liebsten wäre sie einfach aus dem Raum gestürzt, doch sie wusste, dass das hier ein Test war. „Mein Dad, meine Mom starb als ich sieben war." Wenn sie die Zähne noch etwas fester zusammen biss, würden ihre Kiefer brechen. „Lass sie." Sagte Painting leise, doch Cherry verdrehte nur ihre Augen und biss ein Stück von dem geklauten Brötchen ab. „Ich tu ihr ja nichts, halt deinen Helferkomplex mal ein bisschen zurück, P." Damit galt ihr wieder Cherrys ungeteilte Aufmerksamkeit. „Und wer willst du jetzt sein?" Diese Frage kam noch überraschender als die nach dem Grund ihrer Anwesenheit, sie zog eine Augenbraue hoch und sah das Mädchen ihr gegenüber verwirrt an.

„Wa-was?" War alles was sie herausbrachte, Cherry verdrehte erneut die Augen. „Die Frage ist doch ganz einfach. Du bist hier um dich zu regenerieren und deine Vergangenheit so gut es geht zu verarbeiten und hast die einmalige Chance jemand komplett neues zu sein, also ist meine Frage wohl berechtigt wenn ich mich wundere, wer du jetzt sein möchtest, oder?" „Darüber habe ich nicht nachgedacht." Gestand sie etwas kleinlaut, denn wenn sie ehrlich war, ergab das durchaus Sinn. „Das muss sie doch gar nicht wissen, Cherry." Sagte V gedehnt und biss in ihr Brötchen. „Also ich denke darüber jeden Tag nach und nicht nur bei mir selbst, auch bei den anderen Versagern hier. Nehmen wir zum Beispiel mal Grey Tear hier. Seit Jahren sehe ich sie jetzt schon hier sitzen, jeden Morgen und jeden Abend und jedes verdammte Mal hat sie denselben Gesichtsausdruck und ihre Haare sehen von Tag zu Tag schlimmer aus – Was soll bloß mal aus ihr werden? Wer ist sie überhaupt? Ist sie das traurige Kantinenmädchen oder ist sie das Mädchen, das wir irgendwann in vielen Jahren wiedersehen und uns denken ‚Wow!', um ehrlich zu sein denke ich, dass sie das traurige Kantinenmädchen ist, nichts für ungut." Cherry warf Grey einen wenig überzeugenden, entschuldigenden Blick zu, doch diese ließ das alles völlig kalt, sie starrte nur weiter vor sich hin und rührte ihr Essen nicht an.

„Kann es sein, dass du grade high bist, Cherry?" Fragte Painting beiläufig und Cherry lachte laut auf. „Machst du Witze? Natürlich bin ich high! Aber das tut doch nichts zur Sache, ich rede grade über New Girl, was ist dein Aufmacher? Das wofür du bekannt bist?" Jetzt wo sie sich Cherry genauer ansah, konnte sie deutlich ihre geweiteten Pupillen erkennen, Gott, sie war tatsächlich high, wie konnte das überhaupt sein? Cannabis war, soweit sie das wusste zwar legal in Washington State, aber sicherlich nicht in Folster. „Ich hab keinen Aufmacher ... Außer ..." Sie brach ab und die Schamesröte stieg ihr ins Gesicht.

„Außer ..?" Hakte Cherry mit ungeduldiger Miene nach und sie seufzte.

„Ich kann Männer nichts besonders leiden, ich hab Angst vor Männern, okay?" Allein das auszusprechen kostete sie mehr Kraft als alles andere in ihrem Leben bis her, sie hatte das bis jetzt keinem erzählt. Cherry runzelte verwirrt die Stirn. „Das heißt du bist so eine Art Feministin oder so?" So hatte sie das Ganze noch nie betrachtet, wenn man es so sah, klang die Sache nicht mehr so schlimm, also nickte sie schnell.

„Ja, ja so ist es." Cherry nickte, etwas zu lang, ganz so als hätte sie vergessen, dass sie aufhören musste und sah etwas nachdenklich an ihr vorbei ins Nichts. „Also, Fem, dann wissen wir ja jetzt alle woran wir sind. Aber ich muss dich warnen, Folster hat einen männlichen Anteil von 70%, also ... Du wirst Spaß haben."

Sie schenkte ihr ein gekünsteltes Lächeln und stand schwungvoll vom Tisch auf und ging zu einer Jungsgruppe die grade hereingekommen war, sie lachten gemeinsam und verzogen sich in die andere Ecke des Saals, sie blinzelte, das war alles viel zu schnell gegangen.

„Fem?" Fragte sie verwundert in die Runde und Painting warf ihr einen entschuldigenden Blick zu. „Wie es aussieht, hast du jetzt deinen Namen, tut mir leid."

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