1. Die Freundinnen
,,Manchmal wirkt alles so friedlich. Wie im Meer, wenn gerade keine Wellen kommen. Du schwimmst! Dann scheint es sich zu verändern, ein Sturm kommt auf, die Wellen werden größer. Du kämpfst! Die Wellen werden noch größer, immer größer. Mit ganzer Kraft drücken sie dich unter Wasser. Immer tiefer wirst du hinunter gezogen. Die Luft wird knapp. Du ertrinkst! Verstehst du, was ich damit sagen will?"
Immer wieder dachte ich an diese letzten Worte. Ihre letzten Worte an mich. Ich hatte nicht verstanden, was sie mir damit sagen wollte.Hatte lange nachgedacht, was es bedeuten könnte, doch ich habe es einfach nicht verstanden. Bis heute.
Heute, auf den Tag genau sind es nun zwei Jahre. Vor zwei Jahren verabschiedete sie sich für immer.
Von mir.
Von ihrer Familie.
Von dieser Welt.
Noch immer war ich nicht darüber hinweg. Sie war meine beste Freundin. Wir waren fast schon wie Geschwister. Ich passte immer auf sie auf und sie auf mich... außer an diesem Tag. In den letzte zwei Jahren hatte ich mir immer wieder diese eine Frage gestellt. Was wäre gewesen, wenn ich da gewesen wäre? Hätte ich etwas ändern können?
Vermutlich nicht.
Ich weiß nicht, wie lange sie es schon geplant hatte. Ob sie es überhaupt geplant hatte. Vielleicht war es auch nur eine spontane Entscheidung. Jedes mal, wenn ich darüber nachdachte, fiel mir wieder auf, wie wenig ich eigentlich über sie gewusst hatte. Früher dachte ich, wir würden uns alles erzählen. Keine Geheimnisse und so. Wir hatten es uns geschworen.
Inzwischen wusste ich, dass sie mir nicht alles verraten hatte.
Ich hatte nichts von ihrem Freund gewusst, mit dem sie ein ganzes Jahr zusammen war - vielleicht weil er zehn Jahre älter war als wir, oder weil er sie schlug. Manchmal habe ich die blauen Flecken gesehen. Sie meinte sie wäre irgendwo runter gefallen, wäre irgendwo hängen geblieben oder ähnliches. Ich habe ihr geglaubt.
Ich hatte nicht von ihrer Trennung gewusst - nur, dass sie wegen etwas sehr traurig war. Auch wenn ich den Grund nicht kannte, war ich für sie da. Ich dachte, sie würde es sicher erzählen, wenn die Zeit gekommen war.
Ich wusste auch nicht, wie ihr Ex uns immer wieder verfolgte. Wie er versuchte sie mit Nacktbildern zu erpressen, die er heimlich von ihr gemacht hatte.
Das alles habe ich erste später erfahren. Nach ihrer Beerdigung, als eben dieser Kerl vor Gericht stand. Er hatte sich selbst angezeigt. Hatte wohl ein schlechtes Gewissen, oder so. So richtig glauben konnte ich das ja nicht. So ein widerliches Schwein konnte kein schlechtes Gewissen haben.
Wie mir nicht früher klar werden konnte, dass etwas nicht stimmte konnte ich nicht genau sagen. Es war so offensichtlich, dass sie etwas verheimlichte.
Und jetzt verstand ich auch, was sie mir in ihren letzten Worten sagen wollte. Sie hatte gehofft, ich würde es verstehen. Die Anspielung mit dem Meer und dem Gefühl zu ertrinken. In der gesamten Zeit, in der sie mit diesem Kerl zu tun hatte, musste sie sich so gefühlt haben. Ein riesiger Druck hatte auf ihr gelastet.
Bevor sie ertrank...
Nicht nur in ihren Ängsten.
An ihrem letzten Tag, in den letzten Minuten ihres Lebens, schwamm sie immer weiter in das offene Meer hinaus. Die Wellen überschlugen sich über ihr, doch sich schwamm immer weiter. Wollte so weit wie möglich hinaus, bevor dann schließlich die letzte Welle kam, nach der sie nicht wieder auftauchte.
Noch während sie hinaus schwamm suchte man nach ihr. Niemand dachte, sie würde wirklich hinaus schwimmen. Sie dachten, sie wäre irgendwo anders an Land gegangen.
Einige Tage später wurde sie angespült.
Ich öffnete das Tor zum Friedhof. Alles war ruhig. Selbst die Vögel schienen still zu sein, während ich langsam an den ganzen Grabsteinen vorbei ging. Verschiedene Namen von Personen, die ich nicht kannte. Manche waren schon lange Tod, andere erst vor wenigen Monaten gestorben. Einige Gräber waren verwahrlost, auf anderen blühten die verschiedensten Blumen. Ich ging zielstrebig auf ein Grab zu. Als ich es endlich erreicht hatte, setzte ich mich vorsichtig auf die gepflegte Wiese davor. Einen Moment lang blieb ich still. Lauschte nur dem Wind. Dann atmete ich tief ein und legte den Strauß weißer Rosen - ihre Lieblingsblumen - auf das Grab.
,,Ich vermisse dich, Mia..."
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