zwei

Es ist zu früh am Morgen, doch ich stehe schon mit Mütze, Winterjacke, Schal, Handschuhen, dicken Socken, Stiefel und ziemlich viel Müdigkeit auf dem Weihnachtsmarkt an unserem Stand. Auf dem Weg von meiner WG bis hier her konnte ich die Sonne über der zugefrorenen Alster aufgehen sehen, aber mittlerweile ist sie schon mit Wolken überdeckt. Heute übernehme ich die erste Schicht von 10 bis 14 Uhr, da erst nachmittags meine einzige Vorlesung, die ich freitags habe, beginnt. Trotzdem müssen Valentin und ich aber schon um 8.30 Uhr beginnen, um noch alles aufzubauen und vorzubereiten.

Morgens ist unter der Woche meistens nicht viel los, weswegen wir auch um 11 Uhr noch gemütlich an einem Stehtisch neben unserer Bude stehen und einen Früchtetee trinken können. Mit festem Griff umklammere ich meine heiße Tasse, in der Hoffnung, dass sie etwas ihrer Wärme auf mich überträgt. Es ist wirklich unterirdisch kalt heute. Viel zu sagen haben Valentin und ich uns gerade nicht; wir sind beide zu erschöpft, da uns die Uni momentan alle Kräfte abverlangt. Gestern musste ich erneut eine Nachtschicht einlegen, um alle Aufgaben rechtzeitig abgeben zu können.

Mit müden Augen schaue ich mir nichtsahnend die Menschen an, die sich tatsächlich an so einem kalten Tag morgens aus dem Haus getraut haben und an uns vorbei gehen, bis ich in ein bekanntes Gesicht blicke. Mit festem Schritt kommt er auf mich zu, als hätte er ein Ziel und nicht viel Zeit.

Aufgeregt schaue ich zu meinem rothaarigen Kollegen, der mich nur wissend anschaut und anschließend mit seiner Teetasse hinter der Theke verschwindet. Ich lasse es mir nicht nehmen, ihm noch lachend den Mittelfinger zu zeigen, bevor der junge Mann von gestern tatsächlich vor mir steht.

Diesmal steht er viel dichter vor mir, uns trennt nur noch die Tischplatte. Er ist etwas größer und breiter als ich und hat braue Augen, in denen ich gerne versinken würde.

„Ach, du schon wieder – der Grinch", versuche ich, ihn lässig zu begrüßen.

„Ich wollte euch nur die Tasse wiedergeben", antwortet dieser harsch und knallt das Porzellan auf den Stehtisch. Anschließend fährt er sich verlegen durch die Haare. Seine Hände sind heute nicht mit Handschuhen eingepackt. Wow, ist er attraktiv gerade. Kurze Zeit starrt er mich an und hadert mich sich, was er noch sagen soll. Von der anfänglichen Unfreundlichkeit und dem großen Selbstbewusstsein ist kaum noch etwas zu sehen. „Und äh – was ich eigentlich wollte", beginnt er nun unsicher, „ich war gestern vielleicht doch etwas unfreundlich zu dir. Und dafür wollte ich mich entschuldigen. Also – tut mir leid, war echt blöd von mir."

Erstaunt schaue ich ihn an. Ich habe mit allem gerechnet, aber nicht damit. „Ist schon okay. Wenn man hier arbeitet, ist man sowas gewohnt. Mach dir keine Sorgen. Hatte dich schon fast wieder vergessen." Das war eine fette Lüge. Ich habe noch den ganzen Abend und die ganze Nacht und den ganzen Morgen an ihn gedacht und mir gewünscht, ihn noch einmal zu treffen. Wünsche werden wohl doch wahr.

Ich bilde mir ein, ein bisschen Enttäuschung in seinem Blick zu sehen.

„Was wolltest du mir gestern eigentlich noch sagen?", fragt er nun wieder hoffnungsvoll.

„Huh?"

„Naja, du hast damit angefangen, dass die Einnahmen nicht nur für euch sind und so."

Interessiert ihn das wirklich oder fragt er nur aus Nettigkeit? Meine Freude, dass er überhaupt gefragt hat und sich wohl noch länger mit mir unterhalten will, überwiegt meine Frage jedoch.

„Das meiste spenden wir an hilfsbedürftige Menschen, damit sie ein schönes Weihnachtsfest feiern können. Manche wünschen sich einfach nur tolle Feiertage, die sie ohne Spenden aber nicht erleben können. Für diesen Wunsch sind wir da."

„Warum willst du unbedingt, dass alle Weihnachten feiern können. Das Fest ist nur scheiße und ziemlich überbewertet."

Fast hätte ich mich an meinem Tee verschluckt. „Warum sagst du sowas? Die Weihnachtszeit ist die schönste von allen!"

„Nein, ist sie nicht", erwidert er ernst. „Sie entfacht einfach nur schlechte Laune." Und schon ist die Freundlichkeit wieder verschwunden und er entfernt sich emotional von mir. Es fühlt sich so an, als wäre er zehn Schritte zurück gegangen.

„Es geht ja auch nicht nur um Weihnachten. Es geht um so viel mehr. Wir wollen nicht nur, dass alle ein schönes Fest erleben, sondern auch, dass niemand Existenzängste haben muss. Dass sich niemand Sorgen machen muss. Und vor allem, dass niemand verhungern muss. Natürlich ist das auch außerhalb der Weihnachtszeit wichtig, das ist mir klar, aber jetzt doch besonders. Gerade auch, weil es von Tag zu Tag kälter wird, es beginnt zu schneien, stark zu regnen und es wird von Jahr zu Jahr schlimmer." Voller Emotionen rede ich mich in Rage, dass mir gar nicht aufgefallen ist, wie viel Zeit schon vergangen ist und er mittlerweile seinen Kopf auf seine Arme, die er auf dem Tisch aufgestellt hat, gestützt hat und mich ernsthaft interessiert anschaut. Abwartend schaue ich ihn an, doch er erwidert nichts. „Du stimmst mir zu, du willst es nur nicht zugeben, habe ich Recht?" Siegessicher verschränke ich meine Arme.

Nun lehnt er sich mit seinem Oberkörper etwas über den Tisch und schaut mit seinen Augen genau in meine. Jetzt sehe ich wahrscheinlich alles andere als siegessicher aus, denn plötzlich macht er mich wieder unglaublich nervös. Schlaff fallen meine bis eben noch verschränkten Arme neben meinen Oberkörper. „Träum' weiter –", kurz schaut er auf meine Schürze, dann zurück in meine Augen, „Hannes. Schöner Name. Ich bin übrigens Gabriel." Mit diesen Worten unterbricht er auch den Blickkontakt und stellt sich wieder gerade hin. Und ich kann aufatmen.

Verwirrt sehe ich ihn an, bis mir auffällt, dass er soeben auf mein Namensschild geguckt hat, welches mit goldener Schrift in meine grüne Schürze eingenäht wurde, die zeigt, dass ich ein Teil des Geschäfts bin.

„Äh ja, danke", ist alles, was ich erwidern kann. Ich bin viel zu verwirrt von der gesamten Situation, um einen gescheiten Satz herauszubringen. „Willst du noch etwas kaufen?"

Gabriel lächelt mich warm an. „Eigentlich war ich nur hier, um mich bei dir zu entschuldigen. Aber wenn du schon so fragst – ich hätte gerne einen Kakao. Extra heiß, bitte, es ist arschkalt und ich habe noch einen langen Weg vor mir."

Ich unterdrücke die Frage, wo er hin muss. Auf der einen Seite interessiert es mich aus irgendeinem Grund sehr, auf der anderen Seite muss ich lernen, die Privatsphäre von anderen Menschen zu respektieren. „Mit Schuss? Oder ist der Weihnachtsmarkt doch nicht mehr so scheiße?"

„Ne, ich finde dich nicht scheiße."

Aus großen Augen sehe ich ihn an. Wie atmet man noch gleich? Mit einem Lächeln, das ihn verstört haben muss, gehe ich in das kleine Häuschen und mache Gabriel seinen Kakao. Besagter kommt nun vor die Theke.

„Moin", begrüßt er Valentin.

„Guten Morgen. Heute besser drauf als gestern?" Wie auch immer Valentin es schafft, klingt er nie unhöflich. Selbst, wenn er etwas unhöfliches sagt oder sauer ist.

„Ja, sorry nochmal."

„Alles cool."

„Okay, das wären dann 3€. Ich war mal so frei und hab das Pfand von gestern direkt abgezogen. Wäre ja sonst unnötig."

„Danke", erwidert er, während ich ihm die Tasse gebe und er mir im Gegenzug das Geld. Statt zu gehen, bleibt er aber wie angewurzelt stehen. Habe ich was vergessen? „Gut – äh – wir sehen uns", verabschiedet Gabriel sich nun doch, bevor er in der Menge verschwindet. Wie gerne hätte ich noch weiter mit ihm gesprochen und dabei seine Rehaugen bewundert.

Wir sehen uns.

Wie ehrlich er diesen Satz wohl gemeint hat? Zum Glück kann ich mir nicht weiter den Kopf darüber zerbrechen, denn die Arbeit ruft.

„Eigentlich ist er ganz nett", meint Valentin zu mir.

„Ja", gebe ich verträumt zu, „das ist er. Sehr nett."

„Alter Hannes, was ist denn jetzt passiert? Bist du allein von diesem Gespräch geil geworden, oder was?"

Erschrocken schaue ich an mir runter, was Valentin einen Lachanfall beschert. Habe ich ihm wirklich für eine Sekunde geglaubt?

„Ich hasse dich."

„Komisches Synonym für lieben."

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