sechs
Voller Elan betrete ich um 16 Uhr die Kirche, wo ich schon erwartungsvoll aus Kinderaugen angeschaut und mit lasst uns froh und munter sein begrüßt werde. In meinem Kopf muss ich sofort mitsingen.
Als mich die ältere Frau mit den weißen Haaren und dem tiefroten Kleid, die gerade ein paar Papierstreifen auf einer der Kirchenbänke abgelegt hat, erblickt, kommt sie direkt warm lächelnd auf mich zu. „Hallo, Hanni! Danke, dass du es einrichten konntest", begrüßt Elise mich nun in einer festen Umarmung. Sie ist die Organisatorin es Ganzen und zusätzlich auch meine Oma. Von ihr habe ich meine Begeisterung für Weihnachten geerbt. Und wahrscheinlich auch die Eigenschaft, es jedem recht machen zu wollen. Selbst, wenn es nicht mehr möglich ist.
„Natürlich. Du weißt doch, dass ich zu sowas nicht nein sagen kann. Außerdem liebe ich Kinder."
„Du bist so gut, Hannes. Weißt du das eigentlich? Wir haben schon bisschen angefangen und die Sachen verteilt." Sie zeigt auf die Kinder, die sich im Altarraum auf Kissen in einen Kreis gesetzt haben und ganz viele Bastelsachen in der Mitte liegen haben. Außerdem hat jedes Kind eine Matte vor sich liegen, damit der Boden nicht dreckig wird und es später leichter für sie wird, aufzuräumen. „Die Kleineren bemalen kleine Acrylkugeln für den Tannenbaum und die Größeren falten Fröbelsterne. Vielleicht tauschen wir später nochmal durch, je nach dem, wie weit wir kommen... ach, was rede ich – nach spätestens einer Stunde machen die sowieso, was sie wollen. Du weißt ja, was du machen musst – tob' dich aus. Ich werde mal beim Caterer anrufen und nach der Suppe fragen."
Ich setze mich zuerst zwischen das Mädchen mit blonden Locken, die ich als das Mädchen von Samstag identifiziert habe, und einen Jungen in einem T-Shirt mit Spiderman-Backprint, da dort noch ein freies Sitzkissen ist. „Hallöchen, ich bin Hannes. Ich helfe euch heute ein bisschen beim Basteln, werde später eine Weihnachtsgeschichte vorlesen und dafür sorgen, dass ihr einen schönen Tag haben werdet. Und wer seid ihr?"
Nachdem sich die elf Kinder der Reihe nach mit Namen und Alter vorgestellt haben, erzählen sie mir noch voller Freude, was sie gerade basteln und was der Nikolaus ihnen gebracht hat. Ich liebe es, wie sehr sie sich über Süßes freuen, da die meisten außerhalb des Dezembers nicht so viele Süßigkeiten essen dürfen.
„Aber das ist meine Schokolade. Ich habe sie vom Nikolaus bekommen. Sie ist nur für mich", erzählt ein kleiner Junge mit einem Pflaster über seinem linken Auge stolz. „Und meine Eltern bekommen nichts ab!"
„Meinst du nicht, dass deine Eltern dann ganz traurig sein werden?"
„Sie haben doch selbst schuld. Sie hätten doch ihren Stiefel putzen und vor die Tür stellen können. Dann hätten sie auch was bekommen."
Ich muss mich zusammenreißen, nicht etwas zu lachen. „Aber deine Eltern teilen doch auch mit dir. Und ich bin mir sicher, sie werden sich genauso sehr darüber freuen wie du, wenn du mit ihnen teilst."
„Na gut, vielleicht bekommen sie einen kleinen Goldtaler", gibt er sich geschlagen und bemalt seine Kugel weiter mit der grünen Farbe.
Ich rede noch weiter mit den Kids über belanglose Sachen und helfe manchen, einen Schneemann oder ein Herz auf die Acrylkugel zu malen. Nie hätte ich gedacht, dass ich so in dieser Tätigkeit aufgehen würde, aber ich könnte das stundenlang tagelang machen. Jetzt freue ich mich noch mehr, bald mit meinem Lehramtsstudium fertig zu werden und endlich in die Praxis einzusteigen. Was bringt mir schließlich die ganze Theorie, wenn ich gar nicht weiß, ob ich sie auch umsetzen kann? Es ist so wichtig, rücksichts- und verständnisvoll mit Kindern umzugehen, wobei eine gewisse Strenge aber auch nicht fehlen darf. Sie sind die Zukunft von morgen, die unersetzlich ist.
„Du und dein Freund seid so süß", meint das blonde Mädchen, welches sich als Mirella vorgestellt hat, auf einmal, während ich ihr helfe, einen Papierstreifen durch die dafür vorgesehene Lasche zu schieben.
„Oh, danke", erwidere ich verlegen, ohne sie anzuschauen, „aber er ist nicht mein Freund." Und wahrscheinlich wird er es auch niemals werden.
„Warum steht er dann in die Eingangstür und starrt dich aus seinen Herzenaugen an? Er sieht gerade aus wie Kristoff aus der Eiskönigin. Nur mit dunklen Haaren."
„Was?" Aufgeregt schaue ich vom Stern hoch zur Tür und wirklich – dort steht Gabriel. Unsere Blicke treffen sich und er beginnt, unsicher zu lächeln und leicht zu winken.
Unbeholfen winke ich mit der Hand, die den Fröbelstern hält.
„Ich frag einfach Elise", sagt Mirella, während sie mir die gefalteten Papierstreifen aus der Hand nimmt und aufsteht.
Ich tue es ihr gleich, während der große Mann langsam auf mich zu kommt.
„Hey, äh – hast du kurz Zeit zum Reden?"
„K-klar, komm' mit", meine ich und ziehe in mit auf die Kanzel, damit uns niemand stören kann.
„Also", nervös atmet er aus, „erstmal möchte ich dir das hier geben." Aus seinem schwarzen eleganten Rucksack holt er eine rote Weihnachtssocke heraus, die oben zugebunden ist. „Als Geschenk zu Nikolaus. Deswegen habe ich gestern auch nur deine Empfehlungen gekauft."
„Oh wow, das ist –"
„Ich bin noch nicht fertig. Wenn du mich jetzt unterbrichst, traue ich mich wahrscheinlich nicht mehr. Es tut mir leid, dass ich so pampig auf deine Einladung reagiert habe. Ich habe keinerlei positive Erfahrungen mit Kirchen gesammelt, also wollte ich sie nicht mit dir verbinden. Du hast nur Positives verdient. Aber ich habe weitergedacht und vielleicht ist es an der Zeit, gute Erinnerungen in einer Kirche zu sammeln. Heute."
„Gabriel, das –", will ich ihn unterbrechen. Ich halte es kaum noch aus, nichts dazu zu sagen.
„Und es tut mir leid, dass ich dich so abserviert habe, nachdem du mich gefragt hast, ob ich noch mit reinkommen möchte. Ich war schlichtweg überfordert und wusste nicht, was das bedeutet. Jetzt habe ich mich aber gesammelt u-und wollte fragen, o-ob das Angebot noch steht?
Überfordert von dem, was er gerade alles gesagt hat, stehe ich nun unbeholfen mit der Socke vor einem aufgeregten Gabriel, der mir gerade sein Herz ausgeschüttet hat und auf eine Antwort wartet, die ich so schnell aber nicht zusammensuchen kann.
„Sorry, das war dumm", murmelt er und dreht sich um.
Als der die erste Treppenstufe nehmen wollte, komme ich wieder zu mir und halte ihn am Arm zurück. „Warte! Ja, natürlich steht das Angebot noch. Ich würde mich freuen. Freitag um 18 Uhr?" Da habe ich sturmfrei, füge ich noch in Gedanken hinzu. Er muss ja nicht unbedingt wissen, dass ich mit ihm komplett alleine sein will. Aber ich höre schon die Worte meines Mitbewohners, wenn ich mit Gabriel nach Hause komme und darauf möchte ich erstmal noch verzichten.
„Das klingt gut. Soll ich irgendwas mitbringen?"
„Nein, du reichst mir", flüstere ich und fahre mit meiner Hand vorsichtig seinen Arm entlang.
Gabriel kommt mir noch etwas näher, falls das überhaupt noch möglich ist, und will gerade zum Reden ansetzen, doch da wird er von einer hellen Stimme unterbrochen, die laut meinen Namen ruft.
Ich entferne mich von ihm und lache. Das musste ja passieren. „Du kannst gerne bleiben. Wir essen gleich Tomatensuppe und ich lese eine Weihnachtsgeschichte vor."
Er grinst und geht die Treppe der Kanzel hinunter, um sich mit in den Sitzkreis zu setzen. Kaum hat er sich hingesetzt, wird er auch schon von den Kindern in ein Gespräch verwickelt, in dem er aufzugehen scheint. Es sieht aus, als hätte er nie etwas anderes gemacht.
„Hannes?" Ich lasse von meinem Rucksack ab, in den ich gerade vorsichtig die rote Socke gelegt habe und sehe den kleinen Jungen mit roter Brille fragend an.
„Was gibt's, Jakob?"
Unglaubwürdig schaut er mich an. „Du-du hast dir meinen Namen gemerkt?"
„Ja, natürlich."
„Naja, ich bin nicht besonders auffällig und da dachte ich...", erzählt er mir traurig, bricht aber seinen Satz ab.
„Hey, komm' mal her." Ich knie mich vor ihn hin, um mit ihm auf Augenhöhe zu sein, und packe ihn an seinen Oberarmen. So wie mein Vater es immer vor einem Fußballspiel von mir getan hat, ehe er mir gesagt hat, ich würde sie fertig machen. „Du bist ruhig, das stimmt. Aber das nicht schlimm. Und macht dich nicht weniger auffällig als andere, okay? Mir ist zum Beispiel aufgefallen, dass du immer mit einem Finger deine Brille hochschiebst, wenn du aufstehst, obwohl sie fest auf deine Nase sitzt und das deshalb gar nicht nötig ist." Ich lächle ihn an, was auf ihn über geht. „Du bist gut so, wie du bist, ja? Lass' dir von niemandem etwas anderes einreden."
„Danke", sagt er gerührt und wischt sich eine Träne von seiner Wange. Ich wühle kurz in meinem Rucksack, ehe ich ihm ein Taschentuch gebe. „Kannst du mir helfen, das Band durch das Loch zu ziehen?", fragt er mich nun und zeigt mir seinen Fröbelstern. „Ich möchte ihn als Kette tragen."
„Ja, klar, zeig' mal her."
Nachdem ich Jakob geholfen habe, gehe ich zu meiner Oma, die an einem Tisch steht, auf dem sich ein großer Topf Tomatensuppe und viele tiefe Teller stehen. Während wir diese nun befüllen, kann ich beobachten, wie Gabriel ausgelassen mit den Kindern lacht, wie er Grimassen schneidet, wie er Mirella Hasenohren mit seiner Hand verpasst. Ich erwische ihn sogar dabei, wie er einen lila-roten Fröbelstern geschenkt bekommt und dabei tatsächlich sehr gerührt aussieht.
„Ich habe übrigens auch noch was für dich", erzähle ich Gabriel, nachdem alle Kinder abgeholt wurden, wir uns noch etwas mit den Eltern unterhalten haben, dann den Rest aufgeräumt haben und nun an unseren Rucksäcken stehen, um unsere Jacken anzuziehen. Nervös hole ich eine kleine goldene Dose in Form eines Herzes, die ich mit meinen Lieblingssüßigkeiten gefüllt habe, heraus und gebe sie dem Braunhaarigen.
„Oh Hannes, danke", nimmt er die Dose gerührt an. „Aber warum hattest du sie dabei? Ich habe doch eigentlich gesagt, dass ich nicht herkommen würde."
„Ich hatte Hoffnung, dass du es dir anders überlegst."
Ehe ich mich versehen kann, hat Gabriel die Dose auf die Kirchenbank neben seinen Rucksack gestellt und mich in eine feste Umarmung gezogen, aus der ich mich bitte nie wieder lösen möchte. Sanft fahre ich mit meinen Händen seinen Rücken hoch und runter, um ihm zu zeigen, dass ich ihm wirklich verziehen habe.
fröhlichen Nikolaus :))
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top