fünfzehn

Ich liege schon den gesamten Nachmittag mit Gabriel in meinem Bett. Als er angekommen ist, haben wir uns eine Dose Gemüseravioli warm gemacht und uns anschließend direkt in mein Bett verfrachtet, welches zum Glück von Sauce verschont geblieben ist. Seitdem läuft The Big Bang Theory auf meinem Laptop. Bei dieser Serie sind wir uns ausnahmsweise mal einig, dass die brillant ist. Wir sind uns auch darin einig, dass wir eine Pause von der Uni und jeglichen anderen Aktivitäten brauchen. Nur essen, schlafen und Serien schauen. Ab und zu auch mal etwas trinken, auf die Toilette gehen und knutschen.

Gabriel liegt friedlich mit dem Kopf auf meinem Schoß, sodass ich verträumt mit einer Kordel seines Hoodies mit der Aufschrift Abitur 2017 – wer sich erinnern kann, war nicht dabei spielen kann. Sheldon, Leonard, Penny, Amy, Howard, Raj und Bernadette haben schon längst meine Aufmerksamkeit verloren.

„Ich habe voll vergessen, dich das zu fragen", unterbreche ich die Stimme der Physiker, woraufhin die Augen des Braunhaarigen auf mich gerichtet sind. „Ich bin am Sonntag bei meinen Großeltern zum Essen eingeladen und wollte fragen, ob du mitkommen möchtest? Meine Oma hat auch geschrieben, dass ich jemanden mitbringen kann, du bist also herzlich willkommen. Außerdem kennt ihr euch ja auch schon."

Mein Freund schließt die Augen und schnaubt einmal laut aus. Er wendet seinen Blick gen Decke. „Nein, möchte ich nicht."

„Oh, okay", erwidere ich enttäuscht und lasse die Kordel langsam sinken. Zugegebenermaßen habe ich mit einer anderen Antwort gerechnet. „Gibt es da einen spezifischen Grund?" Ich versuche, mich langsam heranzutasten. Es ist immerhin nicht wieder das Weihnachtsthema. Zumindest steht es nicht im Mittelpunkt.

Der Braunhaarige setzt sich auf, sodass wir uns besser angucken können. „Ich bin nicht so der Fan dieser ganzen Familienkacke. Man tut auf Friede Freude Eierkuchen, obwohl es das gar nicht ist."

Verständnislos schaue ich ihn an. „Also wenn bei uns nicht alles Friede Freude Eierkuchen ist, reden wir darüber", erzähle ich ihm langsam.

Er lacht einmal hysterisch auf. „Das glaubst du doch selbst nicht. Gerade an Weihnachten macht man auf heile Welt. Wozu? Damit man nicht zugeben muss, dass man selbst Probleme hat und nicht nur die anderen? Damit man von sich selbst ablenken kann?"

Und da sind wir wieder bei Weihnachten. „Nein. Damit man einmal all seine Probleme vergessen kann. Ein Tag im Jahr, in dem alle lieb und nett zueinander sind, egal, wie sehr man sich hasst. Ist das nicht schön?", versuche ich, ihm meine Sicht zu erklären, während ich kleine Kreise auf seine Hand male, mit der er sich auf der Matratze abstützt.

„Ihr gaukelt euch was vor. Das ist bei niemandem so." Er zieht seine Hand unter meiner weg und steht schnell auf.

„Du kennst meine Familie doch gar nicht. Warum urteilst du so schnell schon über sie?", frage ich, während ich aufstehe, um mein Bett herum zu ihm gehe und seine Hände in meine nehme. „Außerdem ist Weihnachten die Zeit der Wunder. Sonntag könnte deins sein."

„Das ist die größte Kinderkacke, die ich je gehört habe. Wunder existieren nicht, Hannes. Check das mal!" Mit diesen lauten Worten fliehen seine Hände aus meinen und er schaut mich wütend an. Bis vor ein paar Sekunden dachte ich wirklich, dass wir vernünftig darüber reden könnten und Gabriel mir eventuell erzählt, was in seinem Kopf vorgeht, doch er blockt komplett ab und nimmt Weihnachten als Schutzschild.

„Und wenn wir so tun, als hätte das Essen nichts mit Weihnachten zu tun?", versuche ich es weiterhin ruhig.

„Es hat doch auch nichts damit zu tun! Hörst du mir eigentlich zu? Dieses ganze Familiengetue kotzt mich einfach an. Zu jeder Jahreszeit."

„Und hast du mir nicht zugehört? Bei uns gibt es kein Familiengetue!", allmählich schaffe ich es nicht mehr, ruhig zu bleiben, während Gabriel fast das ganze Haus zusammenbrüllt. „Warum gehst du direkt davon aus, dass es bei uns so ist?"

„Weil es bei jedem so ist." Der Braunhaarige guckt mich schon gar nicht mehr an, sondern tut so, als wäre mein Regal das interessanteste der Welt.

Was ich jetzt sage, könnte alles zum Einstürzen bringen. „Nur weil es bei dir so ist, heißt es nicht, dass es bei allen so ist!"

Kurz schaut Gabriel mich nun doch an. Geschockt und irgendwie ertappt. Bis sein Pokerface seine Emotionen wieder überschminkt. „Du hast doch überhaupt keine Ahnung von meinem Leben!"

„Du redest ja auch nicht mit mir!", ich werde immer lauter und die Richtung, in die dieses Gespräch driftet, gefällt mir ganz und gar nicht. Also versuche ich, wieder zurückzurudern. „Was okay ist. Wirklich, es ist okay. Meine Handlungen sagen was anderes, ich weiß, ich arbeite dran. Aber dann wirf mir doch das alles nicht vor!" Leider hat mein Zurückrudern kaum funktioniert.

„Ich habe mich viel zu schnell auf dich eingelassen", sagt er auf einmal völlig zusammenhangslos. „Ich wusste von Anfang an, dass das ein Fehler ist!", schreit er mich an und mir bleiben meine Worte im Hals stecken. Schockiert reißt er seine Augen auf.

„Okay" erwidere ich nun ruhig, als wäre es mir egal. Dabei gebe ich gerade mein Bestes, nicht in Tränen auszubrechen. „Dann verschwinde aus meiner Wohnung."

„Hannes –", sagt er sanft und kommt auf mich zu.

„Nein, nichts Hannes. Wenn es ein Fehler ist, dann halte ich dich auch nicht auf, zu gehen. Weißt du was, ich helfe dir sogar." Meine Stimme wird immer brüchiger, als ich an ihm vorbei zur Haustür rausche und diese aufreiße. Ich schaue ihm nicht einmal mehr in die Augen. Die Angst, dass mein Herz zu ihm flieht und ich es nicht wiederfinde, ist zu groß.

Ehe er ins dunkle Treppenhaus verschwindet, versucht er, mir noch einmal in die Augen zu gucken, doch ich bleibe stark und schaue nur auf den Bogen.

„Ich wollte das nicht sagen", höre ich ihn noch traurig flüstern, als er wirklich über die Schwelle meiner Tür tritt.

Ich lasse sie so lange offen, bis ich unten die Tür leise ins Schloss fallen höre, um sicher zu gehen, dass er auch wirklich weg ist. Als ich es höre, laufen mir die Tränen, die ich zurückgehalten habe, alle auf einmal die Wangen hinab. Der Versuch, mein Herz bei mir zu behalten, ist kläglich gescheitert, denn ich spüre ein großes schwarzes Loch in meiner Brust.

Wie konnte ich nur glauben, dass zwischen uns keine Eiseskälte, sondern Sommer herrscht. Wir haben Winter. Naja, fast. Aber wir haben Kälte, Schnee, Eis überall – es war alles vorprogrammiert. Nur ich wollte es mal wieder nicht wahrhaben, weil ich dachte, dass es dieses Mal wirklich funktionieren könnte. Aber das tut es nicht. Vielleicht bin ich auch einfach noch zu jung, um das alles zu verstehen.

Aber eins verstehe ich: Gabriel hat recht – Wunder existieren nicht.

wer von den beiden hat recht?

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top