fünfundzwanzig

Am nächsten Morgen werden wir viel zu früh von unseren Handyweckern aus dem Schlaf gerissen. Es ist erst 7 Uhr. Aber dass wir immer noch miteinander umschlungen sind, lässt den heutigen Morgenmuffel in mir wieder verschwinden. Mein Freund hat sich an meinem nackten Oberkörper nahezu festgeklammert, während ich seinen Oberarm festhalte und ihn sacht streichle, um ihn zu wecken.

„Wir müssen aufstehen", flüstere ich.

Von Gabriel kommt nur ein verschlafener Laut, ehe er mich noch fester festhält. Ich dachte nicht, dass das möglich ist. Die Versuchung, einfach wieder die Augen zu schließen, zu schlafen und der Welt zu entfliehen, ist enorm. Aber spätestens um 10 Uhr würden wie sowieso rausgeschmissen werden. Also versuche ich, mich langsam aus seinem Griff zu lösen und aufzustehen, was sich gar nicht so einfach gestaltet, wie ich dachte. Seine trainierten Arme sind nicht nur eine Attrappe, sie können einen wirklich festhalten.

Nach meinen Überredungskünsten, die eigentlich nur aus etlichen Küssen bestehen, lässt er mich ins Badezimmer gehen. Erst dort fällt mir auf, dass ich weder ein Shirt noch eine Unterhose trage. Sofort kommt mir die gestrige Nacht in den Sinn, die gerade mal ein paar wenige Stunden her ist. Ich kann fast noch immer seine Lippen auf meinem Bauch und seine Hände an meinen Oberschenkeln spüren.

Dümmlich grinsend sitze ich auf der Toilette. Zu sagen, dass es toll war, wäre eine Untertreibung. Selbst unbeschreiblich wäre ein zu schwaches Wort. Ich glaube, kein Wort in keiner Sprache könnte beschreiben, wie gut ich mich gerade fühle. Ich hoffe, Gabriel geht es auch nur annähernd ähnlich.

Nach einem schnellen Waschen, Sachen packen und frühstücken, sitzen wir pünktlich um 8:20 Uhr im ICE nach Hamburg. Anders als ich dachte, ist der Zug überraschend voll. An den Gesichtern erkenne ich den Stress der anderen Menschen. Diesmal sitzen wir zum Glück nur in einem Doppelsitz, sodass uns niemand anquatschen kann. Nicht, dass wir nicht gerne mit Gerda und Gunnar geredet haben, aber jetzt wollen wir unsere Ruhe. Beziehungsweise nur die Anwesenheit des anderen.

„Eigentlich fahre ich erst heute nach Hause. Weil in Hamburg bist du", sagt mein Freund eher zur Landschaft, die in Blitzgeschwindigkeit an uns vorbeirauscht, als zu mir. Trotzdem fühlen sich seine Worte so an, als hätte er sie mir ins Ohr geflüstert. Nun dreht er sich aber doch zu mir. „Und überall, wo du bist, fühle ich mich zu Hause."

Meine Mundwinkel zucken willkürlich nach oben. Ich kann mein Grinsen und vor allem meine Freude nicht verbergen. „Das – wow, bedeutet mir echt viel", erwidere ich leise. „Ich fühl mich genauso, wenn ich bei dir bin."

Mein Freund erwidert mein Lächeln, ehe er sich wieder der Landschaft zuwendet.

Die meiste Zeit der Fahrt hole ich Schlaf nach, während Gabriel den gestrigen Tag Revue passieren lässt und darüber nachdenkt, ob er seiner Familie noch eine Chance geben soll oder ob gestern ein Zeichen war, sie zu vergessen und eine eigene Familie zu gründen.

Kurz vor Hannover werde ich wach und sehe, wie er mich glücklich anguckt. Beziehungsweise schnell wegguckt, als er merkt, dass ich wach geworden bin.

„Ich hab' gesehen, dass du mich angestarrt hast", lache ich verschlafen und reibe meine Augen. „Wie ein kranker Stalker."

„Sei still", lacht er. „Ich hab' mir Gedanken über gestern gemacht", erzählt er nun ernst, woraufhin ich mich aufrecht hinsetze. Als könnte ich ihm dann noch besser zuhören. „Zu meiner Mutter und meinen Geschwistern werde ich den Kontakt auf jeden Fall halten. Höchstwahrscheinlich auch zu meinem Vater. Ich weiß mittlerweile auch gar nicht mehr, warum ich ihn nicht früher gesucht habe. Sie haben mir nie irgendwas angetan oder so. Klar, sie haben viel gestritten, gerade an Weihnachten, aber nicht meinetwegen. Anscheinend kommen sie auch wieder ganz gut miteinander aus. Erst war Mama sauer, dass er einfach so gekommen ist, aber zum Ende hin sahen die beiden echt friedlich aus. So wie früher. Es waren viel mehr meine Großeltern, die mich durch ihr Unverständnis von meinen Eltern entfernt haben und mich glauben lassen, dass sie ebenfalls denken, ich wäre falsch. Aber eigentlich waren es nur meine Großeltern. Ich meine, ich war erst 17, als das alles passiert ist und wahrscheinlich war mein Teenager-Ich nicht offen für Gespräche, wollte einfach nur weg von zu Hause und glücklich werden. Und akzeptiert werden."

„Oh, das klingt gut. Dann war gestern ja nicht nur katastrophal, sondern auch lehrreich. Vielleicht können wir deine Eltern im neuen Jahr nochmal besuchen. Ohne deine Großeltern."

„Das würdest du dir nochmal antun?"

„Klar, warum nicht? Deine Eltern waren doch lieb und ich hab' mich gut mit ihnen verstanden. Und ich glaube, sie fanden mich auch ganz gut."

Als ich die Tür meines Elternhauses aufschließe, schallt uns direkt Weihnachtsmusik gemischt mit Kindergeschrei um die Ohren. Wahrscheinlich hat man gar nicht gehört, dass jemand das Haus betreten hat.

„Meine Tante hat Drillinge", kläre ich Gabriel auf, während wir unsere Jacken ausziehen.

„Oh", ist alles, was er dazu sage, ehe er seine Schnürsenken öffnet. Ich meine, Überforderung in seinem Blick gesehen zu haben.

„Keine Sorge, die sind putzig", erwidere ich und ziehe ihn an der Hand weiter ins Haus.

„Wir sind zu Hause!", rufe ich durch das Wohnzimmer, welches mit dem Esszimmer und der Küche verbunden ist. „Fröhliche Weihnachten!"

Die Drillinge schauen sofort von ihrem Plätzchenteig auf dem Esstisch auf und rufen freudig meinen Namen wie aus einem Mund, ehe sie versuchen, auf mich zuzurennen und mich zu umarmen. Besser gesagt, sich an meinen Beinen festzuhalten.

„Ja, ich hab' euch doch auch vermisst", sage ich, als ich mich zu den Jungs herunterhocke, um sie ordentlich knuddeln zu können.

„Und du musst Gabriel sein", höre ich meine Mutter neben mir und erkenne aus einem Augenwinkel, wie sie meinen Freund direkt umarmt. „Ich bin Annette."

„Freut mich", erwidert der Braunhaarige nervös. „Oh, und frohe Weihnachten."

Gabriel wird direkt von allen freundlich empfangen. Ich sehe an seinem Gesicht, dass er genau das jetzt braucht. Das Gefühl, willkommen zu sein. Vor allem mit Jana versteht er sich gut. Und das ist sehr gut. Meine Schwester ist die größte Kritikerin. Leider hat sie aber meistens auch recht.

„Ich hab' doch letztens bei Oma und Opa von ihm gesprochen, erinnert ihr euch?", frage ich meine Cousins, die ihn noch nicht so ganz einordnen können. Ich sehe, wie es in ihren kleinen Köpfen rattert, bis sich erst Antons, dann Emils und schließlich auch Oskars Blick erhellt.

„Du hast versprochen, dass er mit uns spielt!", ruft Emil. Das ist wohl alles, was er sich gemerkt hat. Aber auch okay. Sie sind schließlich erst drei.

Entschuldigen sehe ich Gabriel an, doch ihn scheint das nicht zu stören. Stattdessen lächelt er die drei an.

Für Emil und Anton scheint die Unterhaltung vorbei sein, denn sie gehen zurück zu meiner Mutter und meiner Tante, um weitere Plätzchen auszustechen und wahrscheinlich auch Teig zu essen. Doch Oskar bleibt grübelnd vor uns stehen. „Das heißt, ihr mögt euch so doll, wie Mama und Papa?"

„Äh", ist alles, was ich aus meinem Mund bekomme. Hilfesuchend schaue ich meinen Freund an.

„Ja, wir mögen uns genauso wie eure Eltern", antwortet dieser selbstbewusst.

Warte, was? Hat er gerade indirekt gesagt, dass wir uns lieben? Ich meine klar liebe ich ihn, aber ich dachte nicht, dass er das auch schon so klar definieren kann.

„Apropos Eltern, wo ist eigentlich Michael?", frage ich in die Runde. Vielleicht auch nur, um vom Thema abzulenken. Darüber würde ich nämlich gerne mit Gabriel allein sprechen.

„Der ist bei seinen Eltern. Eigentlich sollten die Kinder auch mit, aber sie wollten dich unbedingt sehen. Die haben keine Diskussion zugelassen", erzählt meine Tante amüsiert.

Als auch das geklärt wurde, setzen wir uns alle an den Esszimmertisch und helfen den Kindern beim Ausstechen.

Nachdem mein Freund kurz auf die Toilette verschwunden ist, nutzt meine Schwester den Moment und setzt sich auf seinen Platz neben mir.

„Der hat dir aber ordentlich den Kopf verdreht", stellt sie fest, während sie mit der Tannenbaumform in den Teig sticht, als würde sie mit mir über das Wetter reden.

„Mmh vielleicht", nuschle ich verlegen und lege einen Stern aus Teig auf das Backpapier.

„Jetzt sei doch nicht so schüchtern", lacht Jana. „Ich freu mich doch für dich. Wir alle tun das. Immerhin heulst du uns jetzt nicht mehr die Ohren von deinem Singledasein voll. Das war ja schon fast peinlich."

Empört schaue ich sie an.

„Ich sag' nur die Wahrheit!", verteidigt sie sich. „Aber er ist echt cool, wehe du versaust das."

„Was ist denn eigentlich mit dir?", frage ich und stütze interessiert meinen Kopf mit einer Hand ab. Einerseits interessiert es mich wirklich, aber andererseits kann ich ihr mit der Frage auch gut eins auswischen.

„Netter Versuch, Bruderherz, aber ich bin erst 16."

„Also genau in dem Alter, in dem man beginnt, manche Menschen auf eine andere Art interessant zu finden."

„Ne, lass mal stecken. Ich hab' meine Freundinnen und vor allem Vanessa, mit denen bin ich wunschlos glücklich."

„Na gut, ich lass das mal so stehen, obwohl ich glaube, dass du mir eine gewisse Sache einfach nur nicht erzählen möchtest."

Daraufhin zeigt Jana mir unter dem Tisch kurz den Mittelfinger.

Nach dem Essen ist es Gabriel, der auf dem Boden mit den Kindern spielt. Ich bin offensichtlich abgeschrieben. Sowohl bei meinem Freund als auch bei meinen Cousins. Zufrieden schaue ich den vieren zu, wie sie mit Paw Patrol Figuren spielen. Ich bin froh, dass Gabriel nach dem ganzen Trouble nun doch ein ehrliches Lächeln im Gesicht trägt, das seine Augen berührt.

So kann ich mich auch in Ruhe mit meinen Eltern, meiner Schwester und meiner Tante unterhalten und die Plätzchen als Nachtisch essen, obwohl ich immer noch satt vom Fondue bin. Da merke ich erst, wie sehr mir meine Eltern und Jana eigentlich gefehlt haben. Während der Uni merke ich das selten, weil ich mit anderen Dingen beschäftigt bin und gar nicht dazu komme, darüber nachzudenken. Wir wohnen zwar nicht sonderlich weit auseinander, aber weit genug, dass man sich, wenn es gut kommt, nur jeden zweiten Monat sieht.

Während im Fernsehen Kevin allein in New York läuft, genießen wir die Zeit. Nach dem Film entscheiden wir uns dazu, nach oben zu gehen, um zu schlafen. Oder einfach Ruhe zu haben. Emil, Anton und Oskar sind schon in der Mitte des Films auf der Couch eingeschlafen und auch Gabriel hat sich mit geschlossenen Augen an meine Schulter gelehnt.

Mein Freund und ich übernachten in meinem alten Kinderzimmer. Immer, wenn ich es betrete, fühle ich mich wieder, als wäre ich 16. Zwischen den Bildern mit meinen Freunden hängen ein paar Poster von Shawn Mendes und One Direction sowie sämtliche Konzertkarten und Bilder mit Zitaten, die mich damals aufgebaut haben.

„Ich hab' übrigens noch was für dich", sage ich verlegen und hole die in Geschenkpapier eingepackte Spielesammlung aus meinem Koffer.

„Wie?"

„Na, ein Weihnachtsgeschenk", lache ich.

Mein Freund sieht mich immer noch so an, als würde ich in einer Fremdsprache mit ihm sprechen, während er das Geschenk an sich nimmt. „Das – ich hab' überhaupt nichts für dich."

„Das ist das Erste, was dir dazu einfällt?", frage ich amüsiert. „Mir geht es nicht darum, Geschenke auszutauschen oder sich irgendwie zu revanchieren; ich will dir einfach nur eine Freude machen. Du musst mir nichts schenken."

„Du hast recht, sorry. Danke", erwidert er leise, unwissend, was er sagen soll. „Das bedeutet mir echt viel, ich hab' ewig nichts mehr geschenkt bekommen. Zumindest nicht zu Weihnachten."

Ich beobachte jede einzelne Bewegung und alle Gesichtszüge, während er das Geschenkpapier löst. Er ist ganz vorsichtig, reißt das Papier nicht einfach ab und seine Gefühle wechseln von Angst zu Freude. Als er sieht, was ich ihm geschenkt habe, kann er seinen Augen nicht trauen. Ungläubig schaut er zwischen der Spieleverpackung und mir hin und her. „Das ist nicht dein Ernst?!"

Ich nicke stark. „Oh doch."

Daraufhin umarmt er mich fest. „Du hast dir gemerkt, dass wir früher viel gespielt haben? Oh man, womit habe ich dich nur verdient?"

„Das frage ich mich auch. Ich bin viel zu großartig", erwidere ich ironisch selbstgefällig.

Mit einem sarkastischem „ist klar", löst er sich wieder von mir. „Wollen wir eine Runde Mensch ärgere dich nicht spielen?" Aus leuchtenden Augen guckt er mich an.

„Klar."

Wir spielen mindestens fünf Runden, die mein Freund alle gewinnt, wobei ich der Meinung bin, dass er insgeheim schummelt. Er streitet es immer ab, aber ich kann sein Gesicht lesen. Ich kann mir zwar auch nicht erklären, wie man bei diesem Spiel schummeln könnte, aber Gabriel scheint ein Profi zu sein.

„Der Spieltitel sagt es doch schon: du sollst dich nicht ärgern. Egal, ob ich dich kurz vorm Haus doch noch rausschmeiße." Selbstgefällig grinst er.

Warum habe ich mich nochmal dazu entschieden, ihm das zu schenken? Aber ich merke, wie er sowie sein Kindheits-Ich aufgehen und das ist es mir mehr als wert.

„Was ich dich noch fragen wollte", beginne ich langsam und schüchtern, während ich meine Spielfigur um drei Plätze verrücke. „Weißt du noch, was du heute Nachmittag zu Oskar gesagt hast?"

Nach dem Würfeln schaut er mich unwissend an.

„Dass wir uns genauso mögen, wie seine Eltern...?", helfe ich ihm auf die Sprünge und versuche, Augenkontakt herzustellen. Kurz erwidert er ihn, jedoch nur, bis er versteht, was ich meine.

„Ach so... das...", verlegen fährt er sich mit einer Hand in seinen Nacken und steht schon fast panisch auf, bevor er seine Spielfigur bewegen konnte, die mich rausgeschmissen hätte. „Das hab' ich doch nur gesagt, damit er checkt, dass wir ein Paar sind."

Er hat sich mit dem Rücken zu mir ans Fenster gestellt. Langsam gehe ich auf ihn zu und umarme ihn von hinten.

„Schade", flüstere ich in sein rechtes Ohr, ehe ich mich dem Linken zuwende. „Ich liebe dich nämlich auch."

Erstaunt dreht er sich um und schaut mir diesmal direkt in die Augen. Die Umarmung bleibt aber bestehen. „Du – was?" Er scheint mir kein Wort zu glauben.

„Ist das so unrealistisch?", lache ich. „Ich liebe dich, Gabriel."

„Oh Gott, Hannes", kommt es erleichtert von ihm, ehe er mir um den Hals fällt und meine Hände sich fester um seine Taille legen. „Ich liebe dich so sehr."

nach nem halben Jahr kommt dann auch mal das letzte Kapitel upsi 👉🏽👈🏽
morgen noch der Epilog und dann haben wir's! :)

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