fünf

Nach den endlosen Vorlesungen lasse ich es mir heute nicht nehmen, noch im nächsten Supermarkt vorbeizuschauen, um ein paar Süßigkeiten für Nikolaus zu kaufen. Mir ist aufgefallen, dass ich noch so gut wie nichts an Süßem für die Weihnachtszeit habe. Und das ist eins der besten Dinge im Dezember. Schokolade, Lebkuchen, Plätzchen, Christsollen... ich könnte die Liste ewig weiterführen.

Vielleicht habe ich mir auch vorgenommen, Gabriel etwas zu schenken, um ihm eine Freude zu machen. Aber dann will ich wirklich nach Hause. 10 Stunden in der dunklen Uni sitzen und einer eintönigen Stimme zu hören, macht echt keinen Spaß mehr.

Als ich den Supermarkt betrete, umfasst mich direkt eine wohlige Wärme. Da ich so wenig Zeit wie möglich hier verbringen möchte, suche ich den direkten Weg zum Süßkram auf. Da es zum Glück schon relativ spät ist, sind nicht mehr viele Kunden im Markt unterwegs, sodass ich in Ruhe stöbern kann, ohne gesagt zu bekommen, ich solle weggehen oder mich beeilen. Oder ich werde einfach weggeschubst. Ich habe gemerkt, dass Menschen in dieser Zeit zu allem fähig sind.

Ich gehe am Obst und Gemüse vorbei, an den Backwaren, an der Frischetheke und versuche, mich nicht ablenken zu lassen. Aber als ich in den Gang mit den Weihnachtsartikeln einbiege, traue ich meinen Augen nicht. Ein paar Meter von mir entfernt steht Gabriel und liest sich gerade die Zutatenlisten der Lebkuchen und Zartbitterschokoladenummantelung durch.

„Was machst du denn so spät noch hier?", begrüße ich ihn. In seinen Augen steht der Schock geschrieben und schnell stellt er die Packung zurück ins Regal. Sein Blick sagt, ich hätte ihn bei etwas ertappt.

„Äh, einkaufen? Hatte bisher noch keine Zeit", erwidert er, doch ich merke, dass das nicht ganz die Wahrheit ist, frage aber nicht weiter nach, da ich ihn nicht noch mehr in Verlegenheit bringen möchte.

„Okay", lache ich und lasse ihm im Glauben, ich würde ihm es abkaufen, während ich näher an ihn trete, um mir ebenfalls das Lebkuchensortiment anzuschauen. „Die sind sehr gut." Ich zeige auf die rote Packung, die er vorhin schon in der Hand gehalten hat.

„Ja? Dann nehme ich die wohl mit. Muss mich schließlich selber überzeugen."

„Glaubst du mir etwa nicht?"

Er grinst nur schulterzuckend und legt die Packung in seinen Korb. Ich hätte mir vielleicht auch einen Korb mitnehmen sollen, aber mein naives Ich dachte, ich würde nur so viel kaufen, wie ich auch mit den Händen tragen kann.

Plötzlich höre ich I don't want a lot for Christmas, there is just one thing I need aus den Lautsprechern, die irgendeinen Radiosender spielen und schon muss ich unwillkürlich grinsen. Am liebsten hätte ich jetzt lauthals mitgesungen. Meine kleine Schwester und ich sind früher zu dem Lied immer um den Weihnachtsbaum getanzt und haben wahrscheinlich völlig den falschen Text gesungen, weil wir noch kein Englisch konnten. Mann, wie ich sie und meine Eltern gerade vermisse.

„Ich liebe dieses Lied!" – „Ich hasse dieses Lied."

Geschockt schaue ich ihn an, obwohl ich eigentlich nichts anderes erwartet habe und eventuell mache ich jetzt etwas sehr Unschlaues, aber nach so einem langen Tag in der Uni und dann noch einen gutaussehenden Kerl vor mir zu haben, kann ich nicht mehr klar denken. Geschweige denn abwiegen, was gut und was schlecht ist. Was dumm und was schlau ist. Deswegen ziehe ich Gabriel seinen Korb aus der Hand, stelle ihn neben ihm auf dem Boden und schnappe seine nun freien Hände.

Ich suche in seinem Blick irgendetwas, das mir sagt, ich sollte sie lieber loslassen. Doch da ist nichts.

Also versuche ich nun, mit ihm zum Refrain von All I Want For Christmas Is You zu tanzen. Tatsächlich lässt er sich darauf ein, was dazu führt, dass wir quer durch die Süßigkeitenabteilung tanzen. Nicht im Takt und absolut nicht graziös, aber es macht unheimlichen Spaß.

Ich glaube, ich habe mich in den letzten Tagen noch nie lebendiger gefühlt als genau in diesem Moment. Einen kurzen Augenblick fühlt es sich so an, als würde sich die Welt in Zeitlupe bewegen und als wäre ein milchiger Schleier um uns gelegt worden. Ich sehe nur Gabriel – alles um uns herum ist verschwommen.

Und Gott, sein Lachen! Nicht nur sein Lächeln, sondern sein Lachen. Es ist aufrichtig und echt und breit und würde er nicht meine Hände festhalten, wäre ich schon auf den Boden gesunken. Er ist wunderschön. Außerdem kommt zum ersten Mal sein tiefes Grübchen auf der linken Gesichtshälfte zum Vorschein.

Jemand, der so lacht, kann nur schön sein. Von außen und von innen.

Und plötzlich will ich viel mehr über ihn wissen, als warum er so spät noch in der Stadt ist. Ich weiß fast gar nichts über ihn, aber auf einmal will ich alles wissen. Welche ist seine Komfortserie? Welche ist seine Lieblingssorte von Red Bull? Zu welchem Sport haben seine Eltern ihn als Kind gezwungen? Geht er lieber duschen oder baden? Geht er ins Fitnessstudio oder warum ist er so verdammt gut gebaut? Bei ihm interessieren mich sogar diese banalen Dinge.

Niemand kann mich gerade aus unserer wundervollen kleinen Welt, in der wir zusammen sind, herausholen.

Okay, außer vielleicht ein grimmiger Mitarbeiter, der uns fast aus dem Laden geschmissen hätte.

Letztendlich stehe ich tatsächlich mit einem riesigen Berg von Essen, den ich fast nicht tragen kann, in der Kassenschlange und warte, dass ich drankomme. Gabriel steht dicht hinter mir; er hat jedoch nur das mitgenommen, was ich ihm empfohlen habe.

„Das hat Spaß gemacht", flüstert er mir ins Ohr.

Leicht drehe ich mein Gesicht zu ihm, damit er mich hören kann. „Fand ich auch."

Kurz verliere ich mich in seine Augen, ehe uns die Menschen hinter uns darauf aufmerksam machen, dass wir bitte weitergehen sollen.

Nachdem wir bezahlt haben und wir wieder in der kalten Dezemberluft gelandet sind, fragt Gabriel mich schüchtern, ob er mich noch nach Hause bringen könne.

„Ja, das wäre schön."

„Du warst heute gar nicht auf dem Markt", stellt der Braunhaarige nach einiger Zeit Stille zwischen uns enttäuscht fest. Warte. Warum enttäuscht? Wollte er mich sehen?

„Ja, ich muss montags nie arbeiten – hab da von morgens bis abends Uni."

„Ach so, okay. Zum Glück sehen wir uns dann ja jetzt. Auch wenn's nur zufällig ist." Mein Herz schmilzt.

„Wie verbringst du Nikolaus?", frage ich ihn nun, um von meinem aufgeregten Herz abzulenken.

„Äh... so wie jeden anderen Tag auch? Morgen ist doch nichts Besonderes. Es ist nicht einmal ein Feiertag." Ich ziehe meine Augenbrauen misstrauisch hoch. Eigentlich habe ich aber nichts anderes erwartet. „Und du? Was machst du?", schiebt er noch hinterher, als er merkt, dass ich darauf nichts mehr erwidere.

„Ich habe morgen bis 15 Uhr Uni und danach bastle ich mit Kindern, erzähle Weihnachtsgeschichten und abends essen wir noch zusammen. Also falls du Lust hast, ab 16 Uhr bin ich in der Kirche zu finden."

„Wow wow wow, mal ganz langsam. Kirche? Sorry, aber ich setze keinen Fuß in die Kirche! Das kannst du knicken."

Warum ist er jetzt auf einmal so wütend? „Okay."

„Warum ist das nur für Kinder und nicht auch für Erwachsene? Es gibt auch Erwachsene, die gerne basteln und denen in dieser Zeit etwas fehlt", will er wissen und ich sehe, wie etwas in seinem Kopf klick macht.

„Manche Kinder sind dort auch mit ihren Eltern bzw. mit Menschen, die auf sie aufpassen. Natürlich können auch Erwachsene ohne Kinder kommen, jeder ist willkommen. Aber meistens sind es nur Kinder. Weil viele Eltern während der Weihnachtszeit noch mehr arbeiten müssen, ist das eine ganz gute Möglichkeit, den Kindern etwas Abwechslung zu bieten."

„Du bist echt zu gut für diese Welt." Und schon steht wieder ein einfühlsame Gabriel vor mir. „Ich kann Nikolaus nicht mehr besonders viel abgewinnen."

Ich antworte ihm nicht mehr, da es sich eher so angehört hat, als würde er mit sich selbst reden.

„W-willst du noch mit reinkommen?", höre ich mich fragen, als wir vor meiner kleinen Studenten-WG ankommen.

Ich blicke in ein überraschtes, aber auch überfordertes Gesicht. Ich hätte das nicht fragen sollen. „Ich äh – ne, ich muss langsam nach Hause, muss morgen früh raus und so." Und schon hat er auf dem Absatz kehrt gemacht ohne Verabschiedung und ohne, dass er sich noch einmal nach mir umdreht. Ich starre auf seinen Rücken, der sekündlich immer kleiner wird und mehr Abstand zu mir gewinnt. Scheiße. Ich schließe meine Augen und atme langsam ein und aus, ehe ich mich zur Tür drehe und sie aufschließe.

heute gibt es das Kapitel mal früher als sonst lol

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