eins

Nach langem Warten ist es endlich so weit: heute ist der erste Dezember.
Der Tag, auf den ich schon seit der ersten Januarwoche wieder hin fiebere.
Der Tag, ab dem sich die Welt für 26 Tage langsamer zu drehen scheint und irgendwie auch ein kleines bisschen besser wird.
Gleichzeitig ist er der Beginn der schönsten Zeit des Jahres – die Weihnachtszeit.

In der die Stadt aufgrund unzähliger Lichterketten und anderer Dekoration so schön bunt erleuchtet ist, dass man gar nicht bemerkt, wie dunkel es bereits ist, alle Menschen plötzlich gut gelaunt und hilfsbereiter als sind als sonst, sich alle lieben, die Familie um einen herum ist, es an jeder Ecke gebrannte Mandeln sowie selbstgemachte Plätzchen gibt und überall gut riecht. Nach Winter. Nach Weihnachten. Man kann sich an stürmischen Tagen zu Hause in die warme Decke kuscheln, Filme schauen und dabei zusehen, wie die Landschaft immer weißer wird.

Einfach alles ist wunderbar.

Das ist zumindest meine Sicht und die der Menschen um mich herum. Aber dieses Jahr sollte ich lernen, dass es nicht bei jedem so ist.

Voller Vorfreude verlasse ich das warme Unigebäude und begebe mich auf den Weg zum Weihnachtsmarkt in der Hamburger Innenstadt, auf dem ich in einem kleinen Getränkestand neben der Binnenalster ein paar Mal in der Woche arbeite. Auf solche Veranstaltungen freue ich mich ebenfalls das gesamte Jahr lang, denn hier kann ich meinem Leben und die damit verbundenen Probleme für kurze Zeit entfliehen und zeitlos sein.

Der liebliche Geruch von Bratäpfeln und Zimt steigt in meine Nase und verfestig sich, als ich den U-Bahnhof am Jungfeinstieg verlasse. Auf der Stelle befinde ich mich mitten auf dem Markt. Ich bin so glücklich, hier zu sein, dass mich nicht einmal die vierköpfige Familie vor mir nervt, wegen der ich wahrscheinlich zu spät zu meiner Schicht erscheinen werde, da sie ungeheuer langsam voranschreitet. Die beiden Kinder bleiben an jeder Bude stehen, die nur ansatzweise nach Essen aussieht, um zu fragen, ob sie etwas haben dürfen, was natürlich jedes Mal von den Eltern abgelehnt wird.

Sofort erkenne ich mich darin wieder, wie ich früher mit meinen Eltern und meiner kleinen Schwester in meiner Heimatstadt über unseren kleinen Weihnachtsmarkt geschlendert bin. Da ich in einer Kleinstadt aufgewachsen bin, hatten wir nur am ersten Adventswochenende die Innenstadt voller Getränke- und Essensbuden sowie Stände, die Dekoration, Adventskränze und Ähnliches verkauft haben. Ich kann mich noch gut daran erinnern, dass ich jeden Tag einen Crêpe essen durfte und es am Sonntag zum Abschluss gebrannte Mandeln gab.

„Na Hannes, auch mal hier?", werde ich direkt neckend von meinem Kollegen Valentin begrüßt. Eigentlich würde ich ihn sogar neben meiner besten Freundin Lotte zu einen meiner besten Freunde zählen. Als ich vor zwei Jahren zum ersten Mal hier gearbeitet habe, haben wir uns kennengelernt und uns sofort gut verstanden, dass wir auch außerhalb der Arbeit Zeit miteinander verbracht haben. „Ich dachte schon, ich muss die Schicht allein schieben."

„Tut mir echt leid", entschuldige ich mich hektisch, während ich mir meine braune Schürze umbinde. „Aber als ob ich mir auch nur einen Tag entgehen lassen würde. Valle, du kennst mich."

„Ich hau jetzt ab, bis morgen Jungs", verabschiedet sich unser Chef Herr Dahl.

„Jo, bis morgen."

Heute muss ich zur Stoßzeit um 18 Uhr arbeiten, da mein Stundenplan es leider nicht anders zugelassen hat. Dementsprechend gehen wir bis 21 Uhr nur unserer Routine nach: wir fragen die Kunden freundlich, was sie trinken möchten, bereiten das Getränk zu, verkünden ihnen, wie viel es kostet, sie geben uns das Geld und wir ihnen im Gegenzug das Getränk. Es ist ein Wunder, dass mein Lächeln noch nicht eingefroren ist, so viel, wie es in dieser kurzen Zeit beansprucht wurde. Aber wenn ich deswegen einem anderen Menschen bessere Laune bereiten konnte, nehme ich es gerne in Kauf. Niemand hat es verdient, in der Weihnachtszeit mies drauf zu sein. Aus welchen Gründen auch immer.

Ich wünsche mir, dass wenigstens im Dezember alle Probleme auf der Welt verschwunden sind.

Als es endlich bisschen ruhiger und leerer wird, entdecke ich an dem Pizza-Stand gegenüber von uns einen jungen Mann in einer Gruppe aus vier Männern, der nicht gerade glücklich aussieht. Während seine Freunde, so laut lachen und reden, dass selbst ich es hören kann, schaut sich der Mann mit den dunklen Haaren gedankenverloren und misstrauisch in der Umgebung um. Vielleicht kann er auch bloß bei dem Thema nicht mitreden.

Seine trüben Augen scheinen jeden Zentimeter genau abzuscannen. Bis sie auf meine treffen. Entweder bilde ich es mir nur ein, oder ich kann nun ein leichtes Schimmern in ihnen erkennen. Verlegen muss ich grinsen und fahre durch meine hellblonden Haare. Auch sein Gesicht sieht etwas fröhlicher aus als vorher.

Valentin und die Menschen, die zwischen uns den Weg entlang gehen, habe ich schon längst ausgeblendet. Auch die Geräusche, die von überall kommen, höre ich nicht mehr. Es ist plötzlich ganz leise.

Womit ich aber trotzdem nicht gerechnet habe, ist, dass er kurz etwas zu seinen Freunden sagt, anschließend leicht mit seinem Daumen in meine Richtung zeigt und dann direkt auf mich zu kommt.

Scheiße. Was mach' ich jetzt? Erst einmal cool bleiben, Hannes!

Umso dichter er kommt, desto besser kann ich sehen, wie gut er eigentlich aussieht. Und umso nervöser werde ich. Seine beigen Handschuhe passen perfekt zu seinem grünen Wintermantel, der selbst bei den Temperaturen geöffnet ist. Um seinen Hals baumelt ein schwarzer Schal.

Es hat sich wie eine halbe Ewigkeit angefühlt, bis er endlich vor mir steht und mich aus seinen braunen Augen anblickt. Mir fehlen wirklich nicht oft die Worte. Aber in diesem Augenblick fällt mir kein einziges ein.

„Hi", begrüßt er mich lächelnd. Ich schmelze.

„Hallo", erwidere ich in einer viel zu hohen Stimmlage. Seit wann begrüße ich jemanden mit hallo? Es ist sehr auffällig, wie nervös ich bin. „Was kann ich für Sie tun?"

„Ich hätte gerne einen Kakao mit Schuss. Anders kann ich mir die Scheiße hier ja nicht geben."

Oh. Das habe ich nicht kommen sehen. Ebenfalls kann ich nicht sehen, ob er es ironisch oder ernst gemeint hat.

„K-klar, kommt sofort", stottere ich vor mich hin. Reiß' dich doch bitte zusammen.

Angespannt drehe ich mich also um und kümmere mich um seinen Kakao. Währenddessen spüre ich seinen stechenden Blick in meinem Rücken, der mich beinahe vergessen lässt, wie man das Heißgetränk zubereitet.

Nach wenigen Minuten drehe ich mich wieder zu dem Mann um und strecke stolz meinen Arm mit der Tasse zu ihm aus. „Lass' es dir schmecken", wünsche ich ihm, während er mir die warme Tasse aus der Hand nimmt. Kurz berührt seine mit Handschuhen eingepackte Hand meine und obwohl eine Stoffschicht zwischen unseren Fingern ist, spüre ich ein Kribbeln an der Stelle, die er berührt hat. Gleichzeitig schaut er mir so tief in die Augen, dass ich fast vergessen, meinen Arm wieder zu senken und ihm den Preis zu nennen.

„Das macht dann 5€. Die Tasse hat aber 2€ Pfand. Du kannst sie einfach später oder morgen wieder herbringen."

Ein wenig erschrocken und wütend sieht er mich an. „Geht's noch teurer?" Und schon ist der ganze Zauber verschwunden. Vielleicht habe ich ihn mir auch bloß eingebildet. So wie ich mir schon so einiges eingebildet habe.

„Naja, die Einnahmen gehen ja nicht nur an uns; das wäre ziemlich selbstsüchtig –", versuche ich, ihm zu erklären, doch werde ziemlich schnell unterbrochen.

„Hier." Er wirft mir ein paar Münzen auf die Theke. „Damit du endlich Ruhe gibst." Und damit ist er auch verschwunden.

„Was war das?"

„Ein süßer Typ", antwortet Valentin, woraufhin ich ihn verwirrt anschaue. „Was denn? Ich bin hetero – nicht blind. Der wäre doch was für dich. Vielleicht heulst du dann nicht mehr rum, dass du unbedingt Liebe und Nähe brauchst."

„Ich bin schwul. Nicht so verzweifelt, dass ich alles nehme, was nicht bei drei auf dem Baum ist."

„So wie er dich teilweise angeguckt hat, wäre er nicht einmal bei zehn auf dem Baum gewesen."

„Halt die Klappe, Valle", lache ich. „Außerdem war er dann voll unfreundlich. Auf so jemanden kann ich gut verzichten."

„Ich mein ja nur", lacht er entschuldigend. „Du glaubst doch an Weihnachtswunder. Vielleicht ist er deins."

„Junge, du laberst nur noch scheiße, hörst du dir eigentlich zu?", frage ich ihn lachend, obwohl ich weiß, dass so ein Satz auch von mir kommen könnte.

Leider bin ich ein hoffnungsloser Romantiker, der sich schon ziemlich oft in etwas verstrickt hat und das immer völlig umsonst. Meine längste (und einzige) Beziehung hielt ein halbes Jahr lang. Später habe ichherausgefunden, dass er mich schon einen Monat mit einer Frau betrogen hat und ich wohl nur ein Experiment für ihn war. Einmal in einer Homobeziehung sein, meinte er damals zu mir. Danach hatte ich nur noch unverbindliche Beziehungen mit Typen, weil ich Angst hatte, noch einmal so ausgenutzt zu werden, aber schlussendlich habe ich für jeden einzelnen Gefühle entwickelt, denn für mich gibt es keinen Sex ohne Romantik und Liebe.

happy first december :) hoffe, euch hat das erste Türchen gefallen <3

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