dreiundzwanzig
So ganz verstehen, dass heute schon der 23. Dezember ist, will mein Kopf noch nicht. Und dass ich das Geschenkproblem immer noch nicht gelöst habe, macht mich nervös. Perfekter Start in die Feiertage.
Ich sitze mit wackelnden Beinen am Frühstückstisch, esse mein Brot mit Spekulatiuscreme und mache mich innerlich verrückt, als Mario verschlafen hineinkommt und fragt, ob alles in Ordnung mit mir ist. Nachdem ich ihm mein Problem geschildert habe, dauert es keine zehn Minuten, bis er gewaschen und gestylt vor mir steht. Auf meinen fragenden Gesichtsausdruck nimmt er sich ein Stück der aufgeschnittenen Gurke und meint nur, dass wir adesso in die Stadt gehen und niente discussioni!
So motiviert habe ich ihn lange nicht mehr erlebt. Vielleicht liegt es daran, dass der Unistress auch von ihm abgefallen ist. Oder daran, dass er heute Abend nach Italien zu seinen Eltern fliegt, die er dementsprechend seit einem halben Jahr nicht gesehen hat. Im Sommer ist er mit seiner Freundin dorthin geflogen. Einerseits zum Urlaub, andererseits dafür, dass sie seine Eltern kennenlernt.
„Kommt Jule mit nach Italien?", frage ich ihn, als wir Snipes betreten. Als würde ich ihm einfach nur Sportklamotten schenken.
„Nee, die will auch mit ihrer Familie feiern. Haben uns drauf geeinigt, dass meine Familie nächstes Jahr herkommt und wir dann zusammen feiern."
Den ganzen Vormittag haben wir damit verbracht, ein Geschenk für Gabriel zu suchen. Wir waren in jedem Geschäft in der Hamburger Innenstadt, das wir finden konnten. Und in jedem habe ich Mario die Ohren vollgeheult, dass nicht das richtige dabei ist. Sind unzählige Male die Mönckeberg- und Spitalerstraße auf und ab gelaufen. Die Europa-Passage haben wir auch zu oft betreten, in der Hoffnung, etwas zu sehen, was wir bis dahin übersehen haben.
Schlussendlich ist es eine kleine Gesellschaftsspielesammlung geworden. Mit Mühle, Fang den Hut, dem Gänsespiel, Dame und alles, was das Spieleherz begehrt. Gabriel hat mir mal erzählt, dass seine Eltern früher mit ihm und seinen Geschwistern jeden Freitag einen Spieleabend veranstaltet hat. Jede Woche hat er sich aufs Neue drauf gefreut, er war sein Highlight der Woche. Als alle älter wurden, durften sie auch Freunde einladen und manchmal sind sogar ihre Tante und ihr Onkel dazugekommen. Sein Lieblingsspiel war Mensch ärgere dich nicht. Während der Erzählung klang er so sehnsüchtig, dass ich glaube, dass er insgeheim gerne nochmal diese Spiele spielen würde, weswegen ich sofort an ihn gedacht habe, als ich diese Spielesammlung im Spielwarengeschäft gesehen habe. Fragt nicht, warum wir dachten, in solch einem Geschäft ein Geschenk für meinen 22-jährigen Freund zu finden. Aber es war ein voller Erfolg.
Zum Abschluss gehen wir noch bei Vapiano essen. Als Dank und als kleiner Abschied, immerhin sehen wir uns drei Wochen nicht.
Ungefähr eine Stunde bevor unser Zug losfährt – Mario ist schon längst am Flughafen – komme ich auf die Idee, dass ich vielleicht mal meine Sachen packen sollte. Wir sind zwei Nächte dort, dementsprechend brauche ich nicht allzu viel.
Erstmal brauche ich Musik. Im Handumdrehen schallt auch schon Fröhliche Weihnacht überall durch die Wohnung. Kinderlieder haben nochmal eine andere Wirkung auf mich als andere Weihnachtslieder.
Ich schaue von meinem Koffer vor mir zu dem Haufen daneben, auf den ich alles geworfen habe, was ich mitnehmen will. Ein brauner Hoodie, ein weißes Hemd und Fliege für Heiligabend, zwei Paar Socken, zwei Unterhosen, eine blaue Jeans, eine schwarze Jeans, eine Jogginghose und natürlich Gabriels Geschenk.
Duschgel, Shampoo und Haargel, was ich zwar noch nie benutzt habe, aber vielleicht wird morgen der große Tag. Da wir in einem Hotel sind, verkneife ich es mir, einen Föhn mitzunehmen.
Gabriels Mutter hat sogar vorgeschlagen, uns das Zimmer zu bezahlen. Als Entschädigung, dass wir nicht bei ihr übernachten können, weil dort schon seine Schwester über die Feiertage wohnt und Gabriels altes Kinderzimmer mittlerweile als Abstellraum fungiert. Ich habe aber gemerkt, dass mein Freund froh darüber ist, nicht die ganze Zeit in seinem Elternhaus sein zu müssen und insgeheim bin ich es eventuell auch.
Mein Blick geht einmal zu oft über die Kondompackung, die ich schon aus meiner Nachttischschublade geholt und auf den Tisch gelegt habe. Mitnehmen? Nicht mitnehmen? Kommt es komisch, wenn Gabriel sie sieht? Überfordert ihn das? Andererseits bin ich nur vorsichtig und achte auf Schutz. Sollte wertgeschätzt werden. Vorsicht ist besser als Nachsicht.
Ach, ich weiß nicht.
Wir sind in einem Hotelzimmer. Ganz für uns. Niemand, der uns stören könnte. Das waren wir bei Gabriel aber auch schon und da war er noch nicht bereit. Vielleicht ist er es immer noch nicht.
Eigentlich bin ich auch nur auf alles vorbereitet. Es heißt ja nicht direkt, dass es passieren muss. Aber wenn es so weit kommen sollte, müssen wir uns nicht zurückhalten.
Als würde mich jemand beobachten, nehme ich die Packung, als ich den Koffer so gut wie fertig gepackt habe, und stopfe sie schnell unter die ganzen Sachen, damit auch keine versteckte Kamera das gefilmt hat. Meine Pubertät ist definitiv noch nicht ganz vorbei.
An Gleis 14 warten wir pünktlich um 16 Uhr schweigend nebeneinander, weil wir beide es noch nicht so ganz glauben können, dass wir gleich ans andere Ende des Landes fahren, auf den ICE nach München. Ich bin aufgeregter als ich dachte, dabei sind wir erst in sechseinhalb Stunden am Ziel.
Überraschenderweise hat der Zug nur 20 Minuten Verspätung. Obwohl der ICE ziemlich voll ist und wir keinen Platz reserviert haben, werden wir nicht von unseren Sitzen verdrängt. Zunächst sitzen wir allein in einem Vierer, bis in Kassel ein älteres Ehepaar dazu steigt und sich gegenüber von uns hinsetzt.
Die Frau, Gerda, erzählt uns davon, wie sie jedes Jahr zu Weihnachten zu ihr nach Hause nach Wien fahren. Als sie 20 waren, haben sie sich während eines Freiwilligendiensts auf Island kennengelernt. Und lieben. Gunnar hat jedoch dort gewohnt, weswegen sie ihn nach dem Dienst dort zurücklassen musste. Als das Leben wieder zur Normalität gewechselt ist, haben sie schnell gemerkt, dass sie nicht ohneeinander können, weswegen Gerda kurzerhand allein nach Island ausgewandert ist.
Gunnar erzählt noch, wie er sich anfangs geschworen hat, sich nicht in die Wienerin zu verlieben, da er wusste, dass die beiden eigentlich keine Chance haben, aber schnell zugeben musste, dass sein Plan nach hinten losgegangen ist. Nach drei Monaten Dienst, sie hatten gerade zwei Wochen Urlaub, fragte er sie einfach, ob sie zusammen wegfahren wollen, denn er wollte sie auch in den Tagen, in denen sie nicht auf der Arbeit waren, sehen. Er schiebt noch hinterher, dass er sich immer in der Zeit zurückversetzt fühlt, wenn er sie nur anschaut. Außerdem hat er extra für sie deutsch gelernt. Und sie isländisch. Gibt es einen schöneren Liebesbeweis?
Nach der Geschichte schauen Gabriel und ich uns verträumt an. Sowas will ich mit dir auch, denke ich mir. Auch wir erzählen davon, dass wir durch das ganze Land zu Gabriels Familie fahren.
„Liebe ist unglaublich schön, lasst euch das von niemandem vermiesen", sagt Gerda noch zu uns, ehe die beiden in Nürnberg aussteigen und uns noch zum Abschied winken. Nach weiteren eineinhalb Stunden sind auch wir endlich an unserem Ziel angekommen und steigen aus.
Bis zum Hotel sind es nur noch weitere zehn Minuten mit der Bahn.
„Das ist nicht ihr Ernst", sage ich fassungslos, als wir in unserem Zimmer ankommen, das mehr nach einer Suite aussieht. Kurz fühle ich mich wie bei Hotel Zack & Cody. „Deine Mutter ist verrückt."
„Sieht so aus", erwidert mein Freund mindestens genauso außer Fassung.
Wir stehen immer noch im Eingangsbereich und starren in das Zimmer. Man sieht ein riesiges Doppelbett und eine Fensterfront, von der man über ganz München blicken kann. Gegenüber vom Bett hängt ein riesiger Flachbildschirm, der wahrscheinlich nicht einmal in mein Zimmer zu Hause passt. Ich will gar nicht wissen, was sich hinter den drei sichtbaren Türen noch verbirgt.
Gabriel geht vor und begutachtet jede Ecke.
„Deine Familie wohnt in München und deine Mutter kann offenbar noch allein mit deinem Bruder in deinem Elternhaus wohnen, wie konnte ich da glaube, dass ihr nicht ein Vermögen besitzt." Dafür bekomme ich eins der großen weichen Kissen vom Bett ins Gesicht geworfen.
„Insgeheim stehst du doch drauf", sagt mein Freund schelmisch und kommt wieder auf mich zu.
„Ich stehe auf dich, das stimmt." Mit diesen Worten küsse ich ihn leidenschaftlich und drücke ihn langsam Richtung Bett.
Und so kommt es, dass wir in der Nacht vor Heiligabend im Ehebett eines viel zu luxuriösen Hotelzimmer liegen, Burger und Pommes vom Zimmerservice essen und den Netflixfilm Single all the way schauen. Gabriel war mit meinem Vorschlag direkt einverstanden.
So ganz realisieren, dass morgen Heiligabend ist, kannich immer noch nicht. Irgendwie kommt es jedes Jahr dann doch so plötzlich.Einmal nicht hingeguckt und schon ist wieder ein ganzer Monat vorüber. Abernoch ist es nicht an der Zeit, nostalgisch zu werden und dem Jahr hinterher zuweinen. Jetzt wird erst einmal Weihnachten genossen und sich voll gefuttert.
nur noch einmal schlafen, dann ist Weihnachten... lol
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