acht
Heute ist ein toller Tag. Das habe ich schon direkt beim Aufstehen gemerkt als ich mit einem lauten Merry Xmas Everybody aus dem Küchenradio geweckt wurde. Ein Glück, dass Mario genauso gerne Weihnachtsmusik hört wie ich, so können wir, während wir unser Frühstück zubereiten, durch die Küche tanzen. Oder springen. Ein Wunder, dass sich unsere Nachbarn noch nie beschwert haben.
Außerdem haben Valentin und ich heute frei bekommen, weil Amélie und John eine doppelte Schicht machen, damit sie an einem anderen Tag frei haben. Dazu kommt, dass meine heutigen Vorlesungen ausgefallen sind.
So kommt es, dass ich am Nachmittag mit Lotte und Valentin zusammen über den Weihnachtsmarkt schlendere. Wir dachten, bevor wir es wieder nicht schaffen, gehen wir einfach spontan heute. Einen Tag zu finden, an dem wir alle drei Zeit haben, ist nämlich ungemein schwer.
Nachdem wir Schmalzgebäck, einen Crêpe mit Nutella und Apfelmus sowie Schokoerdbeeren gegessen haben, sind wir so vollgefuttert, dass wir uns erst einmal hinsetzen wollen.
„Ich esse nie wieder etwas", meint Valentin gequält, während wir etwas zum Sitzen suchen.
Doch dazu kommen wir nicht, denn an einem Süßwarenstand sticht mir jemand mit einem grünen Wintermantel ins Auge. „Ach du Scheiße da ist Gabriel", meine ich schockiert und bleibe wie angewurzelt stehen. Augenblicklich habe ich vergessen, dass ich gleich platze und mich dringend hinsetzen muss. Plötzlich ist es, als hätte ich heute noch gar nichts gegessen. Nicht einmal Marios dickes Panini macht sich noch bemerkbar.
„Perfekt, lasst uns zu ihm gehen", meint Lotte und ehe ich sie aufhalten kann, geht sie schon auf ihn und seine Freunde zu; Valentin und ich widerspenstig hinterher.
„Das kann ja was werden", murmle ich zu mir selbst.
Peinlich berührt begrüße ich ihn und seine Freunde, die sich als Timo, Luca und Fabian vorstellen.
Timo ist ein großer schlanker Mann mit Dreitagebart, schwarzer Brille und dunkelblonden Locken, die unter seiner grünen Carharrt-Mütze hervorgucken. In weiteren Gesprächen bemerke ich, dass er ziemlich ruhig ist und nicht die ganze Zeit reden muss.
Luca ist ein großer breiter Typ, vor dem ich wahrscheinlich Angst hätte, würde er mir im Dunklen über dem Weg laufen. Sein Gesicht schmückt eine runde Brille und ein Lippenpiercing. Er ist ziemlich aufgedreht und hat zu jedem Satz einen passenden Spruch parat.
Fabian ist ein etwas kleinerer Mensch mit blonden Haaren und blauen Augen, die durch seine hellbraune Jacke noch mehr Ausdruck bekommen. Auch er redet viel und vor allem laut.
Sie sind alle so verschieden, aber trotzdem ergibt es irgendwie Sinn, dass sie miteinander befreundet sind.
„Habt ihr Lust, mit uns einen Glühwein zu trinken?", fragt Luca uns.
Wir werfen uns kurze Blicke zu, in denen ich den beiden versuche, mitzuteilen, dass das keine gute Idee sei.
„Klar, gerne", erwidert Lotte mich ignorierend. Ich weiß, dass sie mich verstanden hat, sonst hätte sie nicht so gelächelt.
„Na vielen Dank auch", murmle ich. „Sag' du doch auch mal was, Valle."
„Was soll ich denn sagen?", fragt er entschuldigend. „Sie schüchtert mich ein."
Da wir nun sieben Leute sind, können wir nicht mehr nebeneinander gehen, was dazu führt, dass wir wie eine Entenfamilie über den Weihnachtsmarkt watscheln und einen Glühweinstand suchen. Luca und Fabian sind die Anführer, Timo hat einen Platz zwischen Lotte und Valentin gefunden, in dem er sich auch wohlzufühlen scheint, denn ich höre, wie die drei in einem Gespräch vertieft sind. Und das Schlusslicht bilden Gabriel und ich. Unbeholfen gehen wir nebeneinander und wissen nicht so wirklich, wie wir uns verhalten sollen. Am liebsten hätte ich seine Hand genommen. Ich unterdrücke den Drang aber, da ich nicht weiß, inwiefern er seinen Freunden von mir erzählt hat und ich ihn nicht in Verlegenheit bringen möchte.
„Dafür, dass du Weihnachten hasst, sehe ich dich hier aber ganz schön oft", stelle ich ihn ironisch zur Rede.
„Habe gehofft, dass ich dich hier treffe."
Mein ziemlich sprachloses Ich wollte gerade etwas erwidern, doch Luca, der abrupt stehen bleibt, kommt mir zuvor. Ich dachte eigentlich, wir hätten so leise gesprochen, dass es niemand hört. „Also ist Gabriel morgen bei dir? Wir wollten feiern gehen, aber er meinte, er hat keine Zeit, weil er sich mit jemandem trifft. Das bist du, oder?"
„Äh – ja, das bin dann wohl ich", stammle ich peinlich berührt.
„Dann bist du auch der heiße und viel zu nette Weihnachtsliebhabertyp mit den süßen roten Wangen?", zählt Fabian eins und eins zusammen.
Überwältigt ziehe ich die Augenbrauen nach oben. Bin ich das? Fragend schaue ich zu Gabriel, der mittlerweile rot angelaufen ist.
Er weicht meinem Blick aus und antwortet leise: „Ja, ja das ist er."
„Guter Fang", sagt Fabian nur und geht weiter.
Bis wir einen Stand gefunden haben, an dem es Glühwein gibt, der nicht gerade ein halbes Vermögen kostet, reden Gabriel und ich kein Wort mehr miteinander.
„Also sieben Mal Glühwein?", fragt Luca in die Runde.
„Ne, ich nehme eine heiße Schokolade", sage ich. „Ohne Schuss."
Luca nickt und wendet sich dem Verkäufer zu.
„Warum hast du das ohne Schuss so betont?", fragt Gabriel mich schüchtern.
„Damit da kein Schuss reinkommt", erkläre ich ihm das Offensichtliche, ehe ich mich ihm zudrehe. „Ich trinke keinen Alkohol."
Gerade als er etwas erwidern will, bekommen wir unsere Getränke in die Hand gedrückt. Als wenig später alle in anregenden Gesprächen vertieft sind, zieht Gabriel mich hinter das kleines Holzhäuschen, in dem wir unsere Getränke gekauft haben.
Er atmet einmal laut aus. „Ich hab' dich vermisst. Ich fands schade, dass wir uns gestern nicht gesehen haben. Aber ich war zu schüchtern, um dich zu fragen."
Kurz habe ich vergessen, wie man sein Gehirn benutzt, bis ich es unter Anstrengung schaffe, etwas darauf zu erwidern. „Ja, ich auch. Also ich habe dich auch vermisst. Und schade fand ich's auch, ja."
Ich sehe, wie die Anspannung von ihm abfällt und nun zufrieden lächelt. „Schön. Also ne, nicht schön, aber schön zu hören, dass es nicht nur mir so ging. Sorry, ich rede wahrscheinlich nur Müll."
„Ja, das tust du", lache ich und trinke einen Schluck meines Kakaos. „Aber ich verstehe, was du meinst."
„Du hast da Sahne", weißt der Braunhaarige mich leise drauf hin und zeigt auf mein Gesicht.
„Wo genau?"
Unsere Stimmen sind nur noch ein Flüstern. Mit jeder Sekunde kommt Gabriel mir ein Stück näher. Sein Mund ist leicht geöffnet, wodurch ich seinen heißen Atem auf meinen Lippen spüren kann.
Für einen kurzen Augenblick dachte ich, wir würden uns küssen. Ich würde lügen, würde ich sagen, ich wäre nicht bereit gewesen. Ich wäre mehr als bereit gewesen. Doch als Gabriel seine Hand hebt und mit seinem Daumen vorsichtig über meine Oberlippe streicht, ehe er wieder von mir ablässt, ist mein Traum geplatzt.
Er schaut mir tief in die Augen, während er seinen Daumen ableckt. Nie werde ich seinen rauen Finger auf meiner Lippe vergessen. Wie sie sich wohl an anderen Körperstellen anfühlen, die bis jetzt immer von Kleidung bedeckt waren?
„Genug rumgemacht, Jungs!", werden wir dann jedoch von Fabian unterbrochen. „Wir wollen Bogenschießen, kommt ihr mit?"
Da ich mich nicht traue, zu sagen, dass ich gerne noch etwas mit Gabriel allein sein möchte, und er sehr aufgeregt nickt, finde ich mich wenig später vor der Schießbude mit Pfeil und Bogen in der Hand wieder. Ich glaube, als ich das das letzte Mal gemacht habe, war ich zehn. Und schon damals war ich nicht sonderlich gut darin. Dazu kommt, dass ich meine Hände aufgrund der Kälte kaum noch spüren kann.
Gabriel hingegen hat alle Ballons getroffen und hat nun freie Wahl. Wie oft habe ich beim Entenangeln davon geträumt, freie Wahl zu haben... bei Bogenschießen konnte ich froh sein, wenn ich wenigstens den Trostpreis bekommen habe.
Er gibt dem Verkäufer zu verstehen, dass er den kleinen Kuschelbär, der eine Weihnachtsmütze trägt und ein Herz in den Händen hält, nimmt. Mit einem wissenden Blick bekommt er diesen überreicht. Auch seine Freunde grinsen sich schelmisch an, während ich mich nur verwirrt in unserer Gruppe umschaue.
Als Gabriel sich aber zu mir umdreht und mir verlegen grinsend den Bären mit den Worten „der ist für dich", hinhält, glaube ich, mich verhört zu haben.
Aus großen Augen schaue ich ihn an und kann ein dummes Grinsen nicht mehr verbergen. Überall suche ich ein Zeichen, dass er nur einen Witz machen. Aber ich finde keins.
„Danke schön", flüstere ich in sein Ohr, als ich es an mich nehme und ihn daraufhin umarme. „Das ist wirklich süß."
„Hab ich doch gerne gemacht."
Leider ist es mittlerweile auch schon an der Zeit nach Hause zu gehen. Einerseits will ich sie und vor allem Gabriel noch nicht gehen lassen, andererseits habe ich Angst, zu erfrieren, wenn ich nicht gleich in eine warme Umgebung komme.
Nachdem wir uns alle voneinander verabschiedet haben und Valentin es nicht lassen konnte, mir nochmal zu sagen, dass ich mir Gabriel krallen soll, stehen wir noch etwas unbeholfen rum, da niemand weiß, in welche Richtung die anderen müssen und vor allem Lotte schaut sich ängstlich um. Sie ist so ziemlich der offenste und mutigste Mensch, den ich kenne, doch sobald es dunkel und vor allem spät wird und sie weiß, dass sie allein unterwegs ist, steht ihr die Angst ins Gesicht geschrieben.
Ich scheine aber nicht der einzige zu sein, dem es auffällt. „Ich kann dich auch nach Hause bringen", schlägt Timo ihr vor.
„Gerne", erwidert die Blondhaarige schüchtern.
Ich schaue nur verwirrt zwischen den beiden hin und her, verwerfe den Gedanken an die zwei jedoch wieder, als Gabriel mich noch ein zweites Mal zum Abschied umarmt.
„Bis morgen."
in 16 Tagen ist Heiligabend :)
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top