9 | Sandelholz & Vanille
Endlos langsam bewegen sich unsere Körper aufeinander zu. Ich spüre Jules' warmen Atem an meinem Mund und öffne vorsichtig meine Lippen, um seine damit sanft zu umschließen und seine zarte Haut mit meiner zu berühren. Der angenehm warme Duft seines Aftershaves nach Sandelholz mit einer Spur Vanille steigt mir in die Nase und verbindet sich mit dem Geruch seiner Haut und dem Geschmack nach der Zitronencreme vom Nachtisch auf seinen Lippen.
Vorsichtig bewege ich meine an seinen und spüre, wie er ebenfalls eine Hand an meine Wange legt und beginnt meinen Mund mit seinem zu erkunden. Das Kribbeln, das dieser Kuss auslöst, ist befreiend und angsteinflößend zugleich. Immerhin sitzen wir in meinem alten Kinderzimmer im Haus meiner Eltern und haben nicht einmal die Tür abgeschlossen. Wenn jetzt jemand hereinkäme, wäre dies das Ende für Mags Plan nicht am Kindertisch zu landen und der Vorstellung meiner Mutter, ich würde vielleicht doch irgendwann eine Frau und Kinder mit nach Hause bringen.
„Wir sollten das nicht tun", entkommt es mir, obwohl ich etwas anderes denke. Die Vernunft versucht wider besseres Wissen, Herrin dieser Lage zu werden.
„Ich stimme dir in diesem Punkt überhaupt nicht zu", flüstert Jules und lässt erneut seine Lippen auf meine sinken. Ein Stöhnen verlässt unkontrolliert meinen Mund, als er beginnt, den Kuss zu intensivieren, und ich spüre, dass ich meinen Plan, von ihm abzulassen, wohl vergessen kann.
Von seinem kleinen Vorstoß angestachelt, lasse ich meine Hände vorsichtig in seine goldenen Locken fahren und ziehe seinen Kopf näher an meinen heran. Vorsichtig schiebt seine Zunge sich in meinen Mund und ich kann nicht verhehlen, dass dieser Mann mich erregt. Bevor es zu spät ist, lasse ich kurz von dem Engel ab und stehe auf. Seine Enttäuschung über die Pause ist ihm anzusehen. „Ich schließe nur kurz die Tür ab", hauche ich ihm mit geröteten Wangen zu und will gerade den Schlüssel umdrehen, als die Tür plötzlich hart gegen meine Schulter schlägt. „Aua", sage ich laut und gehe einen Schritt zurück.
Als sich die Tür öffnet, sehe ich den kleinen Anton ins Zimmer stürmen. „Onkel Enno!", ruft er fröhlich und wirft sich in meine Arme, als ich vor ihm in die Hocke gehe. „Hey, du wirfst mich noch um, Sportsfreund", lache ich, als ich ein wenig zu Wanken beginne. So sehr ich meinen kleinen Neffen liebe, so sehr bin ich auch enttäuscht, dass der Moment mit Jules vorerst vorbei ist. Der sitzt immer noch auf dem Bett und klammert sich an Jerry. „Habt ihr die Eisenbahn gefunden?", frage ich Anton und versuche mich von dem Gedanken an den Kuss mit Jules abzulenken.
„Ja, auf dem Dachboden! Opa und Alfred bauen sie gerade in Alfreds Zimmer auf." Die Augen des Jungen leuchten, als er von der Eisenbahn erzählt. Ich kann ihn gut verstehen. Auch ich habe früher gerne mit der Bahn gespielt. „Dann gehst du jetzt am besten zu Opa und Alfred und hilfst ihnen beim Aufbauen", schlage ich vor. „Und wenn ihr fertig seid, dann kommen Jules und ich dazu und spielen ein wenig mit." Ich blicke zu Jules und zwinkere ihm zu. Welches Kind spielt nicht gerne mit einer Eisenbahn? Auch wenn man dafür eigentlich schon zu alt ist.
„Oh ja", ruft Anton und läuft noch einmal wie ein Flugzeug durch das kleine Zimmer, bevor er durch die Tür verschwindet. Gerade, will ich diese hinter ihm schließen, als sie erneut aufschwingt und Maggie ins Zimmer kommt. „Hier habt ihr euch versteckt", sagt sie tadelnd und sieht uns an. „Ihr wollt euch doch bloß vor der Arbeit drücken, hab ich recht?"
„Eigentlich wollte ich Jules nur euer Schlafzimmer für diese Nacht zeigen", verteidige ich mich. „Genau", sagt Jules unterstützend. „Und jetzt wollten wir uns noch Ennos Zimmer ansehen."
„Das wäre mir nicht so lieb", gibt Maggie zu. Immerhin ist es eigentlich ihr Zimmer und genau wie bei mir liegen dort zwar keine Teddybären, aber dennoch ein paar Puppen auf dem Bett mit dem Blümchenüberwurf. An den Wänden hängen Poster von Boybands und halb nackten Schauspielern. Zumindest mit denen werde ich mich die nächsten zwei Nächte gut anfreunden können.
„Ach, komm schon", sage ich. „Ihr werdet immerhin beide in meinem Bett schlafen. Dann wirst du doch einen kleinen Einblick in dein altes Reich gewähren können, hab ich recht? Oder soll ich Kristian vor allen Leuten aus Versehen ‚Jules' nennen?", frage ich provozierend, als Maggie mit der Antwort auf sich warten lässt. Ein vernichtender Blick wird mir zugeworfen, doch dann nickt sie. „Von mir aus", knurrt sie. „Aber Jules, was in diesem Haus passiert und gesehen wird, bleibt unter uns verstanden?"
„Selbstverständlich", bestätigt er und ich kann mir ein dickes Grinsen nicht verkneifen. Was zwischen uns passiert ist, wird diese vier Wände sicherlich nicht verlassen.
Die schmale Wendeltreppe, die in Maggies altes Schlafzimmer führt, ist so eng, dass ich fast seitwärts gehen muss, um hinaufzugelangen. Der wenige Platz war auch immer das Argument, in dem Zimmer keine große Veränderung durchzuführen. Die wenigen Möbel, die sich dort befinden, wurden in der Vergangenheit einmal dort hinaufgebracht und nie ausgetauscht. Zu groß schien der Aufwand, sie erneut durch das enge Treppenhaus zu bugsieren.
„Gemütlich", sagt Jules, nachdem er sich durch den niedrigen Türrahmen gezwängt und das kleine Zimmer direkt unter dem Dach betreten hat. Man kann kaum von einem Zimmer sprechen. Es ist mehr eine Kammer, da die Schräge den Großteil des Raumes in der Höhe verkürzt. Das Bett steht mit einer Seite unter der Dachschräge, die in der Mitte der Längsseite von einer Gaube angenehm durchbrochen wird. Diese ist wohl auch der einzige Grund, warum meine Schwester das Zimmer auch nach Susannes Auszug bis zum Schluss behalten hat. Auf der breiten Fensterbank in der Gaube liegen ein paar große Sitzkissen und von hier aus hat man einen wunderbaren Blick auf den Garten und die angrenzenden Felder.
Es ist kein großes Zimmer, aber es ist gemütlich. Das findet wohl auch Jules, als er zum Fenster geht und sich mit dem Blick in die dunkle Nacht hinaus dort niederlässt. Mir fällt auf, dass er erstaunlich selbstverständlich in diesem Haus umhergeht und sich verhält, als wäre es seines. Mir gefällt das. Es macht es so viel einfacher, sich in seiner Gegenwart zu entspannen und ganz fallen zu lassen. Das fahle Licht der Deckenlampe fängt sich in seinem blonden Lockenkopf, und ich atme einmal tief durch. Dann schließe ich die Tür hinter mir und lösche das Licht.
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