6 | Engelchen & Teufelchen
Bevor ich diese schwerwiegende Entscheidung tatsächlich treffen muss, schwingt die Tür zum Schuppen auf, und Maggie stürzt herein. Instinktiv lasse ich die Hand meines Gegenübers los und trete einen Schritt zur Seite, um Maggie anzusehen. Sie klopft sich gerade den letzten Schnee von ihrem Mantel, und ich hoffe, dass sie nicht registriert hat, wie nah Jules bei mir stand.
„Mutter ist unmöglich", sagt sie in die Stille. „Erst will sie vermeintlich wissen, ob sie den Tannenbaum dieses Jahr in Rot und Gold schmücken soll oder doch in Grün Silber, und als ich meine Meinung dazu kundtue, blockt sie sofort ab und argumentiert mit Tradition. Warum fragt sie mich dann überhaupt? Kann mir das einer erklären? Nein natürlich nicht", beantwortet sie sich selbst die Frage und geht zu dem Kühlschrank, der hier zur Vorratshaltung aufgebaut ist und weitere Getränke beherbergt.
Sie holt eine Flasche Weißwein heraus und angelt in dem kleinen Regal daneben nach einem Weinglas. „Wollt ihr auch?", fragt sie uns. Jules nickt, und ich beschließe, mich ebenfalls anzuschließen. Als meine Schwester sich mit dem Weinglas auf dem bequemen Schaukelstuhl niederlässt, lassen Jules und ich uns nebeneinander auf das Sofa fallen.
„Diese Frau ist unmöglich", schimpft meine Schwester nun weiter, nachdem sie die Hälfte ihres Glases in einem Schluck geleert hat. „Sie hat mich komplett über dich ausgefragt, Jules. Wo du herkommst, wo wir uns kennengelernt haben, ob du Geschwister hast, ältere oder jüngere..."
„Was hast du ihr erzählt?", fragt Jules neugierig.
„Das war ja das Problem", sagt Maggie nun etwas lauter und wirft die Arme in die Luft, wobei ein Teil ihres Weines überschwappt und auf der Lehne des Stuhls landet. Als sie es bemerkt, wischt sie schnell mit ihrem Ärmel darüber.
„Ich war so überrascht, dass ich ihr alles über dich erzählt habe, was ich über Klaus wusste", berichtet sie.
„Das heißt, wenn mich jemand fragt, muss ich die Geschichte deines Ex-Freundes erzählen?" Jules zieht die Augenbrauen hoch und ist sich wohl nicht sicher, ob er wütend oder amüsiert sein soll. Er entscheidet sich für ein Lachen, das auch mir ein Grinsen auf die Wangen treibt. Ich sage ja immer, Lügen haben kurze Beine. Auch wenn meine Schwester mir nun ein wenig leidtut, sie hat es irgendwie auch verdient. Stöhnend schlägt sie die Hände über den Kopf zusammen. Zum Glück ist das Weinglas schon fast leer.
„Was mache ich denn jetzt?", fragt sie uns.
„Am besten erzählst du mir meine Lebensgeschichte", witzelt Jules. „Das kann ja ein lustiger Abend werden", grinse ich.
Gegen halb sieben, und nachdem meine Schwester Jules über seine Vergangenheit aufgeklärt hat, gehen wir ins Haus zurück, wo der Abendbrottisch bereits gedeckt ist. Da wir heute nur zu sechst sind, nehme ich am Tisch der Erwachsenen Platz. Meine Mutter hat es noch nicht gesagt, aber ich weiß, morgen wird sie mich an den Katzentisch verbannen. Obwohl, vielleicht auch nicht. Immerhin rechne ich irgendwie damit, dass meine Schwester ihr Lügengerüst nicht bis zum Nachtisch wird aufrechterhalten können. Sollte meine Mutter herausfinden, dass meine Schwester mit unlauteren Mitteln einen Platz am Tisch erschlichen hat, wird sie Maggie zur Strafe bestimmt an den Kindertisch setzen, und ich werde triumphieren.
Ja ja, haltet mich für gemein, aber hätte ich so eine linke Nummer abgezogen würde sie mir ebenfalls ein Scheitern wünschen. Ihr wisst ja: Geschwister Rivalität.
So sitze ich nun neben Onkel Albert und direkt gegenüber vom Jules, der neben meiner Schwester Platz genommen hat. Meine Mutter hat wie immer an der Stirnseite ihren angestammten Sitz, denn sie ist es, die am häufigsten aufstehen und noch irgendetwas holen muss. Mein Vater sitzt traditionellerweise auf der gegenüberliegenden Seite des Tisches. Sozusagen als Familienoberhaupt. „Wo ist Papa?", frage ich, als ich bemerke, dass ich ihn noch gar nicht gesehen habe.
„Dein Vater kommt hoffentlich gleich. Er wollte sich nur kurz dein kaputtes Auto ansehen", sagt sie und schüttelt mit dem Kopf. "Als ob das nicht bis morgen Zeit gehabt hätte."
„Sei doch froh", sage ich unbedacht. „Er hätte dir in der Küche bestimmt nur im Weg gestanden." Den tadelnden Blick meiner Mama ignoriere ich, als hinter ihr mein Papa ins Wohnzimmer kommt und sie liebevoll von hinten umarmt. Ich wette, er hat gehört, was meine Mutter gesagt hat. Entschuldigend drückt er ihr einen Kuss auf die Wange. „Das riecht wunderbar, Liebling", schmunzelt er, und meine Mutter kann gar nicht anders, als stolz zu lächeln. „Wasch dir die Hände, Ingo und komm an den Tisch. Das Essen wird sonst kalt."
Während des Essens kann es meine Mutter nicht lassen, Jules weiter auszufragen. Zumindest kann er nun selbst einen Teil seiner Geschichte erzählen, den er versucht, möglichst authentisch mit dem zu verknüpfen, was Maggie über ihren Exfreund erzählt hat. Hoffentlich kann er sich die Geschichte merken, wenn ihn morgen auch noch andere danach fragen. Ich höre ihm besonders aufmerksam zu, um gegebenenfalls fiese Fragen zu stellen, die ihn auffliegen lassen oder um ihm zu helfen, wenn er ein Detail vergessen hat. Das kommt ganz darauf an, wie sich das Ganze hier noch entwickelt.
Unwillkürlich muss ich an ein Lied denken, dass ich in meiner Kindheit geliebt habe: „Und so streiten sich Engelchen und Teufelchen auf meiner Schulter. Engel links, Teufel rechts..."
Apropos Engel, habe ich schon erwähnt, dass er wie einer aussieht? Während er spricht, kann ich ihn ganz ungehindert anstarren. Sein Gesicht ist wunderbar ebenmäßig, und seine Nase sieht aus wie gemeißelt. Seine Locken weichen die hohen Wangenknochen angenehm auf und seine Augen funkeln, als er liebevoll von seiner Omi erzählt, die er leider seit eineinhalb Jahren nicht mehr gesehen hat. Als meine Mutter neugierig nach dem Grund fragt, sehe ich kurz die Unsicherheit in seinem Gesicht. Ich kann mir nun denken, was der Grund ist, dass er sich in seinem Dorf nicht mehr hat blicken lassen. Seine Annäherung in Verbindung mit der Beichte, dass er in Hamburg mehr Vielfalt und Aufgeschlossenheit erlebt hat, ergeben für mich nun ein schlüssiges Bild. Doch kann er, weil er ja der angebliche Freund meiner Schwester ist, nicht mit der Wahrheit antworten.
Ich könnte die ganze Geschichte in diesem Moment auffliegen lassen. Meine Schwester müsste eine Lüge beichten. Jules wäre wieder Single. Und ich könnte morgen mit ihm hier am Tisch sitzen. Falls Sie den armen Kerl nicht im hohen Bogen rauswerfen.
Gerade öffne ich den Mund, um irgendeine halbinteressante Frage an Jules zu stellen, die das Thema Heimatbesuch in weite Ferne rücken lässt. Doch ehe die Worte meinen Mund verlassen, höre ich den schweren Knauf an der hölzernen Eingangstür dumpf aufschlagen. Alle drehen ihre Köpfe zur Tür. Wer kann das sein?
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