5 | Spiel mit dem Feuer

„Tut mir leid..." Mag sieht mich entschuldigend an.
„Geschenkt!", brumme ich und wende mich von Maggie und Jules ab. Erneut starre ich in das Feuer. Es beginnt langsam schwächer zu werden und ich greife nach einem Holzscheit, der zum Trocknen neben dem Ofen liegt. Als ich ihn in die Flammen werfe, dauert es nur kurz, bis diese gierig an ihm züngeln und er knackend und Funken sprühend eins wird mit dem Schauspiel aus Wärme und Licht.

Auch ich fühle mich bei jedem Besuch bei meinen Eltern und der Verwandtschaft, als wäre ich ein trockenes Stück Holz, nachdem die Flammen lechzen, um es zu verbrennen. Es war vor ein paar Jahren, als ich meiner Mutter am Telefon erzählte, dass ich nun einen festen Freund hätte. Ich hatte sonst immer Freundinnen gehabt, aber keine war jemals lange genug geblieben, um sie meinen Eltern vorzustellen. Irgendwas hatte immer gefehlt. Und dann kam Tom. Bei ihm hatte ich das erste Mal überhaupt das Gefühl, wahrhaftig und aufrichtig verliebt zu sein. Ich war so glücklich! Doch die abweisende und ungläubige Reaktion meiner Mutter auf diese Neuigkeit verletzten mich sehr. Meine Beziehung zu Tom hatte nicht lange gehalten, doch wir waren im Guten auseinandergegangen und immer noch Freunde. Als meine Mutter an Weihnachten fragte, warum ich Tom nicht mitgebracht hatte, antwortete ich wahrheitsgemäß mit: „Wir sind nur Freunde."

Meine Mutter war daraufhin so erleichtert gewesen und betonte während des Wochenendes diverse Male, wie glücklich sie sei, dass ich diese 'Phase' nun hinter mir gelassen hatte, dass ich beschloss, sie in dem Glauben zu lassen, dass ich vielleicht doch noch irgendwann ein Mädchen mitbringen würde. Tief in meinem Inneren wusste ich jedoch, dass dies nicht passieren würde. Seitdem mussten wir beide damit leben, dass ich an Weihnachten niemanden mehr mitgebracht hatte, egal, ob ich gerade in einer Beziehung war oder nicht. Nichtsdestotrotz musste ich mir jedes Jahr die unangenehme Frage gefallen lassen, warum ich es nicht schaffte, dass ein anderer Mensch mich gernhatte. So gern, dass ich ihn zu Weihnachten mal mitbringen würde.

Die Idee, Jules im nächsten Jahr anzuheuern, mit mir auf das Weihnachtsfest zu kommen, hatte sich ja nun leider erledigt. Selbst wenn er zugestimmt hätte, war er jetzt als der Freund meiner Schwester hier und somit ziemlich unglaubwürdig für das nächste Weihnachtsfest mit mir. Ich seufze. Da werde ich schon einmal von einem Engel gerettet und es bringt mir so rein gar nichts.

Während ich überlege, wie ich aus dieser ganzen Situation möglichst galant entkommen kann und ich mich wegen meines defekten Wagens schon in einem Taxi zurück nach Bayern fahren sehe, klopft es an der Tür, und ich höre die Stimme meines Onkels. „Margret", sagt er, „deine Mutter braucht dich bei der Tischdeko."

Auch wenn ich mit dem Rücken zu ihr stehe, kann ich Maggie die Augen rollen sehen. Natürlich möchte meine Mutter den Augenblick nutzen, um sie über ihren Freund auszufragen. Denn so, wie ich meine Mutter einschätze, hat sie ihn sofort ins Herz geschlossen und würde am liebsten noch heute mit den Vorbereitungen für die Hochzeit starten.

Der Gedanke, dass Jules meine Schwester tatsächlich heiraten könnte, versetzt mir einen Stich.
Der Einzige, der Jules heiraten sollte, bin ich.

Oh Gott, habe ich wirklich gerade daran gedacht einen völlig Fremden zu heiraten, nur weil er verdammt hübsch ist und der einzige Mensch, den ich kenne, der Traube-Nuss-Schokolade genauso gerne zu essen scheint wie ich?

„Enno!", unterbricht mich eine helle, sanfte Stimme direkt hinter mir und ich zucke zusammen. Ich hatte gedacht, dass er längst fort sei.
„Ja", antworte ich erschrocken und drehe mich um. Jules Kristian steht mir mit einem Mal sehr nah gegenüber. Seine goldenen Locken leuchten im Schein des Kaminfeuers wie die Münzen eines wertvollen Piraten-Schatzes. Seine Augen strahlen wie das Blau des Ozeans und ich stelle mir unwillkürlich vor, wie es wäre, ein paar Monate allein mit ihm auf einer einsamen Insel zu verbringen. Wir würden händchenhaltend am Strand entlanglaufen, nackt in einem Wasserfall baden und uns nachts gemeinsam den endlosen Sternenhimmel ansehen. Und kurz vor dem Weihnachtsfest würde ich meiner Mutter eine Flaschenpost schicken, dass wir nicht kommen können, weil wir anderweitig beschäftigt sind.

„Es tut mir wirklich leid, dass unsere Verabredung für nächstes Weihnachten nun wohl doch nicht klappt", sagt Jules und holt mich somit aus meiner Tagträumerei. „Wie bitte?", frage ich verwirrt.
„Naja", sagt er verlegen, „hätte ich gewusst, dass Maggie deine Schwester ist, hätte ich ihr vielleicht vorhin noch abgesagt und wäre stattdessen mit dir hergekommen." Ich stutze. Meinte er das wirklich ernst?
„Meinst du das wirklich ernst?", frage ich geradeheraus.
„Na ja", grinst er und greift nach meiner Hand. Die Flammen des Feuers spiegeln sich in seinen Augen, und ich meine, kurz Verlangen darin zu sehen. Verlangen nach mir?

„Ich mag deine Schwester wirklich gern", gibt er zu. „Doch wenn ich die Wahl gehabt hätte, wäre ich lieber mit dir hergekommen!" Seine Worte jagen mir, trotz der Wärme in meinen Rücken, einen Schauer durch meinen Körper. Seine Augen, die mich erwartungsvoll ansehen, und seine Hand, die beginnt meine zu streicheln, signalisieren mir eindeutig, dass er auch mich zu mögen scheint.

Meine Fantasie spielt kurz verrückt, als ich mir vorstelle, wie ich den Engel vor mir an mich ziehe und ihn in einen leidenschaftlichen Kuss verwickele. Das wäre auf jeden Fall das Beste, was mir an diesem Tag passieren könnte. Doch dann schleicht sich ein kleiner, lästiger Gedanke in mein Gehirn, der mich zögern lässt.

Würde ich meine Schwester betrügen, wenn ich ihren fiktiven Freund küsse?

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