14 | Have a cool Jule...
Der weitere Verlauf des Abends wird gemütlich. Nachdem die Kinder sich irgendwann doch todmüde ins Bett verkrochen haben, sitzen wir gemeinsam mit meinen Geschwistern in dem gemütlichen Kaminschuppen und erzählen uns Geschichten aus längst vergangenen Tagen. Von geklauten Spielsachen, abgerissen Puppenköpfen und fehlenden Süßigkeiten. Wir reden über unseren Wanderurlaub in der Pfalz, die Ausflüge an die Ostsee im Sommer und über die ein oder andere peinliche Anekdote, bei der ich die Hände über dem Kopf zusammenschlage und hoffe, dass Jules nicht so genau hinhört. Als meine Schwester erzählt, wie ich einmal nackt durch den Garten gelaufen bin und mit meinem Pippi jeden zweiten Baum gegossen habe, möchte ich am liebsten vor Scham im Boden versinken.
Doch ich höre Jules nur lachen und irgendwann gehen meine Geschwister nach und nach ins Bett, bis nur noch Maggie, Jules und ich übrigbleiben. Während die letzten Holzscheite im Kamin leise vor sich hin glimmen, richtet sich Maggie auf, reckt die Arme in die Luft und gähnt lauthals. „Ich gehe jetzt auch ins Bett", sagt sie. „Macht nicht mehr so lange", zwinkert sie uns zu und lässt die Tür des Schuppens laut ins Schloss fallen. Wir sind allein.
Plötzlich überkommt mich eine tiefe Traurigkeit. Maggie hat angekündigt, dass Kristian schon am nächsten Tag früh wieder nach Hamburg fahren muss, weil seine Eltern am ersten Weihnachtstag erwarten, dass er zu Hause ist. Natürlich ist dies eine Lüge. Ich vermute, meine Schwester wollte einfach nur umgehen, dass Jules am nächsten Tag zum Mittag bei meinen Großeltern dabei ist. Diese feiern seit einigen Jahren den Heiligen Abend lieber zu zweit und kommen erst am ersten Weihnachtstag zu uns herüber, um Kuchen und Torte zu essen. Maggie hat sicherlich keine Lust, Kristian als ihren Freund vorzustellen, wo sie doch weiß, dass dies niemals passieren wird. Seinen nervigen und übergriffigen Eltern etwas vorzumachen ist eines. Seine Großeltern anzulügen, etwas ganz anderes.
„Werden wir uns wiedersehen?", frage ich die dringlichste aller Fragen.
„Vielleicht", sagt Jules und ich komme nicht umhin mir einzubilden, dass Hoffnung in seiner Stimme mitschwingt.
„Ich habe etwas für dich", sage ich. „Ich hole es nur schnell." Und bevor Jules etwas erwidern kann, bin ich schon im Haus und hole mein Geschenk für ihn aus meinem Versteck.
Ja, das hättet ihr wohl nicht gedacht. Ich habe ein Geschenk für den Freund meiner Schwester! Wie ich das wissen konnte? Konnte ich nicht. Es ist mir eingefallen, als ich zur Bescherung ging. Ich wollte für ihn etwas, das man mit Geld nicht kaufen kann und das von Herzen kommt. Etwas, das ihn an mich und an dieses verrückte Wochenende erinnern wird, wenn er wieder in Hamburg und ich in München bin. Mit dem Geschenk auf dem Arm gehe ich zurück in den Schuppen.
„Mach die Augen zu", bitte ich ihn und er hält grinsend seine Hände darüber. Ich atme kurz aus, bringe meinen Teddy Jerry vor meinen Körper und sage: „Du kannst jetzt gucken."
Damit er versteht, dass dies ein Geschenk ist, habe ich dem Teddy eine Schleife aus Geschenkband um den Hals gebunden und einen kleinen Zettel daran befestigt. Auf der Vorderseite steht: „Have a cool Jule!" und auf der Rückseite mein Name und meine Handynummer.
Als Jules die Augen öffnet und mich mit dem Teddy sieht, muss er schlucken. „Das kann ich nicht annehmen!", sagt er bestimmt, obwohl seine Augen den Teddy schon längst umarmt haben.
„Weißt du", sage ich, „mir ist es lieber, ich weiß, dass er bei dir in guten Händen ist, als dass er noch ein Jahr ungekuschelt auf dem Bett in meinem Kinderzimmer sitzt. Außerdem habe ich zwei und wer braucht schon zwei Teddys?" Ich versuche diese Worte möglichst unberührt zu sagen, doch ich höre an meiner eigenen Stimme, wie diese sich ein wenig überschlägt und versuche, den Kloß im Hals wegzuschlucken. „Außerdem habe ich dann einen Grund, dich und Jerry mit Tom mal zu besuchen." Glucksend lacht er auf und ich sehe, wie er sich eine Träne aus dem Augenwinkel wischt. Aufdringlich halte ich ihm den Teddy hin, den er schließlich doch annimmt und fest an sich drückt. „Du hättest das nicht tun müssen", sagt er sichtlich überfordert von meiner Geste.
„Ja das stimmt", gebe ich zu, „aber ich konnte. Und manchmal ist das Können wichtiger als das Müssen."
Das folgende Schweigen ist nicht unangenehm. Es ist sogar sehr wohltuend. Es wurde alles gesagt. Ich weiß, dass er mein Anliegen versteht, und ich gebe ihm die Zeit, darüber nachzudenken. Er hat nun etwas von mir, das er sicher nicht leichtfertig weggeben wird. Und es wird ihn an mich erinnern, wenn er wieder zuhause ist und irgendwann... Ja, irgendwann wird er mich vielleicht anrufen. Und auf diesen Tag werde ich warten. Hoffentlich lässt er sich nicht ewig dafür Zeit. Aber dann ist da ja immer noch meine Schwester, die ihn damit nerven kann, was für ein gutes Match wir doch wären.
„Danke, Enno!", unterbricht Jules meine Gedanken und zieht mich in eine Umarmung. Am liebsten würde ich ihn nie wieder loslassen...
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