12 | Warten auf den Weihnachtsmann

Als der Tag voranschreitet finde ich immer weniger Zeit, mich um Jules zu kümmern. Maggie hat diese Aufgabe nun übernommen, harkt sich bei ihm unter, führt ihn herum, stellt ihn meinem älteren Bruder und seiner Familie vor, als sie ankommen. Ich fühle mich schrecklich, wie ich einfach nur danebenstehe und zusehe, wie der Mann meiner Träume von meiner Schwester umarmt, an der Hand gehalten und präsentiert wird. Auch wenn ich weiß, dass dies alles nur Show ist, schmerzt es mich doch sehr, nicht an seiner Seite zu sein.

Als meine Mutter zum Mittagessen ruft und alle hungrig ins Wohnzimmer stürmen, halte ich ihn kurz am Arm fest und ziehe ihn zurück in den Flur. Er schaut mich etwas überrascht und dann liebevoll an. „Was ist Enno?", fragt er mit seiner sanften Engelstimme, die mich sofort wieder dahinschmelzen lässt. „Ich vermisse dich", sage ich ganz offen und lasse meine Hand über seinen Oberarm gleiten. „Dich mit meiner Schwester so zu sehen, ist unerträglich", gebe ich zu und fühle nun seine Hand an meinem Arm.

„Du weißt, dass ich nichts für sie empfinde, oder?" Ich nicke. Natürlich weiß ich das. Trotzdem kann ich nicht verhindern, dass ein kleines Tier namens Eifersucht an meinen Gedanken kratzt. Immer, wenn Maggie ihn berührt oder anlacht oder ihn als ihren Freund vorstellt, ist es wie ein Stich mit einem spitzen Dolch, mitten in mein Herz. „Heute Abend", flüstert er mir zu und kommt dabei mit seinem Gesicht ganz nah an meine Wange. „Heute Abend können wir uns kurz davonschleichen", verspricht er.

Mein Herz klopft unwillkürlich schneller, als ich mir vorstelle, wie wir kurz hinter das Haus gehen und wild rumknutschen. Ich fühle bereits seine Lippen an meinen, seine Hände an meinem Rücken und seinen Körper an meiner Haut.  ‚Halt Stopp' denke ich. Diese Gedanken solltest du dir für später aufheben! Doch, um ihm zu zeigen, wie sehr ich mich auf heute Abend freue, drücke ich ihm ein Küsschen auf die Wange.

„Enno!" Das Zischen kommt von meiner Schwester Maggie. Erschrocken, drehe ich mich zu ihr um. Zum Glück ist Maggie die Einzige, die durch die Tür lugt und uns gesehen hat. „Ich wusste, du kannst die Finger nicht von ihm lassen", sagt sie mit einer Mischung aus Wut und leichten Amüsement.
„Das ist nicht nur Ennos Entscheidung", unterstützt mich Jules, als ich gerade den Mund öffne, um etwas zu erwidern. „Aber wir werden uns zurückhalten, versprochen Mags", versichert er.
„Ja, das werden wir", nicke ich zustimmend. Mag seufzt und kommt auf uns zu. „Ich finde ja, dass ihr ein tolles Pärchen abgeben würdet", grinst sie. „Aber bitte erst nach Weihnachten, okay?" „Okay!", antworten wir unisono und müssen lachen.

In den folgenden Stunden habe ich das Gefühl, dass Maggie sehr viel weniger die Nähe von Jules sucht und mir den Freiraum gibt, etwas mit ihm zu machen. Wir bauen draußen mit den Kindern einen Schneemann, helfen meiner Mutter die Geschenke für die Kinder vom Dachboden zu holen und vorerst in meinem alten Kinderzimmer zu verstecken. Und er hilft mir und meinem Vater mein Auto zu begutachten und die verzogene Lenkung notdürftig wieder gerade zu biegen.

Als es Abend wird und der Tannenbaum in den schönsten Rot- und Goldtönen erstrahlt, werden die Kinder langsam ungeduldig. Immer wieder fragen sie nach dem Weihnachtsmann, bis meine Mutter schließlich anordnet, sie sollen in Onkel Alberts Zimmer gehen und von dort aus dem Fenster schauen, um zu gucken, ob der Weihnachtsmann vielleicht schon mit seinem Schlitten auf der Wiese gelandet ist. Das lassen sich die vier natürlich nicht zweimal sagen und auch die Väter gehen mit in das Zimmer hinauf. Meine Mutter, meine Schwester und meine Schwägerin eilen derweil zu ihren Geschenkverstecken und legen alle hastig unter dem Baum.

„Was schenkst du meiner Schwester?", flüstere ich Jules zu, mit dem ich mich in der Küche versteckt habe, um dem Rummel ein wenig zu entgehen.„Was ich ihr schenke?", fragt er verdutzt. „Sie ist deine Freundin", sage ich belustigt. „Alle werden erwarten, dass du ihr etwas schenkst. Und alle werden genau darauf achten, was es sein wird", grinse ich breit als mir bewusstwird, dass Jules kein Geschenk für Maggie mitgebracht hat. „Ich ähm...", stottert Jules. „Ich sag einfach, dass wir uns unsere Geschenke erst zu Hause geben?", schlägt er vor.
„Oder", sage ich gedehnt, „du schenkst ihr, was ich für sie mitgebracht habe."
„Aber dann hast du ja gar nichts für sie", wendet er ein. „Das macht nichts. Sie ist nur meine Schwester", grinse ich.

„Was wolltest du ihr denn schenken?", fragt er nun neugierig. „Ich habe ihr Lieblingsparfüm mitgebracht. Das gab es neulich in der Drogerie nebenan im Angebot."
„Okay", lach Jules, „das werde ich ihr so aber nicht sagen."
„Richtig", sage ich. „Für meine Schwester solltest du dir eine romantische Story ausdenken."
„Das bekomme ich hin", meint er und zwinkert mir zu. „Aber nicht zu romantisch", werfe ich ein. Jules lacht. „Das hebe ich mir für später auf", grinst er, und ich kann meinen verliebten Blick nicht verstecken. Es hat mich echt erwischt. „Ich hole das Geschenk nur schnell aus meinem Zimmer, bin gleich wieder da", sage ich und eile nach oben, um das Geschenk aus meinem Koffer zu holen.

Im oberen Flur höre ich, wie die Kinder immer noch nach dem Weihnachtsmann Ausschau halten und die Erwachsenen versuchen, sie noch ein wenig hinzuhalten, bis alles vorbereitet ist. Eilig krame ich die Geschenke für meine Familie aus meinem Koffer und beschließe, spontan, Maggie die CD zu schenken, die ich eigentlich für mich gekauft hatte und die noch aussieht wie neu. Ganz mit leeren Händen möchte ich nun auch nicht dastehen. Als ich auf dem Weg nach unten schon das Glöckchen höre, bleibe ich schnell in der Wendeltreppe stehen, da ich weiß, dass in wenigen Sekunden vier aufgeregte Kinder und zwei Erwachsene an mir vorbei stürmen werden, um sich im Wohnzimmer zu versammeln. Während ich dort stehe und warte, fällt mein Blick auf die gegenüberliegende Tür, hinter der sich mein Zimmer befindet und plötzlich kommt mir eine gute Idee.

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