10 | Süß wie ein Milky Way
„Huch," höre ich ihn sagen, „das ist jetzt aber dunkel."
Ich gehe ein paar Schritte auf ihn zu und lasse mich neben ihm in der Gaube nieder. Es ist ein wenig eng, aber ich denke, wir beide genießen diesen Zustand.
„Ich wollte, dass du das Beste an dieser Landschaft bewundern kannst", sage ich mit betont tiefer Stimme.
„Du meinst dich?", fragt er amüsiert.
„Eigentlich meinte ich das da draußen", lächle ich und wir beide schauen hinaus. In der Finsternis der Nacht sind Wiesen und Weiden stockdunkel. Der Übergang zum Horizont wird in der Ferne klar, dort, wo die Sterne hell in die dunkle Nacht hinaus leuchten. Hier im norddeutschen Nirgendwo, wo es kilometerweit keinen anderen Hof und erst recht keine andere Stadt gibt, leuchten die Sterne so viel heller als in den Großstädten Hamburg oder München. Wenn man genau hinsieht, kann man einen Teil der Milchstraße erkennen. Zum Glück hat es endlich aufgehört zu schneien, sonst wäre uns dieses Spektakel verwehrt geblieben.
„Wunderschön", flüstert Jules in die Stille. „Du meinst mich?", scherze ich.
Jules lacht sein helles Engelslachen. „Ja, du auch", grinst er und legt erneut seine Hand an mein Gesicht.
„Vielleicht verirrst du dich heute Nacht ja hier nach oben", mutmaße ich grinsend.
„Ich muss dir was sagen, Enno", meint er beinahe ernst. „Ich bin kein Mann für eine Nacht."
„Dann bleib doch für zwei", feixe ich, obwohl ich natürlich genau weiß, was er damit meint. „Ich auch nicht", schiebe ich deshalb hinterher. „Aber ich mag dich wirklich Jules. Ich mag dich, seit dem Moment, als du ‚Driving Home for Christmas' mit mir gesungen hast."
Jules lacht auf. „Ich wusste, du hast mich beobachtet." Auch ich grinse über das ganze Gesicht. „Ich fand dich sehr charmant", gebe ich zu.
„Jetzt erzähl mir aber nicht, dass es meine Schuld war, dass du in den Graben gefahren bist."
Ich lache. „Gut, dann erzähl ich es dir nicht."
„Du bist wirklich verrückt, Enno", grinst er und seine Augen wandern etwas ruhelos über mein Gesicht.
„Dass wir die Nacht nicht miteinander verbringen, heißt doch nicht, dass wir uns nicht noch einmal küssen können, oder?", frage ich hoffnungsvoll. Seine Augen bleiben an meinem Mund hängen.
„Auf gar keinen Fall", sagt er und beugt sich erneut zu mir. Und diesmal habe ich keine Angst, dass plötzlich jemand ins Zimmer kommt. Denn wir würden es definitiv hören, wenn jemand die schmale Treppe hinaufsteigen würde. Aber ich vermute sowieso, dass die anderen mit der Eisenbahn beschäftigt sind.
Unser zweiter Kuss ist sogar noch schöner als der erste. Wir sitzen eine ganze Weile in der Gaube. Wir streicheln einander den Rücken, die Haare und das Gesicht. Selbst mit geschlossenen Augen kann ich spüren, wie schön dieser Mann unter meinen Fingern ist. Und dabei ist es nicht nur sein Aussehen, dass ihn attraktiv erscheinen lässt. So wie er über seine Oma geredet hat und auch wie er Mags und mich behandelt, glaube ich zu wissen, dass er ein aufrichtiger Mensch ist. Mal abgesehen davon, dass er meiner Familie eine Lüge für seine Freundin vorspielt.
Irgendwann kann ich nicht mehr sitzen, meine Gier nach ihm wird immer größer, und ich kann es nicht verantworten, das Hier und Jetzt etwas zwischen uns passiert, das nicht passieren darf. Widerwillig löse ich unseren Kuss und streiche ihm ein letztes Mal über die heiße Wange.
„Ich befürchte, wir müssen uns mal wieder unten blicken lassen, um kein Aufsehen zu erregen", sage ich enttäuscht. Jules nickt und stiehlt sich einen letzten Kuss, der so zärtlich ist, dass ich am liebsten sofort wieder dem Knutschen anfangen würde. Doch wir sind vernünftig, stehen auf und gehen zur Tür.
„Einen Moment noch", sagt Jules, bevor ich die Klinke drücke. Auf seinem Gesicht tanzt ein amüsiertes Grinsen. Auch ich bin noch nicht bereit, meiner Familie mit der Beule in der Hose unter die Augen zu treten. Während wir warten, versuche ich, Jules Haare wieder einigermaßen in Form zu bringen.
„Du siehst aus wie ein geplatztes Sofakissen", fällt mir bei seinem wirren Haarschopf ein.
„Und du siehst aus wie ein gebumstes Huhn", sagt er. Laut lache ich auf. Der Vergleich gefällt mir irgendwie. Liebevoll beginnt er auch meine Haare wieder einigermaßen zu richten.
„Mag wird es merken", sage ich etwas angespannt. „Weiß sie das von dir?"
„Natürlich, sonst hätte sie mich wohl kaum mitgenommen", grinst er.
„Die böse Hexe wollte dich mir vorenthalten", grummle ich. „Sie weiß genau, dass du mein Typ bist."
„Vielleicht hat sie es nicht für nötig gehalten, es zu erwähnen, weil wir viel zu weit voneinander weg wohnen und eine Fernbeziehung scheiße wäre."
„Keine Beziehung wäre auch Scheiße", werfe ich ein.
„Meinst du das wirklich?", fragt er. „Wir kennen uns gerade erst fünf Minuten."
Ich zucke mit den Schultern. „Wenn wir es nicht ausprobieren, werden wir es nie erfahren."
‚Halt', denke ich, ‚du prescht schon wieder zu schnell vor. Er hat recht, wir kennen uns gerade fünf Minuten und du planst schon die nächsten fünf Jahre.'
Aber so bin ich. Wenn ich mir eine Idee in den Kopf gesetzt habe, beginne ich sofort alle Möglichkeiten durchzuplanen. Anders als Susanne, die sehr impulsiv ist, brauche ich zuallererst alle verfügbaren Möglichkeiten. Ich überlege mir, welche Konsequenzen diese oder jene Entscheidung wohl haben werden und ob diese gut oder schlecht sind. Ich bin ein Meister im Entscheidungsbäume malen. Meistens macht mir die Planung sogar mehr Spaß als die spätere Umsetzung. Selten habe ich aus dem Bauch heraus entschieden, aber noch seltener habe ich meine Entscheidung im Nachhinein bereut.
Und diese Sache mit Jules nicht zu einer Wochenendromanze zu Weihnachten verkommen zu lassen, dies ist eine Entscheidung, die ich aus voller Überzeugung und tief aus meinem Herzen heraus getroffen habe. Bis jetzt glaubte ich nicht an Liebe auf den ersten Blick. Und ich will hier auch noch gar nicht von dir sprechen. Doch die Anziehung, die ich zu diesem Menschen fühle, diese tiefe Zuneigung auch nach nur wenigen Stunden, die spüre ich so deutlich, wie ich nun Jules Hand in meiner spüre.
„Lass uns später darüber reden", unterbricht er meine Gedanken. „Jetzt sollten wir noch eine Runde mit der Eisenbahn spielen." Ich lache und drücke seine Hand. „Ja, das sollten wir."
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